Im Weinberg

[754] Droben im Weinberg, unter dem blühenden Kirschbaum saß ich

Heut, einsam in Gedanken vertieft; es ruhte das Neue

Testament halboffen mir zwischen den Fingern im Schoße,

Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten Herzen –

Ach! du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!)

Lang so saß ich und blickte nicht auf; mit einem da läßt sich

Mir ein Schmetterling nieder aufs Buch, er hebet und senket

Dunkele Flügel mit schillerndem Blau, er dreht sich und wandelt

Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender Sylphe?

Lockte die purpurne Decke dich an, der glänzende Goldschnitt?

Sahst du, getäuscht, im Büchlein die herrlichste Wunderblume?

Oder zogen geheim dich himmlische Kräfte hernieder

Des lebendigen Worts? Ich muß so glauben, denn immer

Weilest du noch, wie gebannt, und scheinst wie trunken, ich staune!

Aber von nun an bist du auf alle Tage gesegnet!

Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen;

Ja, wohin du künftig die zarten Füße wirst setzen,

Tauet Segen von dir. Jetzt eile hinunter zum Garten,

Welchen das beste der Mädchen besucht am frühesten Morgen,

Eile zur Lilie du – alsbald wird die Knospe sich öffnen

Unter dir; dann küsse sie tief in den Busen: von Stund an

Göttlich befruchtet, atmet sie Geist und himmlisches Leben.

Wenn die Gute nun kommt, vor den hohen Stengel getreten,

Steht sie befangen, entzückt von paradiesischer Nähe,

Ahnungsvoll in den Kelch die liebliche Seele versenkend.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 754.
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