Das eilfte Buch.

[290] Der Graf von Rivera nahm darauf von Mönnisburg seinen Weg durch den grossen Hercynischen Wald, nach einem Cheruscischen Fürsten, der zu Argilia eigentlich seinen Wohn-Sitz hatte; sich damahls aber an seinem neuerbauten Ort Christianopolis aufhielt.

Der Fürst, der Ort und die Einwohner hatten etwas so einnehmendes und ungewöhnliches, daß der Graf durch die Beschreibung, welche ihm sein Cheruscischer Edelmann davon machte, bewogen wurde, alles selbst in Augenschein zu nehmen.

Der Fürst war ein Herr nahe bey die fünfzig Jahren: er hatte einen Prinzen und zwey Prinzessinnen, davon ins besondere die älteste, von ungefehr achtzehen Jahren, ein Ausbund aller Schönheit und Tugend war: die Fürstin, ihre Frau Mutter, hatte derselben sowohl, als ihren andern beyden Kindern, die beste Erziehung gegeben: sie war selbst ein Muster einer tugendhaften Frauen. Der Fürst übertraff dieselbe noch in der Stärke des Geistes, in dem Muth und in den Wissenschaften.[291]

Er war gebohren mit allen Vorzügen des Leibes und des Geistes, welche wir der Natur zuschreiben; die aber bey ihm nichts anders, als besondere Gaben einer gütigen Vorsehung waren; denn an statt, daß überhaupt die Menschen mit einer angeböhrnen Neigung zum Bösen auf die Welt kommen, so machte bey ihm die Neigung zum Guten seine ganze Gemüths-Art aus. Wer wolte sagen, daß GOtt nicht auch zuweilen, obgleich sehr selten, dergleichen Menschen lies ans Tages-Licht kommen, wenn er durch sie besondere Dinge zu wirken vor hat?

Diese vortrefliche Gemüths-Art wurde bey ihm durch eine nicht weniger glückliche Auferziehung formiret. Man zeigte ihm, wie er alle seine Gaben blos allein zur Verherrlichung seines Schöpfers und zum Dienst anderer Menschen anzuwenden verpflichtet wär. Man unterwies ihn zu dem Ende in allen solchen Wissenschaften, welche ihn zur Erkäntnis GOttes, der Welt und der Menschen führten: zu der ersten brachten ihn die Lehren vom Glauben; zu der andern die Welt-Weisheit; und zu der dritten die Erfahrrung. Seine gethane Reisen an die meiste Europäische Höfe, sein Umgang mit allerhand Leuten; und endlich, sein Fleiß in den Wissenschaften und in den Geschäften selbst, vermehrten um ein grosses, was GOtt durch die Natur in ihn gelegt hatte.

Es hafteten dem ungeacht in seiner Seel gewisse[292] Zweifel, in Ansehung der so vielerley Secten und Meynungen in der Christenheit, welche ihn oftmals sehr beunruhigten: er wuste lang nicht, was er davon denken und zu welcher er sich eigentlich halten solte; er hatte zwar unter allen hier und dar noch gute aufrichtige Leute gefunden; sie waren aber gegen die Bösen so viel als nichts zu rechnen. Das Verderben war allgemein, und es schien, als wolte darinn keine Kirche und kein Volk dem andern einige Vorzuge gönnen.

Als sein Herr Vater starb, hatte er noch kaum das zwey und zwantzigste Jahr erreichet; er muste sich also der Regierungs-Last unterziehen, in einem Alter, welches andere Fürsten-Kinder den blossen Lüsten und Ergötzlichkeiten wiedmen. Er und sein Land waren der protestirenden Kirche zugethan. Er wolte bey dem Antritt seiner Regierung und bey seinen noch jungen Jahren keine Neuerungen anfangen; gleichwohl aber schien ihm der Haß, der in seinem Lande gegen andere Religions-Verwandte herrschte, weder Christlich noch vernünftig. Er konte nicht leiden, daß man sich im Christenthum über blosse Kirchen-Gebräuche und Meynungen trennen und deswegen einander alle Christliche Liebe versagen solte; da sie doch allesamt einen GOtt, einen Heyland und einerley Gesetz erkannten. Er hielt dafür, daß ein Christ ein weit geduldigeres, liebreicheres und einfältigeres Wesen haben müste, und daß[293] alle diejenige, welche so heftig gegen einander um die Wahrheit des Evangelii stritten, dieselbe am wenigsten kennen müsten, indem sie schnurstracks das Gegentheil thäten, was uns Christus und seine Apostel lehreten.

In diesen Betrachtungen war er lang unschlüßig, wie er in seinem Land ein solches Kirchen-Wesen, nach dem Sinn des Evangelii, ohne Spaltung und Sectirerey einführen mögte. Es fanden sich in seinem Lande eine gewisse Art Leute, die sich für besser und heiliger, als andere hielten, und deswegen mit denen, die da kirchlich, das ist, dem äusserlichen Gottes-Dienst zugethan waren, keine Gemeinschafft haben wolten. Diese hoften, der Fürst würde ihren Einbildungen Glauben beymessen und sich zu ihnen schlagen. Anfangs hatte auch der Fürst sich wirklich von dem Schein ihrer äusserlichen Frömmigkeit einnehmen lassen; zumahl weil sie wider alle Sectirereyen sich erklärten und blosserdings an die Lehren des Heylandes sich zu halten vorgaben. Es war aber nicht lang, so erkante der Fürst bey näherer Untersuchung, daß diese Leute selbst die gröste Sectirer waren: und daß sie zugleich solche Unordnungen und Verwirrungen im gemeinen Wesen stifteten, daß er sich vor ihnen mehr als vor allen andern zu fürchten begunte.

Sein wichtigstes Anliegen war also, eine Gemeine von solchen Leuten aufzurichten,[294] welche nach den pur lautern Lehren Christi, ihr Leben und ihren Wandel zu führen Vorhabens wären: sie mögten auch von einer Secten seyn, wie sie wolten. Allein, es ereigneten sich gleich Anfangs dabey solche Schwierigkeiten, daß er alle Hofnung verlohr, seine Absichten jemahls in dieser Sache zu erreichen: Es waren insonderheit die Geistlichen ihm darin sehr entgegen; sie nanten die Einführung einer solchen Eintracht: Syncretisterey und Gleichgültigkeit der Religion.

Der Fürst war kein Feind der Geistlichen; er hielt vielmehr ihren Stand vor andern hoch; doch dieses verdroß ihn, daß so viele unter ihnen das Ketzermachen nicht lassen konten; sondern bey allen und jeden Gelegenheiten mehr auf ihre blinde Satzungen, als auf die Kraft des Glaubens selbst sahen. So gern er auch diesem Unheil gesteuert und die Liebe, die Sanftmuth und die Verträglichkeit bey der Evangelischen Kirche in seinem Lande eingeführet hätte, so konte er es doch, wegen einiger unruhigen Köpfen, nicht dahin bringen; einen Frieden aber in der Kirche durch neue Empörungen und Zänkereyen zu stiften, hielt er nicht für rathsam.

Er brachte seine Klagen darüber vor den HErrn, der allein solches ändern konte; er befahl auf eine Zeitlang seine Regierungs-Geschäfte seiner Gemahlin und seinen Räthen; und[295] verfügte sich nach einem in den Hercynischen Wäldern, vier Stunden von seinem Hof-Sitz gelegenen Jagd-Haus; um in dieser Einsamkeit auf die so nöthige Verbesserung des Kirchen-Wesens desto ruhiger seine Gedanken zu richten.

Er hatte bereits vier Wochen in dieser abgezogenen Stille mit dergleichen Gedanken sich unterhalten, auch schon verschiedene Einwürfe zu Papier gebracht; als ein paar Vandalische Männer sich bey ihm anmeldeten.

Gnädigster Fürst, war ihre Anrede, wir haben vernommen, daß Eure Durchleucht ein weiser und frommer Herr seyen. Wir sind nebst einigen unserer Mitbrüder aus unserm Vaterland, um der Wahrheit willen, die wir nach den Lehren des Evangelii einfältig bekennen, von andern, die auch Christen seyn wollen, vertrieben worden. Wir suchen bey Ew. Durchleucht Schutz; wir verstehen den Acker-Bau und die Viehzucht: ein kleiner Raum wird genug seyn, um uns zu nähren.

Was habt ihr dann vor Meynungen in eurem Glauben, fragte der Fürst, weil man euch aus eurem Vaterland vertrieben hat? Wir sind Christen, antworteten sie, und wollen mit GOttes Gnade in diesem Glauben auch leben und sterben. Wir halten uns darin einzig und allein an die uns hinterlassene Offenbarung der göttlichen Schriften, und lassen uns keine fremde[296] Auslegungen, noch Glaubens-Articul aufbürden; weil geschrieben stehet, daß man nichts soll darzu noch davon thun. Ja, unterbrach der Fürst, verstehet ihr dann die Schrift? Was wir nicht verstehen, gnädigster Fürst, sprachen sie, das lassen wir so lang unerörtert, bis der Geist GOttes darüber unser Verständnis aufschliesset; denn wir wissen, daß nicht alle Menschen gleiche Begriffe und Einsichten haben; und daß wir deswegen verbunden sind, uns einander in Liebe zu tragen. Mittlerweile, dringen wir allesammt scharf darauf, denen deutlichen Lehren Christi, durch die Kraft des einfältigen Glaubens, in unserm Leben und Wandel zu folgen. Was bedienet ihr euch dann, fragte der Fürst weiter, vor einer Ubersetzung der Heil. Schrift? Die wenige Gelehrten, die wir unter uns haben, war ihre Antwort, bedienen sich der Grund-Sprache, worinnen die Bücher der H. Schrift anfänglich sind verfasset worden; auf deren gründliche Wissenschaft sie mit allem Ernst und Fleiß sich legen; was aber den gemeinen Mann betrift, so begnügen wir uns mit einer sehr schlechten und unvollkommenen Ubersetzung in unsrer gemeinen Sprache; die aber, wie unsre Gelehrten sagen, alle die Haupt-Articul des Christlichen Glaubens mit hinlänglicher und genugsamer Deutlichkeit erkläret.

Der Fürst war angenehm-bestürzt, diese Leute also reden zu hören; Er erkundigte sich, wo sie dann eigentlich den Ursprung ihrer Kirchen herrechneten;[297] und ob sie von andern sich getrennet, oder diese Glaubens-Einfalt von langen Zeiten her unter sich erhalten hatten?

Unsere Vorfahren, berichteten die beyde Fremdlinge, die sich bis auf die erste Zeiten der Kirchen hinaus rechnen, haben nie keinen andern Lehren beygepflichtet, als den einfältigen Lehren des Heylandes: sie haben nie keinen blossen Menschen-Satzungen, in Glaubens-Sachen, sich unterworfen: sie haben weder die Heiligen anrufen, noch die Macht eines geistlichen Statthalters GOttes auf Erden erkennen wollen; und da die Griechische Bischöffe in den ersten Jahrhunderten anfiengen, sich eine unerlaubte Herrschaft über die Gewissen anzumassen, und solche unter das Joch fremder Meynungen und Ceremonien zu zwingen; so verliessen unsere Vorfahren die Hellespontische Ufer, und zogen sich nach den Dalmatischen und Sclavonischen Gefildern. Als hierauf die Griechische von der Lateinischen Kirche sich trennte, und eine solche Finsterniß den ganzen Kirchen-Himmel überzog, daß man das Christenthum auch nicht mehr unter den Christen fande; so errichteten unsere Väter unter sich eine geistliche Brüderschaft, welche die Erhaltung der reinen Apostolischen Wahrheit in der Einfalt; und die würkliche Ausübung der Lehren Christi zum Grund hatte.

Als sie aber auch hier von der herrschsüchtigen Clerisey verfolget wurden, zogen sie sich[298] nach Pannonien, Sarmatien, Hercinien und dasige Gegenden: von dannen einige noch weiter bis in die Occidentalische Länder drungen; sich aber meistens in grosser Armuth, in Wäldern und rauhen Gebürgen aufhalten, und sich darin eine Zeitlang mit Wurzeln, Kräutern und Baumfrüchten nähren musten.

Da es nun endlich im vierzehenden Jahrhundert in dem Europäischen Welt-Theil wieder ein wenig Licht zu werden begunte, so kam es auch so weit, daß sie, als Bekenner des Christlichen Glaubens, an vielen Orten aufgenommen wurden, ein eigenes Kirchen-Wesen aufrichteten, sich ihre eigene Bischöffe, Aeltesten und Vorsteher wehleten; und viel andere von dem beschwerlichen Joch des Occidentalischen Kirchen-Regiments los machten.

Diese ihre Glückseligkeit aber war von keiner langen Dauer. Der Stuhl zu Rom that sie in den Bann; man überzog sie hin und wieder mit starken Kriegs-Heeren: theils ergriffen die Waffen, sich ihren Feinden zu widersetzen; theils flohen in einsame Gegenden; noch andere blieben, wo sie waren, und verehrten GOtt im Verborgen. Die ersten machten ihre Sachen nicht gut; sie wurden überwunden, gefangen, getödtet und zerstreuet. An den Orten, wo unsre Vorfahren sich aufgehalten hatten, ließ man sie eine Zeitlang in Ruh. Man hat uns keinem fremden Gottesdienst gezwungen: wir haben uns still[299] für uns gehalten, und uns dabey als getreue Unterthanen, in allem, was nicht die Freyheit unseres Gewissens verletzet, der weltlichen Obrigkeit und guter Policey unterworfen. Weil aber durch unsern Wandel, und durch die Bücher der Heil. Schrift, die wir verborgen bey uns hatten, viele unserer Nachbarn gerühret wurden; dergestalt, daß sie die Irrthümer ihres vermeynten Gottesdienstes einsahen; folglich davon sich frey und loszumachen suchten; so wurde dadurch die Geistlichkeit wider uns aufgebracht. Man zog uns ein; und weil wir die Sache nicht läugnen mogten: so ergieng endlich an uns das Urtheil, daß wir unsere Güter binnen drey Monathen verkauffen, und hernach das Land räumen solten; welches wir auch ohne alles Murren thaten, und uns hieher verfüget haben, in der Hofnung, Ew. Hochfürstl. Durchleucht werden nicht allein uns, sondern auch unsere Brüder, deren noch viele im Lande zurück geblieben sind, gnädigst aufzunehmen und einen freyen Gottesdienst uns zu verstatten geruhen.

Der Fürst von Argilia sagte diesen Leuten, sie solten sich morgen wieder bey ihm melden; er wolte die Sache überlegen. Er hatte über dasjenige, was er vernommen, ein tiefes Nachdenken: er fand, daß diese Leute so dächten und glaubten, wie er: ihm blieb also kein Zweiffel übrig, eine Gemeine nach Art dieser Vandalischen Männer aufzurichten. Er entwarf davon[300] den Plan, und als sie wieder kamen, erklärte er ihnen sein Vorhaben.

Ihr sollet, meine liebe Freunde, sprach er zu ihnen, nicht allein bey mir den verlangten Schutz, sondern auch eine solche Gewissens-Freyheit geniessen, daß ihr einen Tempel eurem GOtt, welcher auch der meinige ist, zu Ehren, hier auf diesem Platz bauen sollet. Hier habt ihr Holz, so viel ihr wollet; hauet die Bäume um, verbrennet ihre Wurzeln, bauet euch Häuser, Scheuren, Stallungen, Gärten und Felder; ziehet euch Wiesen für euer Vieh, grabet euch Brunnen und leitet das Wasser aus dem nah vorbeyfliessenden Bach durch eure Höfe: einige Stunden von hier werdet ihr auch Kalk, Sand und Steine finden: ich will euch die Plätze anweisen, wohin ihr bauen sollet: ich will euch selbst alles entwerfen und angeben; und wann ihr solche Christen seyd, als ihr von euch sagt; so will ich meine Wohnung selbst unter euch aufschlagen, und mit euch denselben GOtt verehren, der euch zu mir gebracht hat.

Die Vandalische Männer dankten dem Fürsten; und liessen alles auf den Willen GOttes, dessen Knechte sie wären, ankommen.

Die Zahl dieser aus ihrem Land vertriebenen Wanderer belief sich ungefehr auf zehen bis eilf Haus-Gefäß. Der Fürst hatte vier bis fünfhundert müßige Soldaten; diese ließ er zusammt so vielen Landleuten aufbieten, und durch dieselbe[301] auf zwey bis drey Meilen den Wald aushauen. Die zum Bau tüchtige Stamme ließ er auf Haufen legen, und dabey allen und jeden von seinen Unterthanen, wie auch Fremden, auf zehen Jahr, Freyheit von allen Abgaben verkündigen, welche sich an diesem Ort häuslich niederlassen, und der neuen Policey sich mit unterwerfen wolten. Wobey er ihnen das benöthigte Holz, sammt andern in dasiger Gegend befindlichen Bau-Materialien umsonst abfolgen ließ.

Es meldeten sich darauf so wohl Handwerker als Land-Leute, denen er die Plätze und die Art, wie sie bauen solten, anwies. Die erste bekamen zu ihren Häusern weniger Raum, als die andern, welche wegen ihres Feld-Baues und der darzu gehörigen Viehzucht auch einen grösseren Platz, als jene, vonnöthen haben. Alle Häuser wurden zwey Stockwerk hoch aufgeführet, und zu zwey Haushaltungen eingerichtet: zwischen jeder Wohnung wurde nach der Strassen zu, ein Platz zu einem Hof gelassen; an welcher von hinten ein Garten von einem Viertel- oder halben Morgen sties.

Mitten durch die Strassen wurden kleine Wasserleitungen gezogen, die ihren Abfluß in einen grossen Canal hatten, welcher zu der Haupt-Strasse dieses Orts bestimmet war: dieser Canal hatte sechszig Werk-Schuh in der Breite: die auf beyden Seiten herlauffende Strassen waren jede von ebenmäßiger Breite, und längst[302] dem Canal mit gleichstämmigen jungen Linden-Bäumen besetzt: die Häuser, die dahin gebauet wurden, waren für wohlbegüterte Leute, und für den Adel, an jedes von diesen Gebäuden konte man nebst einer völligen Hofraithe auch Gärten von drey bis vier Morgen in die Länge anlegen: dergestalt, daß die Häuser, nach der Strassen zu, das Ansehen einer schönen Stadt, nach dem Feld zu aber die Annehmlichkeit der lustigsten Land-Güter hatten.

Am Ende dieses Canals sah man den Fürstlichen Pallast: er war vordeme nur ein Jagd-Haus, nun aber zeigte sich solcher mit zwey prächtigen Seiten-Flügeln vergrössert, und wurde von der ganzen Fürstlichen Familie bewohnet. Ein dickes Gehölz bedeckte diese Burg zur rechten und zur linken Seiten; von hinten aber hatte sie über einen grossen wohl angelegten Garten, die schönste Aussicht bis nach Argilia.

Der Fürst lies diesen Ort Christianopolis oder Christen-Stadt heissen. Es waren noch kaum drey Jahre verflossen, so stunden bereits auf diesem zuvor öden Platz über zweyhundert Wohnhäuser, eine Kirche, eine Schule und ein Armen-Haus. Der Zulauf des Volks von allen Enden und Orten war ungemein. Man sah daselbst allerhand Menschen und Secten ruhig beysammen wohnen.[303]

Es war nichts erbaulichers als ihre Versammlungen: ihre Lieder enthielten die deutlichste Begriffe von den Wahrheiten der H. Schrift: ihre öffentliche Reden waren kurz und nachdrücklich: sie hätten keinen andern Endzweck, als das Volk in der Einfalt des Glaubens zu unterrichten, und solches zu der genauesten Beobachtung der Christlichen Pflichten zu ermahnen. Blosse Streit-Fragen und hohe über die gemeine Begriffe der Menschen hinstreichende Geheimnisse wurden da nicht erörtert. Die Lehrer selbst waren fromme, sanftmüthige und demüthige Leute, die nicht in der Absicht predigten, um ihre zusammenstudierte Wissenschaften anzubringen; sondern, um zu erbauen, um zu rühren, und um ihre Zuhörer gleichsam mit einer verborgenen Gewalt des Geistes zu GOtt zu führen.

Man sah deswegen auch unter den Einwohnern dieses neuen Orts eine solche brüderliche Eintracht und Liebe, die ganz etwas besonders hatte. Die Unschuld, die Treu, die Redlichkeit blickte aus allen ihren Handlungen: es herrschte bey ihnen in allen Dingen eine solche Ordnung, daß man den Zwang davon nicht spürte; weil sie der Ruh und der Glückseligkeit eines jeden überhaupt gemäß war. Man beobachtete die Pflichten eines redlichen Burgers, indem man als ein Christ lebte; und das Christenthum fand nirgends eine bessere Aufnahme, als bey solchen Leuten, die ehrlich und aufrichtig waren: ihre Tugenden waren nicht die Wirkungen[304] eines strengen Gesetzes; sondern ein Ausflus der reinen Liebe GOttes, welche die Neigung zu allem Guten den Gemüthern einflöset.

In ihrer äusserlichen Aufführung hatten sie nichts besonders: sie lebten und kleideten sich wie andere Menschen, ein jeder nach seinem Stand und Vermögen. Nur waren sie mässiger, bescheidener und demüthiger: Sie beobachteten so wohl die gemeine Gebräuche, als die Höflichkeit in Sitten und Gebehrden: der Wohlstand war bey ihnen eine Tugend, weil er die Ordnung unterstützte. Sie hielten dafür, daß die Auszeichnung in solchen nichts bedeutenden Dingen, einen gewissen Eigensinn und heimlichen Hochmuth entdecke, der mit der Einfalt und Aufrichtigkeit eines guten Herzens nicht übereinkomme.

Man fande bey ihnen alle Ergötzlichkeiten des menschlichen Lebens; sie nahmen solche an, wenn sie unschuldig waren; und wenn sie solche haben konten; sie lidten im Gegentheil alles, was ihnen die Natur leiden machte, mit einer großmüthigen Standhaftigkeit; und trösteten sich mit der unfehlbaren Hofnung einer ewigen Glückseligkeit.

Ein jeder lebte von seinen eigenen Mitteln, oder von dem Verdienst, welchen ihm seine Handthierung brachte. Ein jeder blieb in seinem Stand und in seinen Würden; und wurde[305] darnach von andern geehret und geachtet; doch, da immer einer dem andern in der Demuth und Bescheidenheit suchte zuvor zu kommen, und keiner sich vor dem andern etwas heraus nahm, so gaben es auch unter ihnen keine unziemliche Erhebungen und Rang-Streite.

Sie nahmen niemand unter sich auf, als nach einer genauen Prüfung, deren die Vornehmen so wohl, als die Geringere sich unterwerfen musten, wann sie die Vortheile einer so glückseligen Lebens-Art mit geniessen wolten. Man erforschte der neu-Ankommenden ihre Gemüths-Art, ihre Absichten und ihre Aufführung auf das genaueste; und wann sie Fremde waren, so erkundigte man sich darnach durch Briefe, und durch Einziehung unverdächtiger Nachrichten.

Ubel berüchtigte, wilde, lasterhafte, müßige, unruhige und zänkische Leute wurden daselbst weder gelitten, noch aufgenommen. Denn dieser Ort solte ein Aufenthalt der Unschuld, des Friedens und der Tugend seyn.

In Ansehung des Glaubens verlangte man von denen neu-Ankommenden nichts weiters, als die einfältige Bekäntnüs zum Christenthum, und einen aufrichtigen Vorsatz, darnach sein Leben und Wandel einzurichten; Darinn bestund alles: der Nachdruck aber von dieser Verbindung war von einer wichtigen Folge, und lidte eine solche Ausdehnung, daß sie der[306] ganzen Aufführung eines Menschen, auch in den geringsten Kleinigkeiten, Maas und Ziel setzte.

Alle und jede Verbrechen, welche die Obrigkeit strafet, zogen den Verlust des Bürger-Rechts nach sich; man verkaufte der Verbrecher ihre liegende Haab, gab ihnen dafür das Geld, und ließ sie damit ihren Stab weiter setzen. Eine unordentliche, üppige und boshafte Aufführung wurde mit nicht weniger Schärfe geahndet; doch gebrauchte man zuvor gegen diese Art Leute allen Glimpf und alle Sanftmuth: man ermahnte, man warnte, man strafte sie mit Worten so lang und so viel, bis man sah, daß alles vergeblich und keine Besserung zu hoffen war; da man ihnen dann, gleich andern Ubelthätern, den Schutz aufkündigte, und sie als ungesunde Glieder von der Gemeine trennete.

Die übrige Schwachheiten aber ertrugen sie an einander mit Liebe, Sanftmuth und Gedult; sie bestraften mit vieler Nachsicht und Gelindigkeit die wirkliche Fehler, wenn man solche bereuete, und mit einer ernstlichen Buse zu verbessern versprach. Die Laster aber, welche sie gar nicht dulteten, waren die Lügen, der Betrug, die Falschheit, die Verleumdung, die Heucheley, die Zanksucht, der Zorn, die Rachgierde, die Unversöhnlichkeit; kurz, alles, was wider die Liebe GOttes und des Nächsten lauffet.[307]

Sie hielten dafür, daß wer ein rechter Christ werden wolte, ohne im Grund des Herzens aufrichtig zu seyn, der würde in die Luft bauen, und keinen Grund haben; denn es sey nach dem neuen Bund nicht genug, daß man bloß gesetzlich wäre: die Lehren Christi, sagten sie, giengen auf den innern Menschen, auf die Verbesserung des Herzens, und auf die Lauterkeit des Willens.

Alle vorkommende Zwistigkeiten und Streit-Sachen wurden bey ihnen durch Schieds-Richter, oder durch die Aeltesten und Vorsteher der Gemeinen beygelegt: es sey dann, daß sich ein schwerer Rechts-Handel von Wichtigkeit ereignete, der ohne gründliche Wissenschafft der Rechten nicht wohl konte entschieden werden: in solchem Fall setzte man die Sache mit allen Umständen zu Pappier, sandte solche nach dem hohen Tribunal nach Argilia, und ließ dieses oberste Land-Gericht darinnen sprechen. Mit diesem Spruch wurde der ganze Proceß auf einmahl zu Ende gebracht. Glückselige Völcker! welche auf diese Weise keine Advocaten und Procuratores vonnöthen haben.

Wie nun hierdurch die Ruhe, der Friede und die Eintracht in dem Bürgerlichen Leben erhalten wird; also herrschen solche auf gleiche Weise auch in der Religion, welche sonst aller Orten ein Vorwurf des grösten Haders und der betrübtesten Spaltungen ist. Hier werden die[308] Geistlichen und Schriftgelehrten, durch den Eifer ihre Meynungen gegen einander zu vertheidigen, nicht aufgehetzt. Hier werden die Läyen nicht durch die Menge der vielen Streit-Fragen und Glaubens-Artikel verwirret: Ihre Lehrer sind weise fromme Leute, die nicht für ihre eigene Aufsätze Krieg führen, noch ihre fanatische Grillen zum Glauben machen. Das Predigen ist bey ihnen kein Handwerk, und die Canzel nicht die Werkstatt, davon sie sich nähren. Sie leben von ihren eigenen Gütern, oder von ihrer Hand-Arbeit, die sie gleich andern besorgen: gerathen sie aber dabey in einigen Nahrungs-Mangel, so hilft ihnen die Gemeine und besorget allenfalls ihre Nothdurft: sie halten dafür, daß man nach Aufhebung des Alt-Testamentischen Gottesdienstes, der ordentlichen Priester und Opfer-Knechten, die sich vom Altar nähren musten, nicht mehr vonnöthen hätte: ihre ganze Hierarchie bestehet in nichts anders, als in einer Christlichen Ordnung: da ein Glied dem andern unterstellet ist, so wohl zur Besorgung des öffentlichen Gottesdienstes, als zur Erhaltung guter Zucht und Policey.

Die Gelehrten, die der Schrifft und der Sprachen kundig sind, werden überaus hochgehalten: wie dann zur Unterweisung der Jugend besondere Schulen angelegt sind, darinnen sie in allen guten Künsten und Wissenschafften unterwiesen wird.

Wegen Tauf und Abendmahl, pflegte[309] man es zu halten, wie bey den andern Protestanten auch: doch so, daß man die unter diesen äusserlichen Ceremonien verborgen liegende Geheimnüsse, dabey nicht erörterte; sondern darüber einem jeden seine Begriffe, wie er solche fassen oder nicht fassen konte, frey lies.

Die übrige Policey zu Christianopolis bestund in der Billigkeit des Nutur-Rechts, wie solches eine durch die Lehren des Heylandes gereinigte Vernunft, insonderheit das Hauptgesetz der Liebe, ganz deutlich an die Hand giebt.

Die Belustigungen an diesem Ort waren nicht allein unschuldig; sondern auch, so viel es seyn konte, erbaulich: die Garten-Lust, den Feldbau, die Spatzier-Gänge und die Music hielten sie vor andern hoch, weil sie so wohl für das Gemüth ergötzend, als der Gesundheit des Leibes zuträglich waren: Man sah, besonders zur Abendzeit, eine Menge dieser glückseligen Einwohner von allerhand Stand und Alter unter den Bäumen, längst dem grossen Canal, oder in dem daran stossenden fürstlichen Garten, auf- und nieder gehen: man fand um diese Zeit die meiste Häuser leer, und es waren diese Spazier-Gänge gleichsam eine Art von einer öffentlichen Versammlung, wo man die annehmlichste und Lehrreicheste Gespräche hörte.

Auf gleiche Weise, besonders zur Winters-Zeit, kamen die Einwohner dieses Orts auch in gewissen darzu eingerichteten Versammlungs-Häusern[310] zusammen; da man nebst allerhand Gesprächen bald mit der Music, bald mit einem unschuldigen Spiel, bald auch mit Essen und Trinken, sich ergötzen konte.

Die Christianopolitaner waren in allen Dingen, die an und für sich selbst nichts böses hatten, ganz nicht eigensinnig, noch in ihrer Sitten-Lehre so hoch geschraubt, daß sie aus der Unterlassung der Ergötzlichkeiten sich eine Religion machen solten. Diejenige Leute, sagten sie, die so urtheilen, wüsten nicht, was Religion sey. GOtt hätte die Menschen zur Glückseligkeit geschaffen, und deßwegen in dieser Welt so viel anmuthiges und schönes hervorgebracht, damit der Mensch dessen geniessen, und in diesem Genus den Schöpfer preisen und verherrlichen solte: Sie hielten es für eine so grosse Undankbarkeit, die Gaben der göttlichen Güte, Weisheit und Allmacht gering zu schätzen, und sich davon nicht rühren zu lassen; als sie es für eine viehische Unart schalten, wenn man derselben mit Unmäßigkeit und Unfläterey genoß; welche Ausschweiffungen deswegen auch insgemein den Sünder am hurtigsten straften: sie wusten, daß man GOtt nicht besser und reiner verehren konte, als wenn man alle Dinge nach derjenigen Absicht anzuwenden und zu gebrauchen suchte, wozu er solche geschaffen hat.

Ihr munteres Wesen, ihre Zufriedenheit, ihre Ordnung in allen Dingen, ihr freundlicher und liebreicher Umgang mit allen Menschen,[311] ihre Gelassenheit in dem göttlichen Willen, ihre Stärcke des Glaubens und die Zuversicht eines ewig glückseeligen Lebens; alles dieses machte, daß sie dem Leibe nach gesund, dem Gemüthe nach ruhig, und dem Verstande nach voller Weisheit und göttlicher Erkäntnüs waren.

O glückseliger Ort! warum findet man dich nicht auch auf der Land-Carte desjenigen Welt-Theils, welchen dem Namen nach die eifrigste Christen beywohnen, und die sich einbilden, daß sie dadurch ihren Glauben genugsam an Tag legten, wann sie darüber mit andern ein liebloses Gezäncke führten.

Der Graf von Rivera war ungemein verwundert, als er hier ein solches Volk fande, welches sich weniger darum bekümmerte, scharfsinnig von der Religion zu denken, als einfältig wie Christen zu leben. Er hatte seine Leute zu Argilia gelassen, und war, um nicht erkannt zu werden, nur in Begleitung seines Cammerdieners, nach Christianopolis gereifet. Er war daselbst in dem allgemeinen Gasthaus eingekehret: Man gab ihm ein sauberes Zimmer: er speisete Abends mit einer ziemlich grosen Gesellschafft: bey Tische hatte, nach hergebrachter Gewohnheit, ein Vorsteher der Gemeine die Aufsicht: dieser sorgte, daß die Speisen rein und sauber aufgetragen wurden, er legte solche vor, bediente die Fremden mit aller Höflichkeit, und gab acht, daß keine Unordnung vorgieng.[312]

Der Graf beobachtete unter andern einen gewissen Fremdling bey Tische, dessen Ansehen ihn aufmercksam machte: er war überaus wohl gekleidet, hatte feine Wasche, eine blonde Perruke, und Stiefel an den Füssen. Seine Gesichts-Bildung hatte etwas vornehmes und weichliches: seine Gebehrden und Minen zeigten einen überaus grosen Kummer. Diejenige, die neben ihm fassen, suchten ihm einen Muth einzusprechen: sie sagten ihm vieles von den verborgenen Führungen GOttes: daß die Unglücks-Fälle, die GOtt über uns Menschen verhängete, nicht böse wären; sondern nur dahin zielten, unser Gemüth von der allzugrossen Liebe des Zeitlichen abzuziehen; und solches mit edlern und bessern Neigungen zu erfüllen: sie hielten in dieser Betrachtung den Verlust der Reichthümer, für einen Menschen, der solche mit allzugroser Anhänglichkeit besessen, für eine grose Wohlthat GOttes; weil es ihm sonst schwer würde angekommen seyn, GOTT für das einzige wahre Gut zu erkennen. Vielen ließ GOtt deswegen die Beschwerlichkeiten und Unruhe, welche die Verwaltung groser Güter nach sich zög, mit stetem Verdrus empfinden: andern schenkte er im Gegentheil dabey die Gaben der Weisheit, daß sie wüsten, wie sie sich und andern damit solten Gutes thun.

Das wahre Glük eines Christen bestünd also darin, daß er GOtt alles heimstellte, und mit seinem Zustand zufrieden lebte.[313]

Der Graf von Rivera hörte die erbauliche Sitten-Lehren dieser Leute mit entzücktem Herzen an: er that ihnen nicht die geringste Frage, um sie desto ungestöhrter fortreden zu lassen. Besonders aber richtete er seine Augen auf denjenigen Fremdling, den die andern schienen, in der Unterweisung zu haben.

Nach geendigter Abend-Mahlzeit begleitete man so wohl den einen als den andern, in sein angewiesenes Zimmer. Der Graf hatte sich zu Bette gelegt, und war ruhig eingeschlafen: ihm traumete, daß einige wilde Thiere von einer gräßlichen und ihm ganz unbekanten Gestalt den Fremdling, mit dem er zu Nacht gespeiset hatte, anfielen, und denselben zu zerreisen droheten. Er spührte darüber im Schlaf eine so heftige Bewegung, daß er voller Schrecken aufwachte. Das Herz schlug ihm im Leibe: er fand sich ganz aufgebracht: er hörte ein klägliches Seufzen und Wimmern in der benachbarten Cammer, welche eine Thür von der seinigen unterschied; er besann sich, ob er noch träumete, oder wachend wär; je mehr er aufmerkte, je deutlicher vernahm er die Stimme des neben ihm einquartirten Fremdlings. Nein, es ist vergebens, hörte er ihn, mit einer unordentlichen Bewegung sagen: Ach! ich bin verlohren ... ich weiß keinen Trost für mich .... Die Menschen haben mich verrathen und betrogen ... GOtt kennet mich nicht; und ich kenne ihn auch nicht ... ach! wer soll mir helffen?[314]

Diese Reden, welche eine Gemüths-Beschaffenheit andeuteten, die zur Verzweiffelung gestellt war, rührten alsobald des Grafens Mitleiden: Er stund hurtig auf, schlug seinen Schlaf-Rock um sich, rief seinem Cammerdiener, ließ sich ein Licht bringen und klopfte an der Thür des Fremdlings: dieser hatte sich eingesperrt, und fragte, wer da wäre? Der Graf antwortete ihm: Er mögte die Gütigkeit haben ihm aufzumachen: Er hätte ihm etwas zu sagen: Der Fremdling machte damit auf, sah aber dabey so graß und fürchterlich aus den Augen, daß sich der Graf darüber entsetzte.

Mein Herr, sprach der Graf zu ihm, sie thun mir den Gefallen und legen sich zu Bette: ich habe sie lange in ihrem Zimmer hören auf- und niedergehen: sie finden sich nicht wohl: ich habe Mitleiden mit ihnen: ich versteh ein wenig die Arzney: sie werden mir erlauben, daß ich einen Wund-Arzt bestelle, um ihnen zur Ader zu lassen. Der Fremdling, der vollkommen wohl zu leben wuste, bedankte sich für eine so großmüthige Sorgfalt: er hatte sich von seiner heftigen Bewegung wieder ein wenig erholet: er bat den Grafen um Verzeihung, daß er denselben in seiner Ruh gestöret hätte, und bezeigte ihm eine solche Ehrerbietung, als ob er wüste, wer er wär.

Der Wund-Arzt, nebst dem Gasthalter, waren bald bey der Hand: Der Graf ließ[315] ihn nach der Aderlaß ein wenig Thee trinken, und bat ihn, sich ruhig zu halten, bis an den Morgen, da er ihm etwas den Magen zu reinigen wolte eingeben: Er hatte wahrgenommen, daß dieser Fremde den Abend zuvor immer in Gedanken stark drauf gegessen und wenig dabey getrunken hatte.

Er fand bey ihm eine ganz verzärtelte Natur, wel che durch ein unordentliches Leben und durch heftige Gemüths-Bewegungen sehr aus ihrem Zirkel gekommen war. Dem ungeacht entdeckte er bey diesem Fremden doch ein gut-artiges Wesen, und einen nachsinnenden Verstand: seine Melancholie entstund also nur aus einer starken Empfindung seiner widrigen Zufallen.

Der Graf hatte in seiner Reis-Apotheke einige gute Arzneyen: er gab ihm gegen Morgen etwas den Magen von der darinn sich ergossenen vielen Galle zu reinigen und den unordentlichen Umlauf des Geblüts wieder herzustellen: es waren Tropfen: sie bekamen dem Fremden wohl. Er gieng darauf den Tag über mit ihm in diesem neu angelegten Ort herum: sie wurden von demselben Vorsteher der Gemeine, welcher die Aufsicht im Gast-Hof hatte, allenthalben hin begleitet.

Der Graf beobachtete alle die Anstalten dieses Orts mit vieler Verwunderung: er machte solche ebenfalls seinem schwermuthigen[316] Gefährden, der immer wieder in seine eigene Gedancken zurück fiel, mit einer lebhafften Aufmunterung beobachten. Aller Orten, wo der Graf hin kam, machte er die Leute aufmerksam: seine Bildung, seine Gebehrden und seine Reden zeigten etwas groses, edles und scharfsinniges. Er hatte seinem Cammerdiner im Gast-Haus befohlen, weil er zufälliger Weise einen Arzt hätte abgeben müssen, so solte er auch die Leute, die ihn dafür hielten, bey dieser Meynung lassen.

Das Gerücht von diesem fremden Arzt hatte sich unterdessen durch den ganzen Ort ausgebreitet; man rühmte denselben bey dem Fürsten: man sagte, daß dessen Weisheit jederman in Verwunderung setzte. Der Fürst befahl deswegen, daß man ihm alle Ehr erweisen und den Abend nach Hof bringen solte. Es war bereits über 1. Uhr Nachmittag: Der Graf wolte nicht mit der Gesellschaft speisen; sondern ließ für sich und seinen Patienten etwas weniges auf das Zimmer bringen. Er öfnete hernach wieder sein Reis-Apothekgen, gab seinem Gefährden daraus einige Tropfen, und nachdem sie ein Stündgen geruhet hatten, giengen sie wieder aus.

Es war ein schöner Abend: eine Menge von Menschen hatte sich längst dem grosen Canal versammlet. Der Graf bewunderte hier die durchgängig herrschende Zucht und Ehrbarkeit: Die Manns-Leute hatten ein ernstliches[317] und vergnügtes Wesen. Die vom andern Geschlecht zeigten etwas holdseliges und liebreiches, welches so weit von der Frechheit, als einer blöden Schamhaftigkeit entfernet war: ihre Kleidungen und Gebehrden hatten nichts üppiges und nichts gezwungenes; sie gefielen, ohne daß es schiene, daß sie gefallen wolten. Die junge Leute scherzten mit einander in klugen und artigen Reden: Die, so geheyrathet und von einem gewissen Alter waren, sprachen von der Religion, von der Haushaltung, von der Kinder-Zucht, von neuen Begebenheiten und allerhand Welt-Händeln. Die Weisheit, die Demuth, die Menschen-Liebe und die Gottes-Furcht, leuchtete aus allen ihren Reden. Kurz, man sah, daß sie vergnügt waren, und daß dieses Vergnügen von ihrer frommen Unschuld herrührte.

Es wurde Abend: man sagte dem Grafen, ob er nicht Lust hätte nach Hof zu gehen? Der Graf verlies damit seinen Gefährden, und befahl ihn der geistlichen Sorgfalt eines Lehrers und eines Vorstehers, welche ihn nach dem Gast-Hof begleiteten. Er versprach demselben, vor Schlafens-Zeit, wie der bey ihm zu seyn.

Als der Graf nach der Burg gieng, fand er so wohl die Strafen als den Hof mit Wind-Lichtern erhellet: Man führte ihn durch einige Zimmer in einen Saal, wo er[318] die annehmlichste Stimmen mit einer durchdringenden Anmuth erklingen hörte. Es schien, als ob ein ganzes Chor der besten Sänger und Sängerinnen die reinste Töne nach einer abgezeichneten Singweise mit einander vereinigte: Der Graf fragte, was dieses zu bedeuten hätte? Man sagte ihm, der Fürst hielt diesen Abend seine gewöhnliche Andacht, welches die Woche zweymal zu geschehen pflegte: Der Graf fragte weiter, ob ihm nicht erlaubet wär, derselbigen mit beyzuwohnen? Man berichtete ihm, daß der Fürst insgemein selbst dabey den Vortrag thät, und deswegen nicht gern Fremde darzu ließ.

Der Graf wurde durch diese Nachricht desto begieriger, dieser Andacht mit beyzuwohnen, und bat deshalben seinen Führer, er mögte ihn mit dahin bringen: Dieser war darzu leicht zu bereden. Der Graf kam in ein Zimmer, das voller Menschen war: Der Fürst saß hinter einem kleinen Tisch, worauf die Bibel und ein Gesang-Buch lag, neben ihm zur Rechten war die Fürstin, seine Gemahlin, mit dem Prinzen, den beyden Prinzeßinnen und einigen Hof-Damen; zur Linken fand sich der junge Prinz mit seinem Hofmeister und andern Stands-Personen. Die Bedienten, nebst andern Leuten, sassen auf Stühlen und Bänken; hinter welchen der Graf sich hinstellte. Man wurde aber seiner so bald nicht ansichtig, so nöthigte man ihn mit aller Höflichkeit, sich vorn hin auf einen[319] von den Stühlen zu setzen, welche noch leer warm: Er weigerte sich nicht lang, sondern begab sich nach dem angewiesenen Platz.

Der Graf meynte nicht, daß ihm noch Aufmerksamkeit für den Vortrag des Fürstens übrig bleiben würde, so sehr hatten ihn die verschiedene Gestalten, die ihm hier in die Augen fielen, eingenommen. Er sah unter andern die älteste Prinzeßin mit Verwunderung an: er betrachtete sie mit einer Art, die ihr ungewöhnlich schien; sie erröthete darüber und empfand in ihrem Gemüthe etwas, so ihr selbst unbekant war.

Die Gesänge, davon man dem Grafen ein Buch gereichet hatte, giengen über diesen Betrachtungen zu Ende. Der Fürst begunte seine Rede: er that solches mit einem überaus natürlichen und ungezwungenen Wesen: er las einige Sprüche aus der zwölften Epistel Pauli an die Römer, und machte darüber unter andern folgende Anmerkungen.

Die Menschen, sagte er, hätten insgemein einen sehr ungleichen und falschen Begriff von dem Wort: Gottesdienst. GOtt sey ein vollkommenes und sich selbst genugsames Wesen, dem wir eigentlich durch nichts einen Dienst erweisen könten. Seine Absichten in Ansehung der Menschen, giengen blos dahin, sie einer immerwährenden Glückseligkeit theilhaftig zu machen: In diese Absichten müsten[320] wir eingehen. GOtt dienen, hieß also nichts anders, als sich ihm darstellen in einem reinem Gehorsam, seinen Willen zu thun; und ihn, als das höchste Gut, zu verehren und zu lieben. Durch diese inwendige Neigung des Herzens hielt sich der Mensch in einem steten Zusammenhang mit GOTT, und zög durch seinen Geist aus ihm alles Licht, alle Weisheit und alle Tugend, die zu seiner Glückseligkeit erfordert würde; nicht anders, als wie das natürliche Leben, durch das beständige Athmen und Ziehen der Luft, sich fortführte.

GOTT wirke in der ganzen Natur nach einer unwandelbaren Ordnung, darzu alle geschaffene Dinge, ein jedes nach seiner Art, ihre Bewegungen einrichten müsten: so lange die Menschen dieser Ordnung gemäß lebten, so lange blieben sie auch in der Ubereinstimmung mit dem Göttlichen Willen, und wären glückselig; so bald sie aber durch ihre Unordnungen und Ausschweiffungen sich von ihm abwendeten; so verfielen sie auch in die Strafen, damit die Natur diejenigen plagte, welche die Ordnung ihres Schöpfers verkehrten.

Der wahre Gottesdienst wär also nichts anders, als die Beobachtung unserer Pflichten gegen GOtt, gegen seine Geschöpfe, und gegen uns selbst: nichts wär unserer Natur zuträglicher und angenehmer, als in dem[321] Dienst eines solchen Herrn zu stehen, der uns nur suchte glückselig zu machen.

So zerstreuet Anfangs die Aufmerksamkeit des Grafens war, so enge zog sie dieser Vortrag zusammen. Die Art womit der Fürst sich vernehmen ließ, schien mehr einem vertraulichen Gespräch, als einer voraus studirten Rede ähnlich. Das leutselige, eindringende und aufrichtige Wesen, damit dieser grosmüthige und fromme Herr sein Fürstliches Haus und seinen ganzen Hof-Staat zu erbauen und zu unterrichten suchte, hatte etwas ganz ungemeines.

Der Fürst gieng darauf in sein Zimmer, nachdem er alle seine Zuhörer mit einer holden Freundlichkeit begrüsset hatte: Gleich darauf kam ein Cavalier zu dem Grafen von Rivera, und fragte ihn, in Aquitanischer Sprach, ob er der Halycidonischer Doctor wär? Ich bin ein Halycidonier, antwortete ihm der Graf: Ich bin sonst von Adelicher Geburt, dabey aber zufälliger Weise auch ein Arzt worden. Wolten sie nicht, fragte der Cavalier weiter, meinem Herrn die Ehr geben, und ein wenig zu ihm kommen? Der Graf wurde über dieses Zumuthen ein wenig verwirrt; er wolte sich nicht gern dem Fürsten bey solchen Umständen zu erkennen geben: er erwartete den andern Tag seine Leute: er hatte unterdessen keinen Vorwand, die angebottene[322] Ehre, um den Fürsten zu sprechen, von sich abzulehnen.

Der Fürst empfieng ihn mit der grösten Leutseligkeit: Er befragte ihn um ein und andre Neuigkeiten des Aquitanischen Hofs, wie auch, ob er den in kurtzer Zeit so berühmt gewordenen Grafen von Rivera nicht kennete? Der Graf erröthete über diese schmeichelhafte Erwehnung seiner Person: Er verwünschte in diesem Augenblick alle Verstellung. Ich kenne, sprach er, den Grafen von Rivera so wohl, wie mich selbst: Er wird erster Tagen hier seyn: Ich bin voraus gegangen, um dessen Ankunfft Ew. Durchleucht zu melden, und die Erlaubnis bey Deroselben auszubitten, daß er einem so grosen und weisen Fürsten seine Ehrerbietung bezeigen mögte. Der Fürst war über diese Nachricht so erfreuet, daß er solche seiner Gemahlin, welche noch in demselben Zimmer war, zu wissen that.

Der Graf wurde darauf mit zur Tafel genöthiget: Das Gespräch bey derselben war theils von ihm selbst, und von dem mit dem König von Licatien geschlossenen Frieden: theils von dem Kranken, welchen er im Gast-Hause unter seine Chur genommen hatte. Die älteste Princessin sagte hierauf halb im Schertz: Sie hätte hier auch eine Milz-Schwester bey sich, sie bat deswegen den Herrn Doctor, sich ihrer ein wenig anzunehmen: Indem sie dieses sagte, winkte sie mit[323] den Augen einer Fräulein, die neben dem Grafen saß, und trank ihr mit einem vertraulichen Lächeln, die Gesundheit zu: Es lebe Riesenburg.

Diese Fräulein hatte keine gar gute Farbe, ob sie gleich von einer überaus schönen Bildung war: Sie wurde roth, als die Princessin diesen Namen Riesenburg aussprach: Der Graf sah darüber die Fräulein an, und zweifelte nicht, daß sie die Fräulein von Thurris seyn muste, als von welcher er bereits Nachricht eingezogen hatte, daß sie sich an diesem Ort finden solte. Er konte darüber sein Vergnügen kaum bergen. Schönste Fräulein, fieng er ganz ernsthaft an: Sie haben ein Anliegen, welches sonst nicht die Aerzte zu curiren pflegen: Ich hoffe nichts destoweniger, denselben, wenn sie mir folgen wollen, wieder zu ihrer vorigen Gesundheit zu verhelfen. Der Fürst sahe darüber den Grafen an, schüttelte den Kopf, und wuste nicht, was er von ihm denken solte: Sie scheinen mir, sprach er zu ihm, ein ganz ausserordentlicher Medicus zu seyn: Gleichwohl antwortete jener, ist nichts ordentlicher und natürlicher, als die Art, womit ich meine Patienten zu tractiren pflege: Ich werde, fügte er hinzu, in kurtzer Zeit die Gnade haben, Ew. Durchleucht davon ganz unverdächtige Proben zu zeigen.

Der vermeynte Arzt faßte darauf die Fräulein[324] bey der Hand: Ihr Puls gehet sehr schnell, sagt er, sie sind beweget: Ich werd ihnen ein Pulver geben, die Wallungen in ihrem Geblüt niederzuschlagen: Morgen wird ihnen besser seyn. Man stund damit von der Tafel auf. Ich sehe, sagte der Fürst, zu dem verstelleten Grafen, daß sie heut mit unserm Frauenzimmer werden zu thun haben. Morgen werd ich mir auch eine Stunde ausbitten, mit ihnen zu sprechen. Er gieng damit nebst der Fürstin, seiner Gemahlin, und dem jungen Prinzen in sein Zimmer, und ließ den Grafen mit seiner ältesten Prinzeß in und der Fräulein in dem Vorgemach.

Diese beyde Damen fanden den vermeynten Arzt freyer als die Aerzte sonst in diesen Ländern zu seyn pflegten: Er sah vollkommen wohl aus: Er scherzte mit der grösten Anständigkeit, und hatte dabey solche Manieren, die ganz vornehm waren.

Ihr Gnaden, redete er die Fräulein an, werden mir etwas zu gut halten: Die Medici bey uns sind sehr freye Leute: sie werden mir ein wenig beichten müssen: Ich sehe, daß Ihro Durchleucht die Prinzessin sie lieb haben: sie wollen, daß ich ihnen helfen soll: man kan aber kein Ubel aus dem Grunde heben, dessen Ursprung man zuvor nicht wohl weiß. Indem er dieses sagte, ergriff er wieder der Fräulein ihre Hand, und besah darin ihre Lineamenten. Ist es nicht wahr,[325] schöne Fräulein, fuhr er fort, sie lieben einen gewissen Cavalier, und sind in ihrer Liebe, nicht, wie sie es wünschen, glücklich. Die Fräulein schien über diese allzu grose Freyheit des fremdem Doctors ungedultig zu werden, und wolte ihre Hand wieder zurück ziehen; allein, der Graf hielt solche fest: Nein, nicht so, gnädige Fräulein, sprach er zu derselbigen, mit Ungedult werden sie meiner nicht los; und weil sie mir nichts bekennen wollen, so will ich ihnen selbst die gute Wahrheit sagen. Werden sie mir aber solches ungnädig nehmen, so dürften sie damit mit ihr Geblüt noch mehr erhitzen, und also ihre Cur desto schwerer machen.

Die Prinzeßin lachte von Herzen über dieses Spiel, und bat den vermeynten Arzt, darinn weiter zu gehen. Der Graf fuhr also fort, und sagte der Fräulein, sie mögte sich verstellen, wie sie wolte, so säh er doch so viel aus ihren Lineamenten, daß ihr eigentlicher Beruf gewesen wär, in ein Closter zu gehen; daß sie aber durch eine darzwischen gekommene Neigung für einen vornehmen Cavalier darinn seye gestöret worden; O das ist nicht natürlich! rief darüber die Prinzeßin aus. Der guten Fräulein zitterten die Hände: sie sah den Grafen mit ganz erschrockenen Augen an, und fieng an sich vor ihm zu fürchten.

Der Graf merkte solches: er lachte heimlich[326] darüber: Nur ein wenig Muth gefaßt, gnädige Fräulein, sprach er zu derselben, ich bin so gefährlich nicht, als sie meynen. Hie Haben sie fuhr er fort, als er ihr wieder in die Hand sah, einen zwar widerwärtigen Planeten: sie haben ihren Liebsten vermuthlich durch einen Zweykampf verlohren; Allein, dem ungeacht, so verspricht ihnen die Vereinigung des Saturni mit der Venere noch vieles Glück: Ihr Liebster lebet noch, sie werden ihn auch wieder finden: und wenn sie mir glauben wollen, so soll er durch meine Kunst erfahren, wo sie sich aufhalten, und sich selbst hier vor ihren Augen stellen.

Der guten Fräulein wurde über diesen Reden noch banger: sie konte kein Wort sprechen, sie zweifelte gar nicht, daß der vermeynte Doctor ein Zauberer seyn müste. Der Graf versicherte sie dargegen, daß alles ganz natürlich zugieng; und solte morgen oder übermorgen der Graf von Rivera selbst für ihn gut sprechen.

Darf ich mich nun auch unterstehen, sagte hierauf der Graf, indem er sich zu der Prinzeßin wand, und Ew. Durchleucht ungemein glückliche Planeten, welche ich auf dero schönen Stirn erblicke, in dero hohen Hand bewundern? Sie sind, Herr Doctor, antwortete sie ihm mit einer freundlichen Mine, ziemlich verwegen: sie zeigte ihm damit, wiewohl nicht ohne einige Schamröthe und Verwirrung, ihre Hand.[327]

Hier machte der Graf grose Augen, und that, als ob er lange nicht recht mit der Sprach heraus wolte: endlich senkte er das eine Knie zur Erden; O grose Princeßin, rief er aus, mit einem Geheimnüs-vollen Ton; Ich sehe hier eine der grösten Königinnen der Welt vor mir stehen: Ew. Durchleucht erlauben mir, Deroselben meine tiefste Ehrerbietung zu erkennen zu geben: Sie werden den machtigsten Thron beherrschen, ihren Gemahl und ihr Volck glückselig machen, und ihre Durchleuchtigste Nachkommen bis auf die späteste Zeiten fortpflanzen. Dero Weisheit, Dero Tugend, Dero Gottesfurcht werden auch schon hier in diesem Leben ihre reiche Belohnung finden; Sie werden die Vollkommenste unter den Königinnen, wie die Schönste unter den Frauen seyn.

Eine so schmeichelhafte Prophezeyung und die edle Gebehrden, womit der Graf solche aussprach, verursachten bey der Prinzeßin allerhand Nachdenken. Solte wohl, gedachte sie bey sich selbst, ein vornehmer Herr mir diese Maskerade spielen? Ja, ja, ganz gewiß ist unter diesem verkappten Arzt eine andere Person verborgen. Die Princeßin hatte deswegen für denselben eine gewisse Ehrerbietung, die sie sich nicht entbrechen konte, ihm auch darinn zu erkennen zu geben, daß sie ihm seine allzufreye Aufführung nicht allein nicht verwies; sondern auch im Scherz ihm[328] diese Antwort gab, daß, wo er ihr die Wahrheit gesagt hätte, so solte er ihr erster Hof-Arzt werden.

Der Graf, nachdem er sich bey der Prinzeßin beurlaubet hatte, verfügte sich nach dem allgemeinen Gast-Haus: von da er durch einen ihm mitgegebenen Fürstlichen Leib-Diener der Fräulein das versprochene Pulver, aus seiner Reis-Apotheke zusandt: Sein anderer Patient war noch auf, und las in einem Buch, welches von der Zufriedenheit, und wie man solche bey GOtt suchen müste, handelte: Der Graf fand ihn sehr ruhig; Der Fremde sagte, daß ihm so wohl wär, als er solches in langer Zeit nicht gewesen. Das macht, versetzte der Graf, weil man sie hier in diesem Ort zu dem rechten Arzt gewiesen hat, welcher so wohl dem Leib, als dem Gemüth am besten aufhelfen kan; wenn man anders mit einem aufrichtigen Herzen, zu ihm seine Zuflucht nimmt, und die Mittel zur Genesung gebrauchet, die er uns vorgeschrieben hat.

Der Graf so wohl als der Fremde empfand noch keinen Schlaf. Der Graf ersuchte deswegen seinen Patienten, wenn es ihm anders zur Erleichterung des Gemüths dienen solte, und sonst kein Geheimnüs darunter verborgen wär, ihm seine Begebenheiten zu erzehlen. Dieses alles, antwortete der Fremde, würde gar zu weitläuftig fallen.[329] Der Graf sagte, er würde ihn damit verpflichten, und wann sie allenfalls darüber schläfrig werden solten, so könnten sie das übrige morgen nachholen.

Quelle:
Johann Michael von Loën: Der redliche Mann am Hofe. Frankfurt am Main 1742., S. 290-330.
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