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[113] »Auff dem Hoff ißt gesessen eyn Herr von Stiegelitz, so beynahe achtzig Jahre alt gewessen ißt vnd hat gehabt eyn so überauß rothe Nasen, weyl er den Safft geliebet hat, so auß dem Faß gelauffen kompt. Daherohalben ißt ihme der Beyttel klein geworden vnd besagter Stiegelitz hat sich umbsehn müssen nach eyn Käuffer für das Gut. Da kompt eyn Wachtmeister, so unter dem Wallenstein gedient, Graff geheissen, vnd indeme derselbe Schwedenfeyndt den Hoff kaufft, nimpt er eyn Geldkatzen vom Leib vnd wirft darauß eyn[113] überauß mächtigen Hauffen Dukkaten auff den Tisch, so mann zu Kremnitz im Lande Hungarn schlägt. Solch Gewechs ißt gewessen eyn allermassen köstlich Artzneyen für dem alten Herrn seyn trucken Kehlen, vnd hat selwiger Wachtmeister von diesser Stundt geheissen der Dukkatengraff. Hab ihn auch noch gekannt, indeme er meyn zweitte Leich gewessen ißt, so ich eyn Parentation gegeben hab.«
So lautet eine Stelle aus den chronikalischen Aufzeichnungen, welche noch heute auf dem Pfarramte einzusehen sind. Der Wachtmeister ist gestorben, eine ganze Reihe seiner Nachkommen sind ihm gefolgt, aber Name und Vermögen haben sich erhalten und fortgeerbt von Kind auf Kindeskind. Die Dukatengrafen haben stets mit Stolz auf ihre Vorfahren zurück- und auf ihre Nebenmenschen herabgeblickt, sind nie umgänglich gewesen und haben auch niemals für irgend Jemandem Freundschaft und Vertrauen gezeigt.
Nur Heinrich Graf, der Letzte von ihnen, machte eine Ausnahme von dieser Regel.
Da draußen in dem kleinen, einstöckigen Häuschen wohnte eine arme Taglöhnerswittwe, die zu den Arbeiterinnen des Dukatenhofes zählte und in der freien Jahreszeit sich ihren Unterhalt mühsam mit Spitzenklöppeln verdiente. Sie hatte einen einzigen Sohn, der ein aufgeweckter, munterer Junge war, der Aermste im Dorfe, aber der Erste in der Schule. Gegensätze berühren sich. Heinrich, der Sohn des Reichsten im Orte, aber der Letzte auf der Schulbank war selten zu Hause zu treffen, sondern kroch mit dem Grunert-Franz unter dem niederen Strohdache des Häuschens herum, wo sie allerhand Romane spannen, oder strich mit[114] ihm durch Feld und Wald, eine Arbeit, zu welcher er die meiste Lust besaß. Der Arme half dem Reichen im Lesen und Schreiben, und dieser brach dafür dem Hungrigen sein Butterbrod.
Die Knaben wurden Jünglinge. Sie waren die beiden hübschesten Bursche auch über das Dorf hinaus, und gar manches Mädchen blickte mit sehnsüchtigem Herzen nach ihnen, wenn sie des Sonntags mit einander zum Tanze kamen. Die blanken Dukatenknöpfe standen dem Heinrich zum Entzücken, und wer nun gar die kostbare Uhrkette sah, die er so gern im Scheine der Lichter flimmern ließ, der verzieh es ihm, daß er noch immer wie in den Knabenjahren die meiste Zeit im Walde stak und sich wenig um den Hof bekümmerte. Er brauchte ja nicht nach dem Brode zu arbeiten wie Andere, und die Hirsche, Rehe und Hasen sind für Jedermann gewachsen. Der Franz konnte zwar keine dukatnen Ketten und Knöpfe aufzeigen, ja, er hatte nicht einmal eine Uhr, denn Alles, was er erübrigte, das gab er seiner Mutter, die nun alt geworden war und nichts mehr verdienen konnte, aber er war so nett und bildsauber, fast noch hübscher als der Heinrich, und Keiner verstand es so wie er, ein Mädchen im Kreise zu drehen, daß es schien, als gehe es mit Flügeln oder auf Federn. Und dazu war er so klug und gescheidt, daß selbst der Schulmeister gesagt hatte, er könne ihm nichts mehr lernen, besonders im Zeichnen. Daß er zuweilen des Nachts mit einem Päckchen über die Grenze schlich, das konnte ihm Niemand übel nehmen; der liebe Gott hat nicht befohlen, daß der Tabak auf der einen Ackerfurche mit acht Kreuzern bezahlt werden[115] soll, wenn er auf der andern nur einen Groschen kostet, und wer als armer Handarbeiter für eine alte Mutter zu sorgen hat, der muß dahin gehen, wo man ihn am besten bezahlt – so dachte man wenigstens allgemein.
Eine gab es, die ihm ganz besonders zugethan war, die Marie auf dem Dukatenhofe. Sie war eine vater- und mutterlose Waise, aber ein schmuckes und ordentliches Mädchen, an dem man schon seine Freude haben konnte. Wer weiß auch, was geworden wäre, denn der Franz war gar lieb und freundlich mit ihr, so daß es manche heimliche Neiderin gab, doch da trat ein Ereigniß ein, durch welches ihre Hoffnung, und nicht blos die ihrige, zu nichte gemacht wurde.
Es hatte nämlich seit einiger Zeit sowohl der Wilddiebstahl als auch die Schmuggelei in der Gegend so überhand genommen, daß die Regierung sich genöthigt sah, dem gesetzwidrigen Treiben durch scharfe Maßregeln entgegen zu treten. Das Forst- und Grenzerpersonal wurde durch Militär verstärkt, und der dasselbe kommandirende Offizier nahm sein Quartier im Dorfe, da dieses ziemlich in der Mitte der Operationslinie lag. Er war der älteste Lieutenant der Armee, hatte es während der Befreiungskriege vom Soldaten bis zur gegenwärtigen Charge gebracht, konnte auf weiteres Avancement nicht rechnen, und da er partout nicht aus dem Dienste scheiden und um eine Civilanstellung einkommen wollte, so pflegte man ihn zur Lösung von Aufgaben der vorliegenden Art zu verwenden. Und dazu war er allerdings auch grad' der rechte Mann, da sollte sich bald zeigen.[116]
Ein Lieutenant ist im Gebirge ein gar vornehmer Herr, und Niemand wagte es, ihn in Logis zu nehmen. Der Dukatengraf aber hatte nicht nur den Muth, sondern auch die Räumlichkeiten dazu, und so zog denn der alte Lieutenant mit Sack und Pack und mit Weib und Kind bei ihm ein. Er mochte sich von den beiden Letzteren nicht trennen. Und das konnte ihm auch gar Niemand übel nehmen, wie alle Jungburschen in Beziehung wenigstens auf die Tochter sofort einsahen. Sie hieß Anna und war in Allem das gerade Gegentheil von ihrem Vater. Er war Soldat durch und durch, kurz angebunden und hielt es nicht für nöthig, sich populär zu machen; man nannte ihn grob und stolz und ging ihm aus dem Wege. Dies geschah natürlich am sorgfältigsten von Denjenigen, die seine amtliche Thätigkeit zu fürchten hatten. Ganz anders aber verhielt man sich zu den beiden Frauen, die mehr als er mit den Leuten in Berührung kamen und sich sichtlich Mühe gaben, den Eindruck zu mildern, welchen die Rauhheit des Lieutenants hervorbrachte. Bald waren sie allgemein beliebt, und Anna, mit der sich kein hiesiges Mädchen messen konnte, hatte im Fluge die Herzen der männlichen Jugend erobert.
Bei dem gesunden Sinne der einfachen Menschen wurde sie durch diese Eroberungen nicht belästigt, und nur Einer hält sich für berechtigt genug, ihr seine Zuneigung offen zu zeigen – Heinrich. Sein Vater, der alte Dukatenbauer, hatte, obgleich der Lieutenant augenscheinlich nicht mit großer Habe gesegnet war, nicht das Mindeste gegen die Neigung seines Sohnes einzuwenden, vielmehr that er sein Möglichstes, dem Stammbaume der Dukatengrafen ein so[117] vornehmes Blatt beifügen zu dürfen. Er ließ seinen Reichthum im hellsten Lichte spielen, machte den Gästen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich und benutzte dann einmal eine Gelegenheit zu einer leise anspielenden Frage.
»Hätte nichts dagegen, Graf, wenn Euer Sohn 'was taugte! Ihr seid ein gemachter Mann und ich auch; wir könnten uns zusammenschicken. Aber ich habe den Heinrich auf dem Korne, Ihr werdet schon wissen weshalb, und die Anna scheint ihm auch nicht nachzulaufen. Schlagt Euch also den Gedanken aus dem Kopfe!«
So lautete die unverblümte Antwort. Der Bauer nahm seinen Sohn vor, erreichte aber bei dem eigenwilligen Charakter desselben nichts weiter, als daß Heinrich einen Haß auf den Vater des Mädchens warf, den er sich aber nicht anmerken ließ. Er besaß ein leidenschaftliches Naturell und gehörte zu denjenigen Menschen, die durch eine Weigerung nur hartnäckiger werden und dann um jeden Preis zum Ziele zu gelangen suchen. Daß Anna ihn nicht lieb haben könne, hielt er gar nicht für möglich. Er war gewohnt, bewundert zu werden, und sah in ihrer Zurückhaltung nur die natürliche Wirkung des Respektes, welchen sein Reichthum ihr einflößen mußte. Bei nächster Gelegenheit wollte er sich ihre Zusage holen, und dann war der Lieutenant ja gezwungen, nachzugeben.
Es war an einem Novemberabende. Noch lag kein Schnee, aber der Winter hatte seine Nähe schon längst durch starke Nachtsröste verkündigt, und wen nach eingebrochener Dunkelheit nicht die Nothwendigkeit hinaus in's Freie trieb, der zog es vor, in der wohlerwärmten Stube zu[118] bleiben. Um diese Zeit galt es für die Beamten und das Militär, ganz besonders wachsam zu sein, da durch den hartgefrorenen Boden das Wildern und Paschen erleichtert wurde und Niemand Gefahr lief, sich durch zurückgelassene Fußspuren zu verrathen.
Franz war wie gewöhnlich bei Heinrich auf dem Dukatenhof. Die Bewohner desselben hatten sich alle außer dem Lieutenant in der Wohnstube des Bauers zusammengefunden und kürzten sich die Zeit durch allerlei Unterhaltung. Als es zehn Uhr schlug, erhob er sich, um nach Hause zu gehen. Marie, welche genau wußte, wann er sich zu verabschieden pflegte, war vor einigen Minuten in die Küche gegangen und trat ihm draußen im Flur entgegen.
»Franz!«
»Ach so! Dich hab' ich ganz vergess'n. Gute Nacht!«
»Franz!«
»Was noch?«
»Darf ich Dir 'was sag'n?«
»Warum denn net? Ich werd' wohl hören, was!«
»Du bist jetzt ganz anders 'worden als sonst.«
»Anders? Das denkst Du blos! Ich wüßte doch net, inwiefern ich anders sein sollt'. Wie war ich denn früher und wie bin ich jetzt?«
»Geh', Franz! Du weißt, daß ich das net sag'n kann. Aber ich wollt', wir wären wieder allein auf dem Dukat'nhof!«
»Ist Dir vielleicht der alte Komm'dant net recht?«
»Der schon! Aber – –«
»Aber – –?«[119]
»Ich darf's net sag'n, Franz!«
»So sag' es mir ein andermal, wenn Du darfst. Gute Nacht, Marie!«
»Gute Nacht!«
Sie hielt seine Hand länger fest, als für den einfachen Gruß nöthig war. Früher hatte er sie ihr gelassen und oft noch ein Weilchen mit ihr geplaudert; heut' aber entzog er sie ihr und ging. Es war ihr recht weh zu Muthe; sie mochte nicht wieder in die Stube gehen und stieg hinauf in ihre Kammer.
Die Worte des Mädchens hatten ihren Eindruck auf den jungen Mann doch nicht verfehlt. Langsam und gesenkten Hauptes schritt er über den Hof und blieb, am Thore angelangt, stehen, um noch einen Blick über das Gebäude zu werfen. Da oben hinter dem kleinen Dachfenster flammte ein matter Lichtschein auf. Er wußte, von wem er herrührte. Sie wollte allein sein, weil ihr das Herz wehe that. Sie litt nicht allein. Auch er fühlte seit einiger Zeit eine Bitterkeit in seinem Innern, die ihm allen Frohsinn, alle seine sonstige Heiterkeit raubte. Hatte ihn doch die Mutter schon öfters gefragt, was ihm fehle, und er hatte zu dieser Frage geschwiegen, denn die einzige Antwort hätte doch nur die sein dürfen, welche ihm vorhin auch von Marien geworden war:
»Das kann ich Dir net sag'n!«
Er ging weiter und war dabei so in Gedanken versunken, daß er die leisen Schritte nicht vernahm, welche ihn zu erreichen strebten. Erst als eine leichte Hand sich auf seine Schulter legte, bemerkte er, daß er nicht allein sei.[120]
»Herr Grunert – –!«
Er wandte sich um und trat überrascht einen Schritt zurück, als er bei dem Sternenschimmer des unbewölkten Firmamentes Anna erkannte.
»Sie sind es?« frug er verwundert.
»Ja!« klang es mit ungewisser Stimme. »Ich muß Ihnen etwas sagen; aber kommen Sie von der Straße weg dorthin in den Schatten. Es darf mich Niemand bei Ihnen sehen, und ich glaube, Sie werden beobachtet.«
Sie schlüpfte über den Weg hinüber unter einige Bäume, welche an der anderen Seite der Straße standen. Er folgte ihr erwartungsvoll; es war ihm so eigenthümlich wie noch nie, so ängstlich, so beklommen, und doch hätte er vor Freude laut rufen mögen.
»Ich werd' beobachtet? Wer soll mich denn beobacht'n, und weshalb?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen – –«
Es war sonderbar; auch aus ihrem Munde klang diese Antwort.
»Sie dürf'n net? Aber vorhin wollt'n Sie mir doch 'was sag'n!«
»Eine Bitte ist es, die ich aussprechen möchte. Wollen Sie mir dieselbe erfüllen?«
»Gern, o wie gern! Ihnen könnt' ich nix abschlag'n!«
»So gehen Sie jetzt schlafen, wenn Sie nach Hause kommen. Gehen Sie nicht weiter!«
Er stutzte.
»Warum?«
»Weil Sie sich sonst in eine große Gefahr begeben.«[121]
Das helle Dachfenster war ihm auch von hier sichtbar; aber seine Gedanken waren jetzt ganz andere, als vorhin. Er hätte die gegenwärtige Minute um keinen Preis der Welt verkauft. Die Tochter des Offiziers war ihm heimlich nachgekommen, um ihn zu warnen. Er war ein einfaches, ungebildetes Dorfkind, aber er sagte sich, daß sie sich zu dieser Warnung nur nach einem Kampfe mit ihrem Gewissen habe entschließen können, und dieser Kampf, er hatte wegen ihm stattgefunden, wegen ihm, der es niemals gewagt hätte, aus freien Stücken mit dem schönen Mädchen nur zu sprechen.
»Und ich soll wohl net in Gefahr sein?« frug er leise und mit stockendem Athem.
»Nein!« klang es zögernd und ebenso leise.
»Warum net?«
Sie schwieg; dann bot sie ihm die Hand.
»Gute Nacht!«
Er ergriff das kleine Händchen und hielt es fest. Er wußte nicht, woher ihm so plötzlich der Muth kam, aber er frug dringender:
»Warum net, Anna?«
»Weil ich es nicht will. Also Sie bleiben zu Hause?«
»Soll ich nur die Wahrheit sag'n?«
»Ja!«
»Ich darf net zu Hause bleib'n, nun erst recht net, das bin ich den Andern schuldig. Aber Gefahr gibt's jetzt keine mehr für mich, Anna.«
»Ist das auch wahr?«
»Ja!« versicherte er einfach, aber sie hörte es dem[122] Klange dieser kleinen Silbe an, daß die Warnung ihren Zweck erreicht habe. »Und nun möcht' ich gern auch 'mal bitt'n!«
»Sprechen Sie!«
»Sein Sie mir net bös weg'n – weg'n – –«
Er stockte. In diesem Augenblicke erschien ihm das, was er vorher wirklich für kein Unrecht gehalten hatte, erst im wahren Lichte.
»Ich bin Ihnen nicht bös. Aber thun Sie es nie wieder, bitte, bitte! Wollen Sie mir das versprechen?«
Er streckte ihr beide Hände entgegen.
»Ich versprech's, Anna, ich versprech's zehnmal, hundertmal, tausendmal, aber Sie müss'n auch 'mal Franz zu mir sag'n!«
Wieder schwieg sie. Er hielt ihre Hände gefaßt und lauschte auf die Erfüllung seines Wunsches.
»Gute Nacht, Franz!« flüsterte sie endlich mit fast ängstlicher Stimme.
»Gute – –«
Er vollendete den Gruß nicht, denn vor ihnen tauchte in diesem Augenblicke eine dunkle Gestalt auf, die sich längs des Zaunes und unbemerkt in ihre Nähe geschlichen hatte. Es war Heinrich.
Er sprach kein Wort; der Grimm raubte ihm das Vermögen dazu. Aber er erhob den Arm, und von der geballten Faust mit aller Wucht gerade an der Schläfe getroffen, stürzte Franz zusammen. Anna sah es nicht; sie war, sobald sie den Dukatenprinz erblickte, heftig erschrocken davon geeilt. Dieser folgte ihr. Er wußte nicht, was er[123] gethan hatte; die Ueberlegung war ihm vollständig verloren gegangen, so daß er gar nicht an die Möglichkeit dachte, daß der Geschlagene todt sein könne. Ohne die Fliehende erreicht zu haben, gelangte er in sein Zimmer, wo er in sinnloser Wuth auf und nieder rannte.
War sein Blut einmal in Aufregung gebracht, so pflegte es sich nicht so schnell wieder zu legen; jedes neue Wort, jeder neue Gedanke brachte die Wogen in neue Wallung. Er öffnete einen Schrank, nahm eine Büchse nebst Schießbedarf aus demselben und schlich sich hinunter auf die Straße. Franz war fort.
»Hab' mir's doch gedacht, daß er net zum Tode getroff'n war. Aber das thut nix, sterben muß er dennoch! Er hat mir ja gesagt, daß es heut' ein Unternehmen gibt, und ich weiß den Ort, wo er vorüberkommen muß!«
Das Gewehr über die Schulter werfend, eilte er nach dem Walde.
Franz war nur betäubt gewesen und bald wieder zu sich gekommen. Er raffte sich empor und ging nach Hause, wo er des Vorkommnisses mit keinem Worte gedachte. Nach kurzer Zeit verließ er das Häuschen vorsichtig wieder und schritt eilenden Laufes wie Heinrich dem Walde zu.
Jedenfalls war Anna Zeugin einer dienstlichen Unterredung bei ihrem Vater gewesen, und aus ihrer Warnung ging hervor, daß heut' ein Schlag gegen die Schmuggler geführt werden solle. Obgleich das Militär noch nicht seit Langem in der Gegend war, hatte der Scharfsinn des Lieutenants doch schon die meisten der Personen errathen, welche bei dem verbotenen Grenzhandel eine hervorragende Rolle[124] spielten, und seine Anordnungen mit solcher Umsicht zu treffen gewußt, daß mehrere von ihnen bei der That getroffen und in das Gefängniß geliefert worden waren. Ging dies noch eine Weile so fort, so mußte das einträgliche Geschäft in ein langes und nachtheiliges Stocken gerathen, und die Schleichhändler sahen sich also zu ernsten Maßregeln genöthigt. Man beschloß, die gefährlichen Einzelfahrten aufzugeben und den Transport der hochbesteuerten Güter nur in größeren und wohlbewaffneten Truppen vorzunehmen. Auf diese Weise war die Sicherheit eine größere, denn man konnte es mit dem Grenzpersonale aufnehmen und es im Nothfalle sogar auf einen wirklichen Kampf ankommen lassen. So war es schon einige Male zu ernsten Zusammenstößen gekommen, bei denen es auf beiden Seiten Verwundete gegeben hatte. Heute sollte ein Hauptcoup vorgenommen werden, und da der Offizier über denselben unterrichtet zu sein schien, so war anzunehmen, daß es in den Reihen der Schmuggler einen Verräther geben müsse. Sie mußten noch rechtzeitig gewarnt werden und daher strebte Franz in heftigem, dabei aber behutsamem Laufe dem Orte zu, welcher als Versammlungspunkt dienen sollte.
Dort angelangt, fand er noch Niemand vor. Sich stets nur hart am Boden fortbewegend, rekognoszirte er die Umgebung und überzeugte sich auf diese Weise, daß auch die Gegner noch nicht eingetroffen seien. Unter einem dichten Tannengebüsch Schutz suchend wartete er nun mit ängstlicher Spannung auf das Nahen der Seinigen.
Er hatte noch nicht lange so gelegen, als er eilige Schritte vernahm. Die Person, von welcher sie herrührten,[125] konnte wohl kaum zu einer der betheiligten Parteien gehören, sonst wäre von ihr mehr Bedacht darauf genommen worden, ungehört zu bleiben. Sie mußte gerade an dem Verstecke Franzens vorüber und dieser erkannte zu seinem lebhaften Erstaunen Heinrich, der in seiner leidenschaftlichen Erregung nicht daran dachte, jedes Geräusch so viel wie möglich zu vermeiden. Das Gewehr auf seinem Rücken ließ vermuthen, daß er es auf einen Pirschgang abgesehen habe. Franz hatte damit nichts zu thun und hielt es nach dem Geschehenen und in Rücksicht auf den Zweck seines Hierseins auch gar nicht für gerathen, seine Anwesenheit zu erkennen zu geben. Nach einem kurzen Lauschen schritt Heinrich auf eine dunkle Föhrengruppe zu, hinter welcher er verschwand.
Nach einigen Minuten gewahrte Franz einen neuen Ankömmling, welcher sich aber so unhörbar herbeigeschlichen hatte, daß der verborgene Lauscher ihn erst bemerkte, als er bereits in der nächsten Nähe seines Versteckes stand. Er trug die gewöhnliche Werktagskleidung der hiesigen Landbewohner: hohe Schaftstiefel, Lederhosen und eine kurze Jacke, doch erkannte Franz trotz dieser Verkleidung den Lieutenant. Dieser stand ihm so nahe, daß er ihn mit der Hand hätte ergreifen können. Natürlich aber unterließ er dieses gefährliche Experiment und wartete leise athmend und jede Bewegung vermeidend ab, was der alte schlaue Soldat thun werde.
Seine Geduld sollte nicht zu lange auf Probe gestellt werden. Der Offizier legte die Hand an den Mund und ließ einen Laut hören, welcher dem Rufe des Uhu's gleichen[126] sollte, von dem Kenner aber augenblicklich als Nachahmung erkannt werden mußte. Es wurde ihm augenblicklich eine Antwort zu Theil, aber nicht eine solche, wie er sie erwartet hatte, sondern eine so fürchterliche, daß das Entsetzen darüber Franz sofort aus seiner liegenden Stellung in die Höhe riß: Ein Schuß krachte drüben aus den Föhren hervor; der Lieutenant griff konvulsivisch mit den Armen in die Luft, wurde von der Gewalt, welche das tödtliche Blei ausübte, um sich selbst gedreht und brach dann zusammen. Die Kugel war ihm gerade in das Herz gedrungen.
Wer hatte das gethan? Franz fragte nicht; er wußte es, denn ihm war auf einmal Alles klar. Er warf keinen einzigen Blick hinüber nach der Stelle, wo er den mörderischen Strahl hatte aufblitzen sehen, er kniete neben dem Gefallenen nieder, um zu untersuchen, ob er todt oder nur verwundet sei.
Da rauschte es heftig durch das niedere Geäst und eine Anzahl von Männern stürzten herbei, welche, sobald sie die Gruppe erblickten, sich auf Franz warfen und ihn emporrissen. Es waren Soldaten.
»Der Lieutenant ist es; der Mensch hat ihn erschossen!« rief Derjenige von ihnen, welcher den Todten zuerst erkannte.
»Bindet ihn; schnürt ihn zusammen, daß er sich nicht rühren kann!« rief er im Kreise.
Er demonstrirte gegen diese Maßregel und versuchte, ihnen den wahren Sachverhalt darzustellen; sie aber hörten nicht auf seine Vertheidigung und wollten nichts Anderes von ihm wissen, als wo er die Büchse hingeworfen habe.[127]
»Ich hab' net geschoss'n, ich hab' kein Gewehr gehabt! Wer's gewes'n ist, das hab' ich net geseh'n, sondern nur den Blitz da drüb'n in den Kiefern!«
»Ausrede!« rief der Unteroffizier, welcher das Wort genommen hatte. »Wir werden das Gewehr schon noch finden, und dann wird es sich wohl zeigen, daß es Dir gehört!«
Er untersuchte seinen regungslosen Vorgesetzten und entschied dann:
»Er ist todt, auf der Stelle todt gewesen. Wir müssen ihn hier liegen lassen bis zur gerichtlichen Feststellung des Thatbestandes. Ich transportire mit drei Mann den Gefangenen in die Stadt und mache Anzeige, der Sergeant aber mit den Uebrigen bleibt hier, um dafür zu sorgen, daß Alles genau so bleibt, wie wir es gefunden haben. Der Ort wird von Posten umstellt. Die Pascher werden ebenso wie wir den Schuß gehört haben und davon bleiben, aber wir müssen auch alles sonstige Andere zu vermeiden suchen, wodurch irgend eine Spur verwischt werden könnte.«
Es wurde dieser Anordnung sofort Folge geleistet. Man schloß einen weiten Postenkreis um den Schauplatz des Mordes, und nachdem der Unteroffizier befohlen hatte, auf Jeden zu schießen, welcher auf dreimaliges Anrufen nicht antworte und sich zurückweisen lasse, ließ er von seinen drei Leuten den Gefesselten in die Mitte nehmen und marschirte, das Gewehr schußfertig in der Hand, mit ihnen ab.
Die Kunde, der Grunert-Franz habe den Lieutenant erschossen, weil er von ihm beim Schwärzen ertappt worden sei, verbreitete sich schon am frühen Morgen wie ein Lauffeuer durch die ganze Gegend, und wer es nur möglich[128] machen konnte, der eilte zur Stelle, um Zeuge von dem Aufheben der Leiche zu sein. Der Staatsanwalt war schon vor Tagesgrauen unter Gendarmeriebegleitung angekommen, trotzdem er sich die Zeit genommen hatte, den Gefangenen erst aufzusuchen. Dieser hatte ihm den Vorgang wahrheitstreu berichtet und nur verschwiegen, was in Beziehung auf den Dukatenprinzen zu sagen gewesen wäre. Der gewissenhafte Beamte richtete seine Rekognition nach diesem Berichte ein und mußte allerdings bemerken, daß unter dem tief herabhängenden Tannigt zur Zeit der That Jemand gelegen haben müsse, wie das Geknicktsein mehrerer Zweige und deren noch frische Bruchstellen bewiesen. Auch der Ort, an welchem der Schütze gestanden hatte, wurde gefunden, doch waren die in dem verdorrten Heidelbeergesträuch befindlichen Spuren nicht der Art, daß ein weiterer Anhalt gewonnen werden konnte, ebenso wie der auf dem Moose entdeckte Pfropfen, da er aus Werg bestand, nur dazu diente, die Aussage über die Richtung des Schusses zu bestätigen.
Trotz dieser Umstände und des für ihn sprechenden Eindruckes, welchen Franz während der Verhöre auf den Untersuchungsrichter machte, mußte die Anklage aufrecht erhalten werden, da die Verdachtsmomente zu dringend erschienen und er ganz besonders über den Zweck seines nächtlichen Waldbesuches sich nicht aussprechen wollte. Eine lange Reihe von Monaten umschlossen ihn die Mauern des Gefängnisses, ehe es zur richterlichen Entscheidung kam. Der gewandte Vertheidiger stützte sich zumeist auf einen Umstand, welchem bisher nicht die gehörige Beachtung geschenkt worden war: Man hatte die Kleider des Angeklagten mit Blut bespritzt[129] gefunden; dies konnte nur dadurch möglich sein, daß er im Augenblick des Schusses sich wirklich in der nächsten Nähe des Ermordeten befunden hatte, und da es erwiesen war, daß der Schuß aus ziemlicher Entfernung abgefeuert worden war, so konnte er unmöglich der Mörder sein. Er wurde wegen mangelnder Beweisgründe freigesprochen und durfte seine Haft verlassen.
Es war an einem dunklen Abende, als er das heimathliche Dorf wieder betrat und seine Schritte nach dem Häuschen richtete, in welchem, wie er wußte, ein liebendes Herz seiner Rückkehr harrte. Wenn Alle ihn verurtheilten, Zwei thaten es nicht: die Mutter, weil sie an ihr Kind glaubte, und der Heinrich, welcher seine Unschuld kannte. Wem der Schuß eigentlich gegolten hatte, das wußte Franz, aber er brachte den jähzornigen Charakter Heinrichs und die an jenem Abende stattgefundene Ueberraschung in Rechnung, und da er trotz seiner persönlichen Ueberzeugung den Mör der mit juridischer Sicherheit nicht bezeichnen konnte, so hatte er über Heinrichs Anwesenheit im Walde geschwiegen und gab sich noch jetzt der Hoffnung hin, daß trotz des Vorgefallenen, ja gerade wegen desselben, sobald der Dukatenprinz sich dankbar erweisen wollte, die alte Freundschaft sich von Neuem befestigen werde.
Er fand die Thüre verschlossen. Sie war für Den, welcher mit der Vorrichtung vertraut war, auch von Außen zu öffnen. Er entfernte mit der untergeschobenen Hand den Riegel und trat ein.
»Mutter?« rief er, in der Stube angekommen, wo es vollständig finster war.[130]
Er erhielt keine Antwort und griff daher zu Lampe und Feuerzeug. Als der Schein der ersteren den Raum erhellte, gewahrte er eine lang ausgestreckte Gestalt, welche, von einem weißen Tuche überdeckt, auf dem Lager ruhte. Die Leuchte entfiel seiner Hand und mit einem lauten Aufschrei warf er sich über die Todte hin.
Da trat Jemand vorsichtig tappend durch den Eingang.
»Die Thür steht off'n! Ist Jemand hier?« frug eine männliche Stimme.
»Ja!« antwortete Franz mit unterdrücktem Schluchzen.
»So bist Du's selber?« Es war der Ortsvorsteher. »Ich hab' heut' vom Amte die Nachricht erhalt'n, daß Du kommst, und wollt' nur seh'n, ob Du auch schon da bist. Wirst wohl gefunden hab'n, wie's zu Hause steht. Und wenn Du etwa net weißt, wer schuld d'ran ist, so will ich Dir's sag'n: Du hast sie auf Deinem Gewiss'n!«
Franz war nicht schwach. Er hatte die lange Kerkerhast muthig ertragen; jetzt aber war es nicht nur finster in der Stube, jetzt wurde es auch finster in ihm.
Es war kein stechender, kein brennender, es war ein tauber, stumpfer Schmerz, welcher sich seiner bemächtigt hatte. Ohne zu wissen wozu und wohin, wankte er aus dem Hause und das Dorf hinab. Bei den Bäumen angekommen, in deren Schatten das Verhängniß ihn erfaßt hatte, lehnte er sich müde an einen der Stämme und gedachte des Glückes, welches damals den Pulsschlag seines Herzens verdoppelte. War sie noch hier? Oder hatte sie den Ort verlassen, welcher so traurige Erinnerungen für sie haben mußte? Er schritt dem Dukatenhofe zu, um sich diese Fragen[131] beantworten zu können. Er hatte nichts Böses gethan und Niemand konnte es ihm verwehren, wenn er Zutritt nahm wie früher. Unter dem Thore traf er auf Marie, welche eben im Begriffe stand, den Hof abzuschließen. Es war schon spät.
»Marie, Du? Gut'n Abend!«
»Franz! Wahrhaftig, es ist der Franz!« rief sie und schon rollten ihr auch die Thränen aus den Augen. »Willkommen wieder daheim! Hab'n sie Dich endlich losgeben müss'n?«
»Endlich!« seufzte er tief auf.
»Warst Du auch schon zu Haus'?«
»Ja!«
»Du armer, guter Kerle, wie magst Du da erschrock'n sein!«
»Ist hier Alles daheim?«
»Alles.«
»So laß mich ein!«
»Franz, wirst Du mir bös sein?«
»Warum?«
»Weil ich Dich bitt', lieber wieder fortzugeh'n. Oder wart' ein wenig hier auß'n, bis ich gleich wiederkomm'. Ich werd' Dir Alles erzähl'n!«
»Wart'n? Warum? Sag's gleich!«
»Die zwei Dukat'nmänner sind net gut auf Dich –«
»So?!« dehnte er. »Weshalb denn?«
»Weil – weil – Du weißt es ja!«
»Sag's lieber; ich will's hör'n!«
»Weil – weil der alte Soldat erschossen word'n ist!«[132]
»So!« dehnte er wieder, diesmal aber heiser und tief grollend. »Weiter nix?«
»Und weil – er hat nix davon gesagt, sondern ich denk' mir's nur – von weg'n der jungen Bäuerin.«
»Der Heinrich hat geheirathet?«
»Hast Du noch nix davon gehört?«
»Nein! Wer ist die Frau?«
»Du kennst sie auch. Die Anna.«
»Die Anna?« Das Blut stockte ihm in den Adern und hastig frug er: »Welche Anna?«
»Dem Lieut'nant seine.«
Er sagte nichts, aber er legte seine beiden Arme um den Thorpfeiler und preßte den Kopf an die kalten Steine desselben. Sie faßte ihn an, denn sie sah, daß er im Begriffe stand, zusammenzubrechen.
»Franz, was ist mit Dir! Komm, laß die Säule los, ich werd' Dich schon halt'n!«
Er antwortete nicht. Es war ihm, als habe ein Keulenschlag seinen Kopf getroffen; er wollte sprechen, aber er brachte es nur zu einem unartikulirten Laute, der sich mit einem fast thierischen Klange aus der zusammengeschnürten Brust emporrang.
»Franz, ich bitt' Dich, red', sag' nur ein Wort! Nachher wird es Dir wieder leicht.«
Die eine seiner Hände löste sich vom Pfeiler und legte sich auf ihren Kopf. Sie fühlte die Eiseskälte derselben selbst durch das Haar hindurch.
»Marie – – – –!«[133]
Sie konnte sich nicht länger halten und schlang inbrünstig die Arme um ihn.
»Laß 's doch geh'n, Franz! Ich hab' Dich ja lieb, mehr als mein Leb'n!«
»Ich weiß 's! Du bist die Einzige, die net an mir gezweifelt hat, und das werd' ich Dir niemals vergess'n. Sogar die Mutter hat's geglaubt, was die Leut' geredet hab'n, sonst hätt' ich sie heut net todt gefund'n. – Marie, Du weißt's net, wie mir ist, hier und hier« – er deutete nach der Stirn und dem Herzen – »meine Seele ist weg und meine Gedank'n sind alle; es ist grad', als ob ein Mühlrad mir durch's Leb'n gegangen wär'.«
»Das wird wieder anders, Franz, wenn nur 'mal die erst'n Tag' vorüber sind! Aber wo willst Du denn bleib'n? Zu Haus' bei der Leich' kannst Du doch net sein!«
»Wo anders? Wer soll den Mörder in die Stube nehm'n?!«
»O, wenn ich doch nur net Dienstbot' wär', ich ließ' Dich nimmer fort. Geh' doch 'mal zum Herrn Pfarrer! Der weiß in Allem Rath und wird auch für Dich sorg'n.«
»Ich brauch' kein' Pfarrer, brauch' keinen Mensch'n, brauch' von Niemand nix. Ich geh' nach Haus'. Bei der Leich', da ist mein Platz; zur Leich', da gehör' ich hin, denn ich bin auch todt!«
Er ging. Das sich ängstigende Mädchen wollte ihn noch zurückhalten, aber er wehrte ihr ab.
»Brauchst keine Sorg' zu hab'n, Marie! Es ist mir[134] wüst im Kopf, aber ich weiß schon noch, was ich thu'. Schlaf wohl!«
»Gute Nacht, Franz, und laß Dir das Herz doch wieder leichter werd'n!«
Sie blickte ihm nach, so weit sie bei der Dunkelheit es konnte, und schloß das Thor nicht eher zu, als bis der Klang seiner Schritte vollständig verschollen war. In das Haus zurückgekehrt, traf sie auf den jungen Bauer, welcher im Begriffe stand, die Wohnung durch den hinteren Ausgang zu verlassen. Er hatte die hohen Stiefel an und trug einen langen, unter einem Tuche verborgenen Gegenstand in der Hand. Sie wußte, daß er zum nächsten Mittag Wildpret geben würde.
Franz hatte die Straße nicht weit verfolgt; es trieb ihn unwiderstehlich, das, was er gehört hatte, mit eigenen Augen zu schauen. Er bog um das Gut herum und schlich sich durch den Garten nach dem Hofraume, in welchen die hinteren Fenster der Wohnstube führten. Nur mit seinen trüben Gedanken beschäftigt, gewahrte er nicht, daß eine Gestalt ihm folge, die ihn bei dem Uebersteigen des Zaunes bemerkt hatte. Die Stube war erleuchtet und am Tische saßen zwei mit Näharbeit beschäftigte Frauen. Er trat näher; er mußte sie deutlicher sehen, sie, an die er gedacht hatte zu jeder Stunde seines einsamen Gefängnißlebens. Man rückte drinnen die Lampe und ein heller Lichtstrahl glitt über ihn dahin. Jetzt erst erkannte sein Verfolger, wen er vor sich habe.
»Der Franz!« murmelte er. »Er ist wieder da – sie hab'n ihn frei gegeb'n! Er will die Anna seh'n. Nun weiß[135] er, daß sie meine Frau geword'n ist und wird mich verrath'n! Soll ich ihn jetzt wegputz'n?«
Er nahm das Tuch vom Gewehr und legte an; aber nach einigen Augenblicken ließ er die Waffe wieder sinken.
»Nein, der Dukat'n-Heinrich ist net so dumm, daß er sich einsteck'n läßt und nachher seinen Kopf hergibt! Ich weiß was Besser's, wie man den Franz zum Schweig'n bringt.«
Es war ein teuflischer Gedanke, der ihn erfaßt hatte. Das Terrain war ein von dem Hofe nach dem Garten zu ansteigendes, und in der Nähe des Fensters lagen die abgesägten Stämme zweier Obstbäume, die man ihres Alters wegen vor kurzer Zeit gefällt hatte. Jetzt hatte die eigene Schwere sie noch nicht zu tief in den Boden gedrückt, und es bedurfte also nicht mehr als Manneskraft, einen von ihnen in's Rollen zu bringen. Einmal in Bewegung gesetzt, mußte er bis an die Mauer rollen und den dort stehenden Beobachter treffen.
Ahnungslos, welch' eine furchtbare Gefahr ihm drohe, hing dieser mit dem Auge an dem lieblichen, jetzt aber tiefblassen Gesichte der so heiß Geliebten. Was hatte sie bewogen, dem Mörder ihres Vaters ihre Hand zu geben? War es vielleicht die Liebe gewesen? Er konnte keinen anderen Grund finden, er konnte überhaupt gar nicht sinnen und denken, er fühlte nur, daß es finster in ihm werde, finsterer noch, als es vorhin gewesen war. Da vernahm er ein lautes Getöse, unter welchem der Boden erzitterte, hinter sich – rasch drehte er sich um – ein schmetternder Schlag gegen die Mauer ließ das Haus erbeben – ein[136] furchtbarer, markerschütternder Schrei erschallte durch die Nacht – die That war geschehen.
Der alte Dukatenbauer fuhr, von dem Lärmen aus dem Schlummer geweckt, von seinem Großvaterstuhle empor; auch die beiden Frauen waren, auf das Heftigste erschrocken, in die Höhe gesprungen; das Gesinde, welches sich vor Kurzem erst zur Ruhe begeben hatte, eilte herbei, und auch Heinrich erschien unter der Thüre.
»Was ist denn hier unten los bei euch?« frug er. »Das war doch grad', als ob's ein Erdbeben gegeb'n hätt'!«
»Es war net bei uns, es war drauß'n im Hofe,« lautete die Antwort.
»So müss'n wir nachseh'n. Brennt rasch die Latern' an!«
Man folgte dem Gebote und eilte dann hinaus, wo sich den Leuten ein entsetzlicher Anblick bot: Zwischen dem zurückgeprallten Klotze und der Wand lag in einer tiefen, rauchenden Blutlache ein menschlicher Körper, dem die Beine bis herauf an den Leib vollständig zermalmt worden waren.
»Was ist hier gescheh'n? Wer ist der Mann?« frug der Bauer.
Heinrich nahm dem Knechte die Laterne aus der Hand und leuchtete dem Verunglückten in das Gesicht.
»Der Franz ist's, der Grunert-Franz!« rief er verwundert. »Was hat der hier gewollt? Ist er denn wieder los vom Amte?«
»Den hat das Holz erschlag'n. Er ist ihm zu nah' gewes'n und da hat es ihn mit fortgeriss'n. Spannt rasch[137] ein Pferd vor den Wag'n und fahrt nach dem Doktor. Vielleicht ist er noch net todt!«
»Der Franz? Mein Herrgott, ist das wahr?« rief Marie, indem sie die Anderen zurückdrängte. »Ja, er ist's! Franz, Franz, was ist mit Dir gescheh'n! O, wärst Du doch nach Haus gegang'n!«
Sie warf sich trotz des fließenden Blutes über ihn hin und wehrte die Arme zurück, welche sie von ihm wegziehen wollten.
Auch Anna war mit nach dem Hofe geeilt. Als sie den Namen des Zerschmetterten nennen hörte, riß es ihr die Hände nach dem Herzen. Nur ein leiser Wehelaut entrang sich ihren Lippen, aber es wurde ihr dunkel vor den Augen, die Gestalten der Umstehenden verschwanden in wirbelnden Nebeln, sie wankte und glitt langsam an dem Hause nieder.
Heinrich sah sie liegen. Er faßte sie und zog sie empor.
»Was ist denn das mit Dir? Hat Dich wieder 'mal der Herzwurm angebiss'n! Dem Franz ist nix als nur sein Recht gescheh'n. Sie hab'n ihn losgelass'n, weil er sich auf's Leugnen gelegt hat, aber wer Mensch'nblut vergießt, dess' Blut wird auch vergoss'n; so steht es in der Bibel, und was die sagt, das ist wahr. Geh' Du hinein, Du bist uns hier nix nütze!«
Er führte sie in die Stube, wo sie kraftlos in den Sessel sank. Das Gesicht in die Hände vergraben, legte sie den Kopf auf den Tisch und ließ den Thränen freien[138] Lauf, die sich zwischen den Fingern Bahn brachen und schwer und langsam auf die Diele niedertropften. Ihr blühendes Leben war seit Monaten schon welk geworden, und heut', heut' hatte es den schwersten Stoß erhalten.
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