An den West

[165] 1772.


Bald wirst du junger West nicht mehr,

Die Wangen mir zu kühlen,

Am stillen Abend um mich her

Mit leisem Fittich spielen.

Ich liebte Daphnen; mein Geschick

War, einsam mich zu quälen,

Und, was ich fühlte, vor dem Blick

Des Mädchens zu verhehlen.


Nicht Gold und Silber schmückten mich,

Doch Redlichkeit im Busen,

Ein Herz, das keinem Laster wich,

Und eure Gunst, ihr Musen!

Zu wenig nur für diese Welt,

Sich Liebe zu erlangen!

Ach, euren Blick, ihr Mädchen, hält

Nur Außenglanz gefangen!


Zwar dich, o Daphne, nicht! Doch giebt

Ein Vater dir Gesetze,

Der deine Ruhe minder liebt,

Als Unverdienst und Schätze.

Oft sah mein Auge seitwärts hin

Nach dem geliebten deinen,

Da sah ich Zärtlichkeit darin,

Und dich verstohlen weinen.[165]


O Daphne, laß nur einmal noch

Mich den Gedanken denken:

Du würdest, frei vom harten Joch,

Mir deine Seele schenken!

Bald wird mir der Gedank' allein

Den Todestrank versüßen,

Und einen Tropfen Trost darein,

Wann ich ihn trinke, gießen.


Dann soll mich hier, wo schon, der Wut

Des Mißgeschicks entrissen,

Ein Liebling meiner Seele ruht,

Ein Grab mit ihm verschließen.

Laß deinen leisen Fittich dann,

O Zephyr, sanfter wehen,

Und Tausendschön und Thymian

Auf meinem Grab entstehen!


Ich sang, ihr Blümchen, eure Zier

Hienieden mit Entzücken,

Und willig also werdet ihr

Des Dichters Hügel schmücken!

Oft wird mein Damon stumm und bleich

Sich auf den Hügel setzen,

Und mit der Liebe Thränen euch

Im Mondenschein benetzen.


Vielleicht kömmt dann auch Daphne her,

Die mich im stillen liebte,

Und klagt im öden Feld umher,

Wie sie mein Tod betrübte.

Sie drückt vielleicht, mit bangem Schmerz

Und wehmutsvollen Tönen,

Euch an ihr unbescholtnes Herz,

Und netzet euch mit Thränen.[166]


Gelinde flattre dann, o West,

Das Mädchen zu erfrischen,

Und Thränen, die der Gram erpreßt,

Ihr vom Gesicht zu wischen!

Ich aber singe dann aus dir,

Geliebte Philomele,

Und gieße milde Tröstung ihr

In die betrübte Seele.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 165-167.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

98 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon