Schamyl

[193] Wohl brauste dumpf der Strom im Grunde,

Als Gunib's letzte Mauer fiel.

Ein Kampf noch – eine bange Stunde –

Und ein Gefangner war Schamyl.


Lang botest du dem Kugelregen

Und bis zum letzten Säbelhieb

Die Stirne kühn dem Feind entgegen,

Den gegen dich die Knute trieb.
[193]

Wie lang, um deinen Arm zu biegen,

Warf Heere gegen dich der Zar,

Und du sahst sie zerschmettert liegen

Am Fuß der Felsen jedes Jahr.


Man sah die Fahne dich erheben,

Die du zuerst erhobst, zuletzt

Und, weg sie schleudernd, dich ergeben,

Von vieler Wunden Blut benetzt.


Dein Blick im Aug' des Feindes spähte

In Furcht vor Schmach, nicht vor dem Tod,

Und nun riefst du die oft verschmähte,

Die Gnade, die der Zar dir bot!


Sprich, hatte dich der Mut verlassen,

Mit dem du einst voll Trotz und Glut

Geschworen hast, den Feind zu hassen

Bis auf den letzten Tropfen Blut?


Wenn wieder deiner Berge Spitzen

Der Tag beglänzt, so will er sehn

Im Tale deinen Säbel blitzen

Und deinen weißen Turban wehn.


Den Schakal und die Wölfe speiste

Mit Russenleichen sonst dein Sieg;

Du riefst, so hoch ein Adler kreiste,

Die Völker auf zum heil'gen Krieg.


Noch lang im Klagelied der Frauen

Wird dauern deines Ruhmes Klang,

Doch du wirst niemals wieder schauen

Der Bergestöchter stolzen Gang.


O konnte dich dein Pferd denn tragen

Den Weg in die Gefangenschaft,[194]

Anstatt mit dir hinabzujagen

Dort, wo der Berg am tiefsten klafft?


Die Wolken hätten ausgebreitet

Zu Flügeln sich um dein Gewand,

Es hätte sanft emporgeleitet

Zu Gott dich eines Engels Hand.


Doch sagen wird, das dich bewundert,

Das Abendland, daß mit Schamyl

Ein tapfres Volk und dem Jahrhundert

Zugleich ein Held der Freiheit fiel.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 193-195.
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