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[32] Herr Markus hatte seinen Aufenthalt im Hirschwinkel ursprünglich auf höchstens drei Tage festgesetzt. Er wollte nach der unerläßlich gewordenen Inspizierung des neuen Besitzes eine Tour durch den Thüringer Wald bis nach Franken hinein machen ... Nun waren aber drei Tage nach seiner Ankunft verstrichen, und es fiel ihm nicht ein, seine beabsichtigte Reise anzutreten, so wenig, wie er jetzt noch daran dachte, das ferngelegene, ihm unbequeme Gut zu verkaufen, wozu er daheim fest entschlossen gewesen war. Um keinen Preis wäre ihm jetzt der reizende Erdenwinkel feil gewesen, der ihn so heimisch umfing, als sei er in dem alten, trauten Gutshause geboren.

Er bewohnte das Erkerzimmer und ein rechts daranstoßendes Schlafkabinett. Die Zimmerflucht linker Hand dagegen, die mit dem Arbeitszimmer des verstorbenen Oberforstmeisters begann und in das Laboratorium auslief, wurde nach sorgfältiger Lüftung wie ein Reliquienschrein wieder unter Verschluß gelegt und sollte nie benutzt werden, wie der Gutsherr zu Frau Griebels großem Aerger anordnete.

Er kam sich vor wie ein Einsiedler, der sich auf einsamen Berggipfel zurückgezogen hat und kaum noch weiß, daß zu seinen Füßen die Brandung des Menschenverkehrs weiter tost, weil er sie nicht mehr hört. So still war es auch im Gutshause. Alles, was zur Oekonomie gehörte, konzentrierte sich in dem zweiten großen Hof, hinter dem saubergehaltenen, kiesbestreuten Platz, auf welchen die Stufen der Hausthür führten. Da vorn durften nur die verwöhnten Truthühner umherstolzieren, das buntbemalte Taubenhaus und ein vollästiger Birnbaumwipfel stiegen in die Lüfte, und Sultans Hundehütte stand an dem Thorweg wie ein Schilderhäuschen ... So rührig auch Frau Griebel auf ihrem Wirtschaftsposten war, im Vorderhause duldete sie kein geräuschvolles Hantieren, kein Thürenschlagen von seiten der Leute, und draußen vor den Fenstern war es noch stiller. Wunderselten einmal geschah es, daß Weiber mit einem Reisigbündel auf dem[32] Rücken oder ein Trupp beerensuchender Kinder auf dem Wege dahinschritten, der den Rasenfleck vor dem Gutshause durchschnitt.

Allerdings war es nicht das Wohlbehagen einschließlich, was Herrn Markus auf dem Gute festhielt – es traten auch zu erledigende Geschäftsfragen an ihn heran. Eine längst projektierte Eisenbahnlinie, die auch den Hirschwinkel berührte, sollte nunmehr in Angriff genommen und abgesteckt werden. Diese Angelegenheit machte verschiedene Schreibereien nötig. Der Schienenweg bedrohte das beste Stück Ackerland, während er doch nach Pächter Griebels Ansicht ebensogut durch den minder wertvollen Wiesengrund laufen konnte.

Herr Markus hatte sein neues Gebiet bereits nach allen Seiten hin beschritten. Wohin er auch kam, überall fand er die musterhafteste Bewirtschaftung und das sichtliche Bemühen, die Güte des Bodens wie ein Kleinod zu behüten. Als Ausläufer dieses fruchtbaren Geländes lag freilich das Vorwerk da wie ein angesetzter ärmlicher Flicken. – »Solange die Frau Oberforstmeisterin noch lebte, sahen die Grundstücke immer ganz passabel aus,« sagte Peter Griebel; »der Amtmann hatte einen heillosen Respekt vor unserer alten Dame und ging deswegen gar oft selbst hinter dem Pfluge her. Dazumal hatte er noch einen Knecht; der ist nun aber auch gleich nach der Magd fortgelaufen, und beim Amtmann hat sich das Alter eingestellt – er geht am Stocke. Von Feldarbeit wär' keine Rede mehr, wenn sich nicht der Forstwart drüben im Grafenholz erbarmte. Der stammt aus dem Ort, wo der Amtmann früher die fürstliche Domäne in Pacht gehabt hat; da ist er Taglöhnerjunge gewesen und scheint an seiner alten Herrschaft zu hängen, denn das bißchen freie Zeit, das ihm sein schwerer Dienst übrig läßt, bringt er auf den Vorwerksäckern zu, und – da mag nun seine Frau sagen was sie will – die fremde Magd hilft tüchtig mit.«

Bis in die Nähe der Vorwerksgebäude war Herr Markus noch nicht gekommen. Es war seine Absicht, den letzten Willensausdruck der verstorbenen Gutsherrin zur Geltung zu bringen, wenn das Schriftstück auch im Strickbeutel statt bei der gesetzlichen Behörde gelegen hatte und durch keinerlei Zeugenschaft beglaubigt war. Aber er wollte das erst nach seiner Rückkehr in die Heimat schriftlich abmachen – es widerstrebte ihm absolut, mit dem Amtmann und »dem Gouvernantenfräulein« in persönlichen Verkehr zu treten.

Er sehnte sich überhaupt nach keinem Umgang in der Einsamkeit, die er zum erstenmal kennen lernte und auszukosten wünschte. Er war durchaus kein Blasierter – das rauschende[33] Leben der Großstadt hatte tausendfachen Reiz für ihn; er gab sich ihren schönen Genüssen mit voller Seele hin, denn er war ja ein noch junger Mann, dem die Lebenslust mit dem gesunden Blut durch die Adern strömte; aber nach all dem aufregenden Treiben der verflossenen Saison und dem geräuschvollen Arbeitsgetöse in seiner Fabrik fand er es köstlich, in der einlullenden Waldstille gleichsam zu versinken.

Er hatte einen ganz besonderen Lieblingsaufenthalt im Hirschwinkel für sich entdeckt; das war der kleine Pavillon, der sich auf der nordwestlichen Ecke der Gartenmauer erhob. Von achteckiger Form, gestattete er durch zwei Fenster und ebensoviel Glasthüren einen Ausblick nach allen Himmelsrichtungen. Die Innenwände waren mit verblichenen Frucht- und Blumenstücken auf[34] grauem Grunde bemalt; ein kleiner, weicher Eckdiwan hinter einem runden Tischchen, einige Rohrstühle und ein Bücherbrett über dem Diwan bildeten das Meublement, und hinter den oberen Scheiben der Fenster und Glasthüren hingen Bogengardinen von Purpurkattun, welche das Stübchen mit einem magischen Schein füllten. Vor der einen Glasthür, nach der Westseite zu, zog sich ein schmaler Balkon mit hölzernem Geländer hin, und – das war es hauptsächlich, was dem neuen Besitzer diesen Aufenthalt so reizvoll machte – von da führte eine kleine Treppe direkt in das freie Feld außerhalb des Gartens hinab. Nur ein schmaler Rasenstreifen lief hier draußen die Mauer entlang; darüber her wehten schon die nickenden Halme des nächsten Kornfeldes.

Herr Markus saß am Morgen des vierten Tages nach seiner Ankunft in dem Gartenhäuschen auf der Mauer und schrieb. Er hatte mit einer Anzahl auserlesener Werke aus der »Bücherstube«, allerhand Schreibgerät und einigen Regaliakistchen die kleine Stube noch behaglicher ausstaffiert ... Nun hatte er sich eine Zigarre angebrannt, und die blauen Wölkchen vertrieben die Kamillen- und Lavendeldüfte, welche die Morgenluft aus dem Kräutergarten der Frau Oberforstmeisterin hereinwehte. – Er saß im Eckdiwan, der Balkonthür gegenüber. Sobald er aufblickte, übersah er durch die Glasscheiben den Weg, der, vor dem Gutshause hinlaufend, in fast schnurgerader Linie die Felder durchschnitt und erst weit drüben von dem beginnenden Waldschatten aufgenommen wurde. Nur einmal zweigte sich eine schmale Pfadlinie rechts ab, um hinter einem kleinen Fichtengehölz weg nach dem Vorwerk zu laufen.

Auf diesem Fußweg daherkommend, trat plötzlich ein weibliches Wesen in seinen Gesichtskreis – es war die Magd vom Vorwerk. Er erkannte sie sofort an Gang und Haltung, wenn auch heute außer dem ominösen weißen Tuch – von Frau Griebel zornmütig »Scheuleder« genannt – noch ein breitrandiger Strohhut ihr Gesicht beschattete.

Sie ging langsam mit gesenktem Kopf; in der Linken trug sie einen Rechen und ließ im Vorüberwandeln die grünen Kornähren durch die Finger der rechten Hand laufen. Wie auf Goldgrund hob sich das Mädchen aus der sonnenhellen, einsamen Landschaft ... Sie war offenbar im Begriff, auf der entferntgelegenen Wiese, wo sie vor einigen Tagen gemäht hatte, das Heu zu wenden.

Er sah sie näher und näher kommen – sie hatte sichtlich[35] keine Ahnung, daß in dem Gartenhäuschen, an welchem sie wohl oft vorüber mußte, ein Beobachter jeder ihrer Bewegungen unverwandten Blickes folgte ... Herr Markus hatte nicht mehr an das Mädchen gedacht, das ihm die verlangte Hilfe auf der Brücke nur mit Widerwillen gewährt; jetzt aber fiel ihm die knappe und schroffe Art und Weise, mit welcher sie ihn abgefertigt hatte, wieder ein – er mußte lachen, und es reizte ihn, mit der Spröden noch einmal anzubinden.

Er erhob sich und trat an die Thür, während sie, der Mauerecke nahe, plötzlich Halt machte und einen Brief aus der Tasche zog. Es schien, als spähe sie nach irgend einem dienstbaren Geist des Gutes aus; aber vor dem Hause und an den Fenstern desselben rührte und regte sich nichts. Sie betrat deshalb kurz entschlossen den Rasenstreifen, der die westliche Gartenmauer[36] entlang lief, jedenfalls um zu den Hintergebäuden zu gelangen, wo die Mägde in den Ställen zu finden waren.

In diesem Augenblick kam Herr Markus auf den Balkon heraus; er stieg rasch das Treppchen hinab und vertrat ihr auf diese Weise den Weg. Sie schrak zusammen, als habe sich die Erde vor ihr aufgethan, und ließ vor Bestürzung den Rechen fallen.

»Der Brief ist doch wohl für jemand auf dem Gute bestimmt – gib ihn mir, ich will ihn bestellen!« sagte er lächelnd, indem er die Hand nach dem schmalen Kouvert ausstreckte.

Stumm reichte sie ihm den Brief hin.

»Was der Tausend – er ist ja für mich!« rief er mit einem Blick auf die Adresse. »Von wem?«

Sie bückte sich und nahm den Rechen auf.

»Von deinem Herrn doch nicht?« inquirierte er weiter, da die Antwort nicht sofort erfolgte.

»Ja, vom Amtmann,« bestätigte sie jetzt in der fast ängstlich knappen Redeweise, die er bereits an ihr kannte.

Er wiegte lächelnd den Kopf. »Sieh, sieh, was der alte Herr für eine zierliche Damenhand schreibt!«

»Das ist nicht seine Schrift – er leidet an Augenschwäche –«

»Ach so, da hat er diktiert, und eine seiner Damen – wie ich vermute, das Fräulein Gouvernante – hat nachgeschrieben.« Er hielt die Adresse prüfend von sich ab. »Schöne, schlanke Züge, auf schneeweißem Papier, wie es sich für eine Dame gehört, die mit Küchengerät und Staubtuch absolut nichts zu schaffen hat.« – Sie warf den Kopf auf, und er hoffte schon auf eine schneidige Replik; aber umsonst, sie senkte das Kinn wieder auf die Brust und schwieg.

»Du bist wohl für deine junge Dame sehr eingenommen?« fragte er, seine brennende Zigarre wieder zum Munde führend.

»Ich glaube nicht!« versetzte sie und trat ein wenig zurück, als wolle sie den blauen Duftringeln ausweichen, die ihren Kopf plötzlich umschleierten. Lächerlich! Das Mädchen da, das in öffentlichen Vergnügungslokalen unter ihresgleichen den dicken Dampf unfeinen Kanasters atmen mußte, that verwöhnt und belästigt, als habe sie die feinsten Damennerven – sie kopierte höchst wahrscheinlich das Fräulein Gouvernante. Das ärgerte und reizte ihn – er that nun erst recht ein paar kräftige Züge.

»Du glaubst es nicht?« wiederholte er darauf. »Aber ihr vornehmes Wesen gefällt dir trotz alledem, wie ich vermute – du möchtest wohl gar zu gern sein wie sie, nicht?«[37]

»Das wäre ein sonderbarer Wunsch –«

»Ei warum denn? Die schönen Hände pflegen und sich im kühlen Zimmer bedienen zu lassen, ist doch tausendmal wünschenswerter, als ins Heu zu gehen und bei harter Arbeit von der Sonnenhitze ausgedörrt zu werden?«

»Meinen Sie, das – das Fräulein arbeite nicht?«

»Mein Gott, ja!« versetzte er in persiflierendem Ton. »Ich bin sogar überzeugt, daß sie mit behandschuhten Händen sehr fleißig Feldblumen pflückt und sie als geschmackvolle Sträußchen für Albumblätter trocknet oder in Wasserfarben malt; sie wird Kanten sticken, schreiben und lesen und ihre Fingerübungen auf dem Klavier mit grausamer Pünktlichkeit zum Genuß aller nervengereizten Menschen herunterspielen. Nun, stimmt es?«

»Zum Teil, ja!« bestätigte sie, wobei sie den Strohhut noch tiefer in die Stirn zog. Es waren hübsche, schlanke, aber tiefgebräunte Finger, die nach dem Hutrand griffen.

»Siehst du?« sagte er mit mutwilligem Lächeln. »Ich glaube auch, daß sie sehr gut zu beurteilen versteht, ob du in ihrem Zimmer gründlich abgestäubt und die Ordnung wiederhergestellt hast; sie wird es ebensowohl zu würdigen wissen, wenn dir die süße Mehlspeise geraten und der Braten nicht angebrannt ist.«

Ein leises Auflachen kam unter dem weißen Tuch hervor. »Ich weiß nur, daß sie selten zufrieden mit mir ist!« sagte das Mädchen gleich darauf mit Bestimmtheit.

»Du wirst es an der gebührenden Unterwürfigkeit fehlen lassen, meine Kleine. – Quält dich das Fräulein Blaustrumpf dafür?«

»Dafür nicht; aber sie macht mir oft die bittersten Vorwürfe, wenn meine Kraft mit dem Willen durchaus nicht Schritt halten will.«

Er ließ die Hand mit der Zigarre sinken, und seine Augen suchten mit dem Ausdruck von Befremdung unter Tuch und Hutschirm zu dringen. »Du sprichst ja merkwürdig gewählt für ein Mädchen deines Standes!« sagte er aufhorchend.

Sie fuhr erschreckt zusammen und streckte ihm die Hand wie zur Abwehr entgegen.

»Ach ja, ich vergaß – du bist ja kein Dorfkind!« setzte er hinzu und strich sich über die Stirn und sein reiches Haar. »Hast in der Stadt, in gutem Hause gedient, und da ist etwas von den herrschaftlichen Manieren hängen geblieben ... Deine junge Dame hat dich ja mitgebracht, wie ich höre – warst wohl in einem Hause mit ihr?«[38]

Das Mädchen zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Nun ja, wir waren in einem Hause – im Haus des Generals von Guseck in Frankfurt,« sagte sie und griff mit weggewendetem Gesicht mechanisch in das Halmgewoge des Kornfeldes, neben welchem sie stand. »Ich war stets mit ihr zusammen; ich leiste ihr alle Kammerjungferdienste, wie sie solch ein verwöhntes ›Fräulein Gouvernante‹ braucht, und weil ich unzertrennlich von ihr bin –«

»So bist du auch mit hierher gegangen, direkt in die Armseligkeit hinein!« fiel er vervollständigend ein. »Du bist ein wunderliches Mädchen, behauptest, du seiest nicht für deine junge Dame eingenommen, und gehst doch mit ihr, auf gut deutsch gesagt, ›durch dick und dünn‹ ... Es muß ein Zauber, so etwas von der dämonischen Macht des Rattenfängers von Hameln in ihr stecken. – Ist sie hübsch?«

Sie bückte sich über einen Aehrenbüschel, den sie in der Hand zusammenfaßte, und zuckte die Achseln. »Was einem zu nahe steht, beurteilt man selten richtig –«

»Sphinx!« rief er, indem er ihr näher trat. »Du möchtest sie mir interessant machen mit deinen sibyllenhaften Antworten.« Er lachte frisch, aber sehr spöttisch auf. »Verlorene Liebesmühe, meine Kleine! Ihr Gouvernantennimbus reizt mich nicht – ich werde ihr aus dem Wege gehen, wo ich kann ... Aber ich habe ein anderes Verlangen – ihrem ›unzertrennlichen‹ Schatten möchte ich in die Augen sehen!«

Ehe sie sich dessen versah, hatte er mit kühner Hand Hutschirm und Tuch erfaßt und bog ihr beides aus dem Gesicht; aber in demselben Moment auch trat er in einer Art verlegenen Erschreckens von ihr weg – er hatte in ein Antlitz von überraschender Schönheit gesehen.

Sie zog mit einem Laut der Entrüstung die Verhüllung wieder über die Stirn und floh an ihm vorüber. In einiger Entfernung blieb sie indessen noch einmal stehen und sagte mit bebender Stimme über die Schulter nach ihm zurück: »Sie verspotten die Dame auf dem Vorwerk um ihrer geistigen Beschäftigung willen, und mir haben Sie eben durch Ihr Benehmen gezeigt, wie tief die Frau in Ihren Augen erniedrigt wird durch die Arbeit, der ich mich unterziehe – ist das Männerurteil?«

Damit wandte sie ihm wieder den Rücken und eilte so rasch weiter, daß sie binnen wenigen Augenblicken seinen Augen entschwunden war.[39]

Er biß sich zornig auf die Unterlippe und schleuderte die Zigarre weithin auf den Wiesenrasen ... Er begriff jetzt sich und sein Thun selbst nicht mehr, und seine Stiefmutter, die so oft schalt und böse wurde, wenn er sich über alle jungen Damen ihrer Kreise lustig machte und es mit boshaftem Spott betonte, daß es ihn stets Ueberwindung koste, die »geschnürten Mamsellchen« auch nur beim Tanzen zu berühren, sie würde wohl große Augen gemacht haben angesichts der beschämenden Situation, in die er sich selbst gebracht hatte ... Aber es war vorhin wie ein Rausch über ihn gekommen, und das Berückende hatte in der Stimme gelegen, die aus dem mystischen Dunkel der Umhüllung heraus geklungen hatte, wie ein interessantes Rätsel.

Ebenso rasch, wie er heruntergekommen war, sprang er das Balkontreppchen wieder hinauf, warf die Glasthür heftig hinter sich zu und trat grollend an eines der Fenster ... Ach was, weshalb alterierte er sich denn eigentlich in tiefster Seele? – Von all seinen Freunden verschmähte es keiner, ein hübsches Stubenmädchen oder Kammerkätzchen unter das Kinn zu fassen, gelegentlich auch einen Kuß auf eine runde, rosige Wange zu drücken, und wem wäre es je eingefallen, darin etwas Deprimierendes für den Attentäter zu finden, selbst wenn die Betroffenen protestierten und sich sträubten? War es ein Verbrechen, daß er den scheußlichen groben Strohhut und das »Scheuleder« berührt hatte? – Einzig und allein sein Blick war es gewesen, um deswillen er zurechtgewiesen worden war, wie ein Profaner, der unerlaubterweise in das Allerheiligste dringt ... Das Mädchen arbeitete auf dem Felde – mußte sie sich nicht auch dreiste Blicke gefallen lassen von jedem Handwerksburschen, der zu ihr trat, um nach dem rechten Weg zu fragen? ... Aber freilich, sie war ja auch »Kammerjungfer« auf dem Vorwerk; »die Kultur hatte sie beleckt«; sie besaß unleugbar scharfen Verstand und von Natur aus Schlagfertigkeit des Geistes, und gerierte sich deshalb nahezu als Familienangehörige des Amtmanns, obgleich sie das Grünfutter auf dem Kopfe heimschleppen und mit Hacke und Rechen auf den Aeckern und Wiesen hantieren mußte.

So sehr er sich auch bemühte, die Sache von der humoristischen Seite zu nehmen und schließlich darüber zu lachen, er wurde doch nicht Herr über das widerwärtige Gefühl, eine Lektion erhalten zu haben, die ihn zeitlebens ärgern mußte. Für heute wenigstens war ihm die Laune total verdorben ...[41]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 32-42.
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