An Lieschen

[218] Ein Baurenlied.


1773.


Liebes Lieschen, laß mich doch

Nur ein wenig klagen!

Eile nicht, ich habe noch

Vieles dir zu sagen.


Seit der Ernte bin ich dir

Täglich nachgeschlichen;

Aber listig bist du mir

Immer ausgewichen.


Sieh, ich bin dir gut, und du

Hältst mich immer schlechter;

Ja, ich werde noch dazu

Allen zum Gelächter.[218]


Weißt du noch? Am Erntetanz

Sprangest du so munter,

Und da fiel der Blumenkranz

Dir vom Kopf herunter.


Husch! da griff ich eilends zu,

Dachte voll Entzücken,

Für die Mühe würdest du

Dankbarlich mir nicken.


Losgegangen war ein Band,

Das ergriff ich sachte,

Bis ich's langsam mit der Hand

Auf die Seite brachte.


Holla! dacht' ich, meinem Hut

Soll es trefflich stehen;

Doch du hattest gar zu gut,

Was ich that, gesehen.


»Das ist schön!« so fingst du an,

»Willst du mich bestehlen?

Seht den feinen Dieb! Er kann

Seinen Raub nicht hehlen.«


Feuerrot ward mein Gesicht;

Wie vom Blitz geschlagen

Stand ich da, und konnte nicht

Eine Silbe sagen.


Alle Bauren stellten sich

Um mich her und machten

Mich zu schanden, nannten mich

Einen Dieb und lachten.


Lieschen, sieh, das war nicht fein,

Meiner so zu lachen,

Und mich vor dem ganzen Reihn

Zum Gespött zu machen.[219]


Sage, hast du denn bei dir

Solche Lust empfunden,

Als die hellen Zähren mir

In den Augen stunden?


Sieh, ich bin dir doch so gut!

Sei mir's auch ein bißchen!

Mehr noch, als mein eigen Blut,

Lieb' ich dich, mein Lieschen!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 218-220.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hume, David

Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes

Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes

Hume hielt diesen Text für die einzig adäquate Darstellung seiner theoretischen Philosophie.

122 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon