Im Fieber

[42] Ich lag in Fieberphantasien ...

Aus allen Ecken wuchs es her ...

Wohin ich sah, ich sah nur Ihn,

wohin ich tastete, war Er ...

Die Tücher, die Tapeten liehn

ihm ihrer Muster Fratzenmeer ...

Und schloß ich fest die Lider, schien

sein Aug' in meines weit und leer.


Ein Opfer wilder Bilderreihn

entschlief ich endlich. Mich umspann,

mich spornte rittlings sein Gebein

durch Felsenwüsten glutwindan ...

Verzehrend fraß sein Frost sich ein,

indes mich Blutschweiß überrann,

und auf Geröll und spitzem Stein

der wunde Fuß nicht Weg gewann.


Doch nicht ein Fristchen durft' ich ruhn.

»Wir müssen« – stachelte sein Hohn –

»Zum Richter über all dein Tun,

der Weg ist weit nach seinem Thron.

Gebucht, in klaftertiefen Truhn,

erharrt dich dort, wofür dich Lohn

und Strafe wird ereilen nun:

Bereite dich, verlorner Sohn!«
[43]

Da ging die Stubentür, und leis

umklang mein Bett ein sanfter Schritt,

und eines Stirnbands kühlend Eis

erlöste mich vom grausen Ritt.

Doch ehe noch ein Wort dem Kreis

der Wirrgedanken sich entstritt,

verschob schon wieder sich das Gleis

und neuer Traumgang riß mich mit.


Wie anders aber war das Bild,

das nun mein Fiebergeist entband!

Mein liebster Freund umfing mich mild

und hob mich von des Lagers Rand.

Aus Zweigen harrte mein ein Schild:

Drauf trug mich vierer Fremden Hand

wie ein erbeutet Edelwild

hinaus ins sommerliche Land.


Wer waren sie? wo lief ihr Pfad?

Sie stürmten voll erhabner Wucht ...

bis, wo ein Lärm vollbrachter Mahd

herklang aus stiller Waldesbucht.

Noch rollte hoch das Sonnenrad,

doch schon geschnitten lag die Frucht;

denn Wolken drohten Blitz und Bad:

Und alles war schon helle Flucht.
[44]

Dort setzten sie aufs hohe Korn

die Bahre ab. Noch stand sie nicht:

Da schoß schon goldner Wetterzorn:

Ein Glutstoß stob die Ährenschicht.

Mein Herz stand still vom scharfen Dorn.

Es sank der Erde höchst Gedicht,

der Mensch, zurück in ihren Born,

als Asche, Wasser, Luft und Licht.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 42-45.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Auf vielen Wegen
Christian Morgenstern. Sämtliche Dichtungen / Auf vielen Wegen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Blumen und andere Erzählungen

Blumen und andere Erzählungen

Vier Erzählungen aus den frühen 1890er Jahren. - Blumen - Die kleine Komödie - Komödiantinnen - Der Witwer

60 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon