Emiliens Grab

[106] Aus Langerweile, im fremden Ort,

Ging ich über den Kirchhof fort,

Sah mir ein Kreuzchen an, einen Stein,

Manch seltsam Sprüchlein von Sterben und Sein,

Und ließ mir zuflüstern von den Zypressen,

Daß hier Alles längst, längst vergessen.

Emiliens Grab – da blieb ich stehn,

War nichts andres drauf zu sehn,

Weder Bibelwort, Zeit, noch Familienname,

Nur einzig stand drauf, wie eine Brosame:

Emiliens Grab.

Das fiel mir auf und ging mir ins Blut;

Mein Gott, wer war sie, die hier ruht?

Das Gras, die Frühlingsblumen, die Bienen,

War Alles so froh von der Sonne beschienen.

Doch hatte niemand den Platz gepflegt;

Alles wucherte, ungehegt.

Nichts konnte auf dem Grabe prunken,

Selbst die Einfassung morschte versunken.


Ich ging meiner Wege am Friedhofsrand,

Als ich endlich ein steinalt Mütterchen fand.

»Was ist denn das dort mit der Emilie?[107]

Der Nachname fehlt ja; wie hieß die Familie?«

Ja, Herr, das ist wer weiß wie viel Jahre;

Ich stand an ihrer Totenbahre.

War ein jung Ding, einfacher Leute Kind,

Doch wie sie dann alle leichtgläubig sind:

Kam ein fremder Mann angegangen,

Hat sie in seine Netze gefangen,

Versprach ihr, sie auf sein Schloß zu bringen,

Er sei reich und könn ihr Alles erschwingen.

Und hat sie geheiratet. Dann zogen sie fort,

Fern weg an den Rhein; da ist sie verdorrt.

War Alles Schwindel, war Alles erlogen,

Er hat sie in seinen Schmutz gezogen.

Hat sie verlassen. Und sie kam wieder

Und brach am Haus ihrer Mutter nieder,

Ist schnell gestorben aus Elend und Gram,

Konnte nicht länger ertragen die Scham.

Die Mutter, von Haß und Wut ganz besessen,

Wollt ihres Eidams Namen vergessen,

Hat ein Kreuz ihr gesetzt, als sich das begab,

Steht weiter nichts drauf als:

Emiliens Grab.


Quelle:
Detlev von Liliencron: Gute Nacht. Berlin 1909, S. 106-108.
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