[269] Betrachte dich, und werde, was du bist!
Ein Mann bist du, und hasts doch erst zu werden.
Weißt du vielleicht, was an dir männlich ist?
Der Körper, die Bewegung, die Geberden.
Du bist so ernst, energisch, alles Das,
Was man am Manne lobt, wenn man es findet,
Und weißt auch leicht zu überwinden, was
Ein Anderer nur mühsam überwindet.
Und doch, und doch – – o sähest du es ein! – –
Bist du noch weit entfernt, ein Mann zu sein.
Als Mann ererbtest du die heilge Pflicht,
Zu suchen, was der erste Mann verloren,
Das Paradies, und findest du es nicht,
So wurdest du für hier umsonst geboren.
Denk dich als Den, der aus dem Eden ging,
Und sinne nach, so wirst du dich erinnern.
Such nach der Heimath, die dich einst umfing;
Den Schlüssel trägst du stets in deinem Innern.
Liebst du dein Weib, so führs dort wieder ein;
Dem wahren Manne wird es möglich sein.[269]
Betrachte dich, und werde, was du bist!
Ein Weib bist du, und hasts doch erst zu werden.
Weißt du vielleicht, was an dir weiblich ist?
Der Körper, die Bewegung, die Geberden,
Du bist so fromm, versöhnlich, mild und zart;
Du liebst die Deinen, wie nur Frauen lieben.
Du warst als Kind von guter Kinder Art
Und bist so herzig, wie du warst, geblieben.
Und doch und doch – – o sähest du es ein! – –
Bist du noch weit entfernt, ein Weib zu sein.
Als Weib ererbtest du die heilge Pflicht,
Zu suchen, was das erste Weib verloren.
Das Paradies, und findest du es nicht,
So bist und hast du hier umsonst geboren.
Denk, du seist Die, die einst der Herr verstieß,
Weil sie die Himmelsliebe nicht verstanden.
Such nach der Heimath, nach dem Paradies;
Es bleibt der Liebe ewig zugestanden.
Den Mann, das Kind, führ sie dort mit dir ein;
Dem wahren Weibe wird es möglich sein.[270]
Betrachtet euch, und werdet, was ihr seid!
Ja, ihr seid Mann und Weib; ich hörs euch sagen.
Das heißt, ihr seids geworden für die Zeit,
In welcher euch die Erdenstunden schlagen.
Und wer als Christ sich zeigen will, der spricht:
Den Bund der Herzen trennen selbst die Schauer
Des Todes und des offnen Grabes nicht;
Er ward geweiht und ist von ewger Dauer.
Und doch, und doch – – o sähet ihr es ein! – –
Liegts euch noch ferne, Mann und Weib zu sein.
Als Mann und Weib ererbtet ihr die Pflicht,
Zu suchen, was das erste Paar verloren,
Das Paradies, und findet ihr es nicht,
So werden euch die Engel wohl geboren,
Die euch mit liebewarmem Kindermund
Das selige Geheimniß offenbaren:
»Das Eden« hieß die ganze Erdenrund,
Als noch die Menschen Gottes Kinder waren.
Tritt diese Gotteskindschaft wieder ein,
Dann wird das Paradies geöffnet sein.[271]
Ausgewählte Ausgaben von
Himmelsgedanken
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro