Das Heute

[51] Das Heut ist einem jungen Weibe gleich.

Schlag Mitternacht wird ihm die Wange bleich.

Es schaudert. Einen vollen Becher faßt

Es gierig noch und schlürft in toller Hast.

Der üpp'ge Mund, indem er lechzt und trinkt,

Entfärbt sich und verwelkt. Der Becher sinkt.

Langsam zieht es den Kranz sich aus dem Haar.

Das Haar ergraut, das eben braun noch war,

Tief runzelt sich das schöne schuld'ge Haupt,

Zusammenbricht das Knie, der Kraft beraubt.

Die Horen kleiden dicht in Schleier ein

Und führen weg ein greises Mütterlein.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 51.
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