Weinlied

[80] Schon grüßt ein scharfer Hauch von Ost

Die sternhell frühen Nächte,

Da rauscht und braust der junge Most,

Ein Herold neuer Mächte!


Ob Laub an Laub vom Baume fällt,

Ob jede Blume sterbe,

O Sommerlust, versunkne Welt,

Der Wein ist jetzt dein Erbe.


Im Wein erglüht der Sonnenschein,

Der längst hinabgegangen,

Im Wein nur soll die Blume sein,

Nach der wir noch verlangen.


Dem Wein, dem Wein ist alles Reich

Der Flammenkraft verliehen;

Ihr Zecher auf! Laßt uns sogleich

Das Testament vollziehen!


Hier, wo am Herd verglimmt das Laub

Vom jungen Reis der Rebe,

Stoßt an, hier über Glut und Staub:

Der Geist des Lebens lebe!


Der Geist, der unterm Schnee noch wärmt

Die Zukunft reicher Saaten

Und fort und fort die Welt durchschwärmt

In goldnen Jugendtaten!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 80.
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