2.

[161] Fern in Osten wird es helle,

Graue Zeiten werden jung;

Aus der lichten Farbenquelle

Einen langen tiefen Trunk!

Alter Sehnsucht heilige Gewährung,

Süße Lieb' in göttlicher Verklärung.


Endlich kommt zur Erde nieder

Aller Himmel sel'ges Kind,

Schaffend im Gesang weht wieder

Um die Erde Lebenswind,

Weht zu neuen ewig lichten Flammen

Längst verstiebte Funken hier zusammen.
[161]

Ueberall entspringt aus Grüften

Neues Leben, neues Blut,

Ew'gen Frieden uns zu stiften,

Taucht er in die Lebensfluth;

Steht mit vollen Händen in der Mitte

Liebevoll gewärtig jeder Bitte.


Lasse seine milden Blicke

Tief in deine Seele gehn,

Und von seinem ewgen Glücke

Sollst du dich ergriffen sehn.

Alle Herzen, Geister und die Sinnen

Werden einen neuen Tanz beginnen.


Greife dreist nach seinen Händen,

Präge dir sein Antlitz ein,

Mußt dich immer nach ihm wenden,

Blüthe nach dem Sonnenschein;

Wirst du nur das ganze Herz ihm zeigen,

Bleibt er wie ein treues Weib dir eigen.


Unser ist sie nun geworden,

Gottheit, die uns oft erschreckt,

Hat im Süden und im Norden

Himmelskeime rasch geweckt,

Und so laßt im vollen Gottesgarten

Treu uns jede Knosp' und Blüthe warten.

Quelle:
Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Band 1, Stuttgart 1960–1977, S. 161-162.
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