Dreißigstes Kapitel.

[151] Obgleich der stärkste Andrang nicht von der Seite war, von der unsere drei Flüchtlinge sich dem Thale näherten, sondern am entgegengesetzten Eingange, so fanden sie doch Reise- und Unglücksgefährten, die von Nebenwegen auf die Landstraße gekommen waren und noch immer kamen. Unter solchen Umständen sind Alle, die einander begegnen, Bekannte. So oft die Barutsche irgend einen Fußgänger eingeholt hatte, tauschte man Fragen und Antworten gegen einander aus. Dieser hatte sich wie unsere Flüchtlinge durchgemacht, ohne die Ankunft der Soldaten abzuwarten; Jener hatte schon die Trommeln und Pauken gehört; ein Anderer hatte sie schon gesehen und schilderte sie, wie von Furcht Erfüllte zu schildern pflegen.

»Wir sind noch glücklich dran«, sagten die beiden Frauen, »Dank dem Himmel. Mögen auch unsere Sachen verloren gehen, wir sind wenigstens in Sicherheit.«

Don Abbondio aber fand nicht, daß man Ursache habe, sich so sehr zu freuen; der Andrang, der, wie er hörte, auf der andern Seite noch stärker sein sollte, fing an ihm Besorgniß zu erregen. »O was für eine Geschichte!« brummte er den Frauen in einem Augen blick zu, als Niemand in der Nähe war. »O was für eine Geschichte! Begreift ihr denn nicht, daß dies Zusammenlaufen von so vielen Leuten nach einem Orte die Soldaten mit Gewalt dorthinziehen heißt? Alles versteckt, alles schleppt fort, in den Häusern bleibt nichts; sie werden glauben, dort oben Schätze zu finden; sie kommen ganz gewiß hierher; o weh mir Armen! Wo bin ich hingerathen?«

»O sie haben mehr zu thun, als dort oben hinzukommen«, sagte Perpetua, »sie müssen auch ihre Straße ziehen. Ueberdies habe ich immer sagen gehört, in Gefahren sei's mit vielen am besten.«

»Mit vielen?« rief Don Abbondio, »armes Weib! Wißt Ihr nicht, daß jeder Lanzknecht hundert solche Leute vertilgt?[151] und wenn sie nun gar Lust hätten, dumme Streiche zu machen, so wär' es doch ein schöner Spaß, hier mitten drin in einer Schlacht zu stecken, he? O weh mir Armen! In die Berge zu flüchten, wäre nicht so schlimm gewesen; warum drängen sie sich Alle nach einem Orte .... Dummes Volk!« brummte er dann leiser: »Alle hierher, fort und fort, Einer immer hinter dem Andern, wie unvernünftiges Vieh.«

»Auf die Art«, meinte Agnese, »könnten Jene von uns das Nämliche sagen.«

»Schweigt still«, sagte Don Abbondio, »denn das Schwätzen hilft zu nichts; was geschehen ist, ist geschehen; wir sind einmal hier und müssen hier bleiben; wie's die Vorsehung will, so wird's kommen; möge es der Himmel gut für uns ablaufen lassen.«

Aber es war noch schlimmer, als er beim Eintritt in das Thal einen starken Posten Bewaffneter sah, theils auf der Schwelle eines Hauses, theils in den unteren Zimmern desselben. Er schielte nach ihnen hin; es waren nicht dieselben Gesichter, welche er auf seiner früheren traurigen Reise hierher gesehen hatte, oder wenn welche von denen darunter waren, so hatten sie sich sehr verändert; aber bei alledem läßt sich kaum sagen, wie verdrießlich ihm der Anblick war. – O ich Armer! – dachte er – da haben wir die Tollheit; es konnte auch nicht anders kommen; ich hätte es von einem solchen Menschen erwarten sollen; aber was hat er vor? will er Krieg anfangen? Will er den König spielen, Er? O ich Armer! in solchen Zeiten möchte man sich lieber unter der Erde verbergen und Der hier sucht sich auf jede Art bemerkbar zu machen; es scheint, als wollt' er sie einladen! –

»Sehen Sie hin, Herr Pfarrer«, sagte Perpetua zu ihm, »es sind tapfere Leute hier, die werden uns schon zu vertheidigen wissen; jetzt sollen die Soldaten nur kommen; die hier sind nicht wie unser feiges Bauernvolk, das zu nichts taugt als Reißaus zu nehmen.«

»Still!« antwortete Don Abbondio mit leiser, aber zürnender Stimme, »still! Ihr wißt nicht, was Ihr sprecht. Betet zum Himmel, daß die Soldaten sich eilen mögen, oder nichts davon erfahren, was hier vorgeht, daß man diesen Ort wie eine[152] Festung zurichtet. Wißt Ihr nicht, daß es das Handwerk der Soldaten ist, Festungen einzunehmen? Sie gehen nur darauf aus; Sturmlaufen ist ihnen wie ein Gang zur Hochzeit; denn Alles, was sie finden, gehört ihnen, und die Menschen lassen sie über die Klinge springen. O ich Armer! Genug, ich werde zusehen, ob ich mich nicht auf einem von den Felsen da irgend wie in Sicherheit bringen kann. In einer Schlacht sollen sie mich nicht erwischen, o in einer Schlacht gewiß nicht.«

»Sie fürchten sich also auch, daß man Ihnen beisteht und Sie vertheidigt ....«, fing Perpetua wieder an; aber Don Abbondio unterbrach sie barsch, jedoch immer mit leiser Stimme: »Schweigt still! und hütet Euch, diese Reden weiter zu plaudern. Denkt daran, daß man hier immer gute Miene zum bösen Spiel machen muß.«

Bei der »Schlechten-Nacht« fanden sie einen zweiten Posten Bewaffneter, vor denen Don Abbondio demüthig den Hut zog, indem er für sich sagte – Weh mir, weh mir! ich bin wirklich in ein Lager hineingerathen! – Hier hielt die Barutsche still; man stieg aus; Don Abbondio bezahlte schnell und entließ den Fuhrmann; dann betrat er, ohne ein Wort zu sprechen, mit seinen beiden Gefährtinnen den Weg zur Anhöhe. Der Anblick dieser Gegend weckte in seiner Einbildung die Erinnerung an alle die Angstgefühle wieder, die er schon früher hier ausgestanden hatte. Agnese, welche diese Orte noch niemals gesehen und sich in ihrem Geiste ein wunderliches Bild davon gemacht hatte, welches sich ihr jedesmal darstellte, wenn sie an die schreckensvolle Reise Lucia's dachte, kam jetzt, wo sie diese Orte wirklich vor sich sah, gleichsam zu dem erneuten und lebendigeren Gefühle dieser schrecklichen Erinnerungen. »O Herr Pfarrer!« rief sie, »wenn ich bedenke, daß meine arme Lucia auf diesem Wege hinauf geschleppt worden ist!«

»Wollt Ihr schweigen, unvernünftige Frau!« schrie ihr Don Abbondio ins Ohr, »darf man hier solche Reden führen? Wißt Ihr nicht, daß wir in seinem Bereiche sind? Ein Glück, daß Euch jetzt Keiner gehört hat; wenn Ihr aber so schwatzen wollt ...«

»O!« sagte Agnese, »jetzt, da er ein Heiliger ist ....!«[153]

»Schweigt still«, unterbrach sie Don Abbondio, »meint Ihr, man könne den Heiligen alles frei heraus sagen, was einem durch den Sinn geht? denkt vielmehr daran, ihm das Gute zu danken, das er Euch erwiesen hat.«

»O! daran hatte ich schon gedacht. Glauben Sie denn, daß ich gar keine Lebensart habe?«

»Die Lebensart besteht darin, daß man nichts sagt, was mißfallen kann, besonders nicht gegen Jemand, der nicht gewohnt ist, dergleichen zu hören. Und merkt es euch alle Beide, daß hier nicht der Ort ist, sich mit Klatschereien abzugeben und alles herauszusagen, was einem in den Kopf kommt. Es ist das Haus eines hohen Herrn, wie ihr wißt. Ihr seht, was für eine Dienerschaft rings herum auf den Beinen ist; es kommen Leute aller Art her; also vernünftig, wenn ihr könnt; erwägt die Worte und vor allem sprecht wenig, nur wenn es sein muß, denn wenn man schweigt, ist man klug.«

»Sie machen es nur schlimmer mit allen Ihren ....«, fiel Perpetua ein.

Aber »Still!« rief ihr Don Abbondio leise zu, zog zugleich hastig den Hut und machte eine tiefe Verneigung, denn indem er aufblickte, hatte er den Ungenannten gesehen, der von oben herab ihnen entgegen kam. Dieser hatte Don Abbondio ebenfalls gesehen und erkannt; mit schnellen Schritten kam er näher.

»Herr Pfarrer«, sagte er, als er nahe war, »ich hätte Ihnen mein Haus gern bei einer bessern Gelegenheit anbieten mögen; in jedem Falle aber freut es mich, Ihnen auf irgend eine Weise dienen zu können.«

»Auf die große Güte Euer Gnaden vertrauend«, antwortete Don Abbondio, »habe ich es in dieser traurigen Lage gewagt, hierher zu kommen, Sie zu belästigen und, wie Euer Gnaden sehen, habe ich mir auch noch die Freiheit genommen, Gesellschaft mitzubringen. Diese hier ist meine Haushälterin ....«

»Willkommen«, sagte der Ungenannte.

»Und diese«, fuhr Don Abbondio fort, »ist eine Frau, der Euer Gnaden schon Gutes gethan haben; die Mutter jener ... jener ....«[154]

»Lucia«, sagte Agnese.

»Lucia!« rief der Ungenannte und wandte sich mit gesenktem Haupte zu Agnesen. »Gutes, ich! Ewiger Gott! Ihr thut mir Gutes, daß Ihr hierher kommt, .... zu mir, in dieses Haus! Seid mir willkommen! Ihr bringt mir den Segen des Himmels!«

»Gerechter Gott!« sagte Agnese, »zur Last werde ich Ihnen fallen. Zuerst«, fuhr sie fort und näherte sich seinem Ohre, »habe ich Ihnen auch zu danken ....«

Der Ungenannte unterbrach diese Worte, indem er eifrig Nachricht über Lucia verlangte; als er sie erfahren, kehrte er um, die neuen Gäste nach dem Schlosse zu begleiten, und that es, ungeachtet der vielen Umstände, die sie machten. Agnese warf dem Pfarrer einen Blick zu, der zu sagen schien, sehen Sie einmal, ob es nöthig ist, daß Sie uns beiden ihre guten Rathschläge gaben.

»Sind sie schon in Ihrem Kirchsprengel angekommen?« fragte ihn der Ungenannte.

»Nein, gnädiger Herr, ich habe aber die Teufel nicht abwarten wollen«, antwortete Don Abbondio. »Weiß der Himmel, ob ich lebendig aus ihren Händen entkommen wäre, um Euer Gnaden hier beschwerlich zu fallen.«

»Wohlan, fassen Sie Muth«, erwiederte der Ungenannte, »denn jetzt sind Sie in Sicherheit. Hier herauf werden sie nicht kommen, und wenn sie den Versuch machen wollten, so stehen wir bereit, sie zu empfangen.«

»Wir wollen hoffen, daß sie nicht kommen«, sagte Don Abbondio. »Und ich höre«, fügte er hinzu und deutete mit dem Finger nach den Bergen, welche gegenüber das Thal einschlossen, »ich höre, daß auch auf jener Seite ein anderer Trupp Kriegsvolk sich herumtreibt, aber .... aber ....«

»Es ist wahr«, antwortete der Ungenannte, »aber sein Sie unbesorgt, wir sind auch auf ihre Ankunft gefaßt.«

– Zwischen zwei Feuern – sagte Don Abbondio für sich – wirklich zwischen zwei Feuern. Wohin habe ich mich verleiten lassen! und von zwei solchen Klatschmäulern! Und der hier scheint sich so recht wohl dazwischen zu fühlen. O was für Menschen giebt es doch in dieser Welt! –[155]

Als man in dem Schlosse angekommen, ließ der Herr Agnese und Perpetua in eine Stube der Wohnung führen, welche für die Frauen bestimmt war. Diese Wohnung nahm drei Seiten des zweiten Hofes ein, im hinteren Theil des Gebäudes, der auf einem hervorragenden einsamen Felsen, hoch über einem Abgrund stand. Die Männer wohnten auf der rechten und linken Seite des andern Hofes und in dem Theile, der nach der Ebene zulag. Das Mittelgebäude, welches beide Höfe trennte und durch einen weiten Gang von dem einen in den andern führte, war zum Theil mit Lebensmitteln angefüllt, zum Theil mußte es zur Aufbewahrung der Sachen dienen, welche die Flüchtlinge hier oben in Sicherheit bringen wollten. In dem Quartiere für die Männer waren einige Zimmer für die Geistlichen bestimmt, die eintreffen könnten. Der Ungenannte begleitete Don Abbondio selbst dahin, und dieser war der erste, der Besitz davon nahm.

Drei- oder vierundzwanzig Tage blieben unsere Flüchtlinge im Schlosse, mitten in einer fortwährenden Bewegung, in einer großen Gesellschaft, die anfangs immer mehr zunahm, jedoch ohne daß etwas Außergewöhnliches vorfiel. Es verging fast kein Tag, daß man nicht zu den Waffen gegriffen hätte. Es kommen Landsknechte von hier; dort hat man Cappelletti gesehen. Bei jeder Nachricht sandte der Ungenannte Kundschafter aus, und wenn es Noth that, nahm er Leute mit sich, die er immer dazu bereit hielt, und ging mit ihnen zum Thale hinaus nach der Richtung, wo die Gefahr drohen sollte; und es nahm sich seltsam aus, eine Schaar von Kopf bis zu Fuß bewaffneter Männer, in Reihe und Glied wie Soldaten, von einem waffenlosen Manne angeführt zu sehen. In den meisten Fällen waren es Fouragierer, oder einzelne Plünderer, die sich davon machten, ehe sie überfallen wurden. Einmal aber, als man Einigen von ihnen nachsetzte, um ihnen die Gegend zu verleiden, erhielt der Ungenannte die Anzeige, daß ein Dörfchen in der Nähe überfallen worden sei und geplündert werde. Es waren Landsknechte von verschiedenen Schaaren, die, zurückgeblieben, sich zusammengerottet hatten, um zu rauben, und unversehens sich auf die Dörfer warfen, in deren Nähe das Heer sich aufhielt; sie beraubten die Einwohner und verübten alle möglichen Dinge an ihnen. Der[156] Ungenannte hielt eine kurze Ansprache an seine Untergebenen und führte sie nach dem Dörfchen.

Unerwartet langten sie an. Als die Raufbolde, die nur auf Beute ausgegangen waren, eine geordnete, streitfertige Schaar auf sich zukommen sahen, ließen sie von der Plünderung ab und machten sich eiligst, ohne Einer auf den Andern zu warten, nach der Gegend davon, von wo sie gekommen waren. Der Ungenannte verfolgte sie noch eine Strecke Weges, ließ dann Halt machen, wartete einige Zeit, ob sich irgend Etwas zeige, und kehrte endlich zurück. Wie er durch das gerettete Dörfchen kam, läßt sich das Geschrei des Beifalls und des Segens nicht beschreiben, mit welchem die Schaar der Befreier und ihr Anführer begleitet wurden.

In dem Schlosse entstand unter dieser zusammengelaufenen Menge, so verschieden sie auch an Stand und Lebensweise, Geschlecht und Alter, niemals eine erhebliche Unordnung. Der Ungenannte hatte an verschiedenen Orten Wachen ausgestellt; diese achteten alle voll Diensteifer darauf, daß keine Unordnung vorkam, denn sie hatten ihm von den geringsten Dingen Rechenschaft abzulegen.

Auch hatte er die Geistlichen und die angesehensten Männer, die sich unter den Flüchtlingen befanden, ersucht, umherzugehen und ein wachsames Auge auf Alles zu haben. So oft er konnte, machte er selbst die Runde und zeigte sich überall; aber auch in seiner Abwesenheit diente der Gedanke, in wessen Hause man sich befand, zum Zügel für einen Jeden, der eines solchen bedurfte. Uebrigens waren es lauter geflüchtete Leute und daher im Allgemeinen zur Ruhe geneigt; die Sorgen um Haus und Eigenthum, bei einigen auch um Verwandte und Freunde, die in der Gefahr zurückgeblieben, die Nachrichten, die einliefen, erhielten und steigerten die gedrückte Gemüthsstimmung immer mehr.

Es waren indessen auch einige leichte Köpfe, Menschen von derberer Natur und frischerem Muthe darunter, welche diese Tage in heiterer Stimmung hinzu bringen suchten. Sie hatten ihre Häuser verlassen, weil sie nicht stark genug waren, sie zu vertheidigen; aber sie fanden keinen Geschmack daran, über Dinge zu weinen und zu klagen, denen nicht abzuhelfen war, noch die[157] Verwüstung sich vorzustellen, die sie nur zu früh mit eigenen Augen sehen würden. Befreundete Familien waren miteinander gegangen oder hatten sich oben wieder gefunden; neue Freundschaften waren geschlossen und die Menge hatte sich nach Gewohnheit und Laune in Gruppen getheilt. Wer Geld und Lust hatte, ging in das Thal hinab, um Mittag zu essen, wo man zu diesem Behufe in der Geschwindigkeit Wirthshäuser errichtet hatte; in einigen wechselten die Bissen mit Seufzern ab und es war nicht erlaubt von etwas Anderem als von Unglück zu sprechen; in andern dachte man nur an das Unglück, um zu sagen, daß man nicht daran denken müsse. An den, welcher sich die Ausgabe nicht machen konnte oder wollte, wurde im Schlosse Brod, Suppe und Wein ausgetheilt; außerdem waren einige Tafeln jeden Tag für diejenigen gedeckt, welche der Hausherr ausdrücklich dazu eingeladen hatte; unsere Bekannten gehörten zu dieser Zahl.

Um nicht ihr Brod mit Sünden zu essen, hatten Agnese und Perpetua die Dienstleistungen mit zu übernehmen gewünscht, die eine so große Wirthschaft erforderte; damit verbrachten sie einen guten Theil des Tages; die übrige Zeit ward mit guten Freundinnen, die sie sich erworben hatten, und mit dem armen Don Abbondio verplaudert. Er hatte nichts zu thun, langweilte sich aber doch nicht, die Furcht leistete ihm Gesellschaft. Die eigentliche Furcht vor einem Ueberfall war ihm wohl vergangen, glaube ich, oder, wenn er sie dennoch hatte, so machte sie ihm am wenigsten zu schaffen; denn so oft er darüber nachdachte, mußte er begreifen, wie ungegründet sie sei. Aber die Vorstellung von der Umgegend, die auf allen Seiten mit Kriegsvolk überschwemmt war; die Waffen und Bewaffneten, die er immer in Bewegung sah; dieses Schloß, jetzt eine Festung; der Gedanke an alle die Dinge, die jeden Augenblick unter solchen Umständen geschehen konnten, alles dies erhielt ihn in einer unbestimmten, allgemeinen, beständigen Furcht, ohne von dem Kummer zu sprechen, den ihn der Gedanke an sein armes verlassenes Haus machte. Die ganze Zeit über, die er sich an diesem Zufluchtsorte aufhielt, entfernte er sich nie weiter als auf Schußweite und setzte niemals den Fuß in das Thal; sein einziger Spaziergang war der freie Platz vor dem Schlosse, von da ging er[158] bald nach der einen, bald nach der andern Seite desselben, um die Klippen und Abhänge hinunter zu sehen und zu erforschen, ob nicht irgend ein gangbarer Weg, ein kleiner Fußpfad da wäre, wo er im Falle der Noth einen Schlupfwinkel suchen könnte. Vor allen seinen Gefährten der Zufluchtstätte machte er tiefe Verneigungen und grüßte sie ehrerbietig; aber nur mit sehr Wenigen ging er um; am meisten unterhielt er sich, wie wir schon gesagt haben, mit den Frauen; gegen diese machte er seinem Herzen Luft, obgleich ihm Perpetua zuweilen über den Mund fuhr und sogar Agnese ihn beschämte. Bei Tische, wo er sich nicht lange aufhielt und sehr wenig sprach, hörte er dann die Nachrichten von dem schrecklichen Durchzuge, die täglich ankamen, indem sie von Dorf zu Dorf, von Mund zu Mund gingen, oder von Jemand heraufgebracht wurden, der anfangs hatte zu Hause bleiben wollen, und der zuletzt, ohne etwas retten zu können und vielleicht noch übel zugerichtet, geflohen war. Jeder Tag brachte eine neue Unglücksgeschichte. Einige Neuigkeitskrämer von Handwerk sammelten sorgfältig alle Gerüchte, beutelten alle Nachrichten aus und theilten das Beste davon den Uebrigen mit. Man stritt sich, welches die tollsten Regimenter wären, ob das Fußvolk oder die Reiter es ärger trieben; man machte, so gut man konnte, gewisse Feldherrn namhaft, erzählte sich von einigen die früheren Thaten, man bezeichnete die Anhaltepunkte und Märsche; an diesem Tage verbreitet sich das und das Regiment über die und die Dörfer, morgen würde es auf die und die losgehen, wo unterdessen schon das eine oder das andere schlimmer als der Teufel hauste. Vor Allem suchte man sich zu erkundigen und berechnete, welche Regimenter nach und nach über die Brücke von Lecco gingen, denn diese konnte man als fortgegangen betrachten, und das Land war sie los. Jetzt ziehen Wallensteins Reiter hinüber, jetzt das Fußvolk von Merodet jetzt die Anhaltischen Reiter, dann das Fußvolk von Brandenburg, dann Montecucculis und Ferraris Reiter; jetzt Altringer, Fürstenberg, Colloredo; jetzt die Kroaten, dann Torquato Conti, dann andere und wieder andere; als es dem Himmel gefiel, zog auch Galasso hinüber und dieser war der Letzte. Die fliegende Schwadron der Venezianer entfernte sich endlich auch und das[159] ganze Land zur rechten und linken athmete wieder auf. Schon hatten die, welche aus den zuerst überschwemmten und geräumten Ortschaften gekommen waren, das Schloß verlassen, und täglich zogen Leute ab, wie man nach einem herbstlichen Unwetter aus den belaubten Aesten eines großen Baumes von allen Seiten die Vögel herausfliegen sieht, die sich darin verborgen hatten.

Ich glaube, unsere Drei blieben am längsten; Don Abbondio fürchtete, wenn er so schnell heimkehrte, noch auf Landsknechte zu stoßen, die als Nachzügler hinter dem Heere zurückgeblieben wären. Perpetua mochte noch so oft sagen, daß man, je länger man zögere, desto bessere Gelegenheit den Schelmen im Dorfe gäbe, das Haus zu erbrechen und alles heraus zu schleppen. Kam es darauf an, sich seiner Haut zu wehren, so war es immer Don Abbondio, der sie besiegte, wenn er nicht durch die bevorstehende Gefahr ganz und gar den Kopf verlor.

An dem für die Abreise festgesetzten Tage ließ der Ungenannte bei der »Schlechten-Nacht« eine Kutsche bereit stehen, in welche er schon eine Ausstattung an Wäsche für Agnese hatte legen lassen. Er zog diese bei Seite und zwang sie auch noch ein Päckchen Scudi anzunehmen, um den Schaden wieder gut zu machen, den sie zu Hause vorfinden würde, obgleich letztere, die Hand auf der Brust haltend, wiederholt betheuerte, daß sie noch von den früheren welche hier hätte.

»Wenn Ihr eure gute arme Lucia wiederseht ....«, sagte er zuletzt zu ihr, »ich bin sicher, sie betet für mich, seitdem ich ihr so viel Böses gethan habe; sagt ihr also, daß ich ihr dafür danke und auf Gott vertraue, daß er ihr Gebet für mich in ebenso vielen Segen für sie verwandeln wird.«

Darauf wollte er seine drei Gäste bis zur Kutsche begleiten. Die demüthigen, herzlichen Danksagungen Don Abbondio's und die Knixe Perpetua's mag sich der Leser selbst vorstellen. Sie reisten ab und hielten, der Verabredung gemäß, vor dem Hause des Schneiders einen Augenblick still, wo sie hundert Dinge vom Durchzuge hörten; die gewöhnliche Geschichte von Räubereien, Schlägen, Verwüstungen, Unzucht; aber zum Glück hatten sich hier keine Landsknechte sehen lassen.[160]

»Ach Herr Pfarrer!« sagte der Schneider, indem er ihm den Arm bot, um wieder in die Kutsche zu steigen, »man könnte Bücher über eine solche Zerstörung drucken lassen.«

Nachdem sie eine kurze Strecke gefahren waren, kamen unsern Reisenden Dinge vor die Augen, welche sie bis jetzt nur hatten beschreiben hören: die Weinberge beraubt, aber nicht wie nach der Lese, sondern als ob Hagel und Sturmwetter zusammen über sie gekommen wären, die Reben an der Erde abgerissen und zertreten, die Pfähle herausgerissen, der Boden zerstampft, mit Blättern und Gestrüpp bedeckt, die Bäume gespalten und abgehauen; die Hecken durchbrochen, die Gitter weggeschleppt. In den Dörfern dann zerbrochene Thüren, durchgehauene Bretter, Scherben aller Art, Lumpen in Haufen oder überall in den Straßen zerstreut; eine drückende Luft, die noch schwerer wurde durch die Dünste, die aus den Häusern kamen; die Leute warfen theils Unrath heraus, theils besserten sie so gut es ging die Thüren aus, oder standen zusammen und klagten sich ihre Noth; als die Kutsche vorüberfuhr, streckten sie hier und da die Hände zum Kutschenschlage empor und baten um ein Almosen.

Mit diesen Bildern bald vor Augen, bald in Gedanken und in der Vermuthung in ihrem Hause es ebenso zu finden, kamen sie daselbst an und fanden in der That, was sie vermutheten.

Agnese ließ die Bündel in einen Winkel des kleinen Hofes niederlegen, der noch der reinste Ort des Hauses geblieben war; dann fing sie an auszufegen und die wenige Habe, die man ihr gelassen hatte, aufzuraffen und wieder zu reinigen; sie ließ einen Tischler und einen Schmied kommen, um den angerichteten Schaden wieder auszubessern; dann betrachtete sie Stück für Stück die geschenkte Wäsche, zählte die ganz neuen Goldstücke und rief: »ich bin bei dem Fall auf die Füße zu stehen gekommen, Gott und der heiligen Jungfrau und dem guten Herrn sei gedankt; ich kann recht eigentlich sagen: auf die Füße zu stehen gekommen.«

Don Abbondio und Perpetua treten ohne Hülfe der Schlüssel in ihr Haus; bei jedem Schritte, den sie in der Flur weiter thun, kommt ihnen ein Modergeruch, ein pestilenzialischer Gestank entgegen, der immer mehr zunimmt und der sie wieder zurücktreibt; mit der[161] Hand vor der Nase kommen sie an die Küchenthüre, treten auf den Fußspitzen ein und wissen nicht, wo sie hintreten sollen, um dem ärgsten Schmutze, der den Fußboden bedeckt, auszuweichen. Sie werfen einen Blick rings herum; es war nichts mehr ganz; nur Ueberbleibsel und Bruchstücke sah man von den gewesenen Dingen hier und da in jedem Winkel: Flammen und Federn von Perpetua's Hühnern, Fetzen von Wäsche, Blätter aus Don Abbondio's Kalender, Scherben von Küchengeschirr; alles durcheinander oder überall herumgeworfen. Nur auf dem Feuerheerde konnte man die Spuren einer großen Plünderung alle beisammen sehen, wie viele verschiedene Begriffe, die ein witziger Mann in einen einzigen Satz zusammengehäuft hat. Es war ein Ueberbleibsel, sage ich, von großen und kleinen erloschenen Feuerbränden, die noch verriethen, was sie gewesen waren, die Armlehne eines Stuhles, der Fuß eines Tisches, der Thürflügel eines Schrankes, ein Bettbrett, eine Daube des Fäßchens, worin der Wein gewesen, der Don Abbondio's Magen stärkte. Das Uebrige war Asche und Kohlen, und zum Ersatz hatten die Verwüster mit diesen Kohlen die Wände mit Fratzenbildern verschmiert, die, mit gewissen viereckigen Mützen, oder mit gewissen Tonsuren und Vollmondsgesichtern Priester vorstellen sollten, indem sie bemüht gewesen waren, dieselben recht abscheulich und lächerlich abzumalen, eine Absicht, die solchen Künstlern in der That nicht mißglücken konnte.

»O die Schweine!« rief Perpetua aus. »O die Landstreicher!« rief Don Abbondio aus; und sie flohen zu einer andern Thüre hinaus, die in den Garten führte. Sie athmeten wieder auf und gingen schnell auf den Feigenbaum zu; aber schon ehe sie dabei anlangten, sahen sie die Erde aufgewühlt, und beide stießen zugleich einen Schrei aus; angelangt, fanden sie wirklich anstatt des Schatzes das offene Loch. Nun brachen sie in ein lautes Wehklagen aus. Don Abbondio fing an Perpetua zu beschuldigen, daß sie den Schatz schlecht verborgen habe; man kann sich denken, ob diese dazu still schwieg; nachdem sie sich ausgeschrien, wandten sich beide mit ausgestrecktem Arm und den Zeigefinger nach dem Loche gerichtet brummend davon weg. Man kann darauf rechnen, daß sie überall ungefähr das Nämliche vorfanden.[162] Sie mußten es sich wer weiß wie sauer werden lassen, das Haus wieder zu säubern und zu reinigen, um so mehr, da es in diesen Tagen schwer war, Hülfe zu finden; und ich weiß nicht, wie lange sie so kampiren und sich gut und schlecht behelfen mußten, indem sie erst nach und nach Thüren, Möbeln und Hausgeräthe mit von Agnese geliehenem Gelde wieder ersetzten.

Dieser Unglücksfall gab in der Folge noch Veranlassung zu vielen andern Aergernissen; denn Perpetua brachte durch Fragen und Spioniren endlich heraus, daß verschiedenes Hausgeräthe ihres Herrn, welches man von den Soldaten zerstört oder fortgeschleppt wähnte, statt dessen sich wohlbehalten bei Leuten im Dorfe befand; und sie bestürmte ihren Herrn nun, er möchte sich aufmachen und das Seinige zurückfordern. Eine verhaßtere Saite konnte bei Don Abbondio nicht angeschlagen werden; weil sein Eigenthum in den Händen von Schurken war, das heißt, bei solchen Leuten, mit denen er es vorzog in Frieden zu leben.

»Aber wenn ich nun einmal nichts davon hören will«, sagte er. »Wie oft soll ich es Euch wiederholen, was fort ist, ist fort? Soll ich mich etwa ins Unglück bringen, weil man mir alles aus dem Hause geschleppt hat?«

»Ich sage es immer«, antwortete Perpetua, »Sie lassen sich noch das Fell über die Ohren ziehen. Bei andern ist Stehlen eine Sünde, aber bei Ihnen ist es eine Sünde nicht zu stehlen«.

»Was für unsinnige Reden das sind!« entgegnete Don Abbondio, »wollt Ihr wohl schweigen?«

Perpetua schwieg, aber nicht sogleich aufs Wort; nachher nahm sie jede Gelegenheit wahr, um wieder anzubinden. Zuletzt wurde der arme Mann so weit gebracht, daß er nicht mehr klagte und jammerte, wenn er irgend eine Sache in dem Augenblicke, da er sie nöthig hatte, vermißte; denn mehr als einmal hatte er sich sagen lassen müssen: »Gehen Sie und fordern Sie es bei dem und dem, der hat es, und der würde es nicht bis zu dieser Stunde noch behalten haben, wenn er es nicht mit einem so schwachen Manne zu thun hätte.«

Eine andere, stärkere Unruhe verursachte ihm die Nachricht, daß täglich noch einzelne Soldaten durchkamen, wie er nur allzu[163] richtig vermuthet hatte; er war daher stets in Angst, Einen oder den Andern, oder auch eine ganze Compagnie vor seiner Thüre ankommen zu sehen, die er vor allen Dingen hatte schleunigst wieder zurecht machen lassen und die er sorgfältig verschlossen hielt; aber Dank dem Himmel, er hatte niemals davon zu leiden. Doch kaum waren diese Schrecken vorüber, als auch schon ein neuer kam.

Wir müssen aber hier den armen Mann bei Seite lassen; es handelt sich um etwas ganz Anderes als um seine persönlichen Besorgnisse, um die Klagen einiger Dörfer, um ein vorübergehendes Unglück.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2, S. 151-164.
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