14.

[175] Wer einmal, Mutter, dich erblickt,

Wird vom Verderben nie bestrickt,[175]

Trennung von dir muß ihn betrüben,

Ewig wird er dich brünstig lieben

Und deiner Huld Erinnerung

Bleibt fortan seines Geistes höchster Schwung.


Ich mein' es herzlich gut mit dir.

Was wir gebricht, siehst du in mir.

Laß, süße Mutter, dich erweichen,

Einmal gieb mir ein frohes Zeichen.

Mein ganzes Daseyn ruht in dir,

Nur einen Augenblick sey du bei mir.


Oft, wenn ich träumte, sah ich dich

So schön, so herzensinniglich,

Der kleine Gott auf deinen Armen

Wollt' des Gespielen sich erbarmen;

Du aber hobst den hehren Blick

Und gingst in tiefe Wolkenpracht zurück:


Was hab' ich, Armer, dir gethan?

Noch bet' ich dich voll Sehnsucht an,

Sind deine heiligen Kapellen

Nicht meines Lebens Ruhestellen?

Gebenedeite Königinn

Nimm dieses Herz mit diesem Leben hin.


Du weißt, geliebte Königinn,

Wie ich so ganz dein eigen bin.

Hab' ich nicht schon seit langen Jahren

Im Stillen deine Huld erfahren?

Als ich kaum meiner noch bewußt,

Sog ich schon Milch aus deiner selgen Brust.


Unzähligmal standst du bei mir,

Mit Kindeslust sah ich nach dir,

Dein Kindlein gab mir seine Hände,[176]

Daß es dereinst mich wieder fände;

Du lächeltest voll Zärtlichkeit

Und küßtest mich, o himmelsüße Zeit!


Fern steht nun diese selge Welt,

Gram hat sich längst zu mir gesellt,

Betrübt bin ich umher gegangen,

Hab' ich mich denn so schwer vergangen?

Kindlich berühr' ich deinen Saum,

Erwecke mich aus diesem schweren Traum.


Darf nur ein Kind dein Antlitz schaun,

Und deinem Beistand fest vertraun,

So löse doch des Alters Binde

Und mache mich zu deinem Kinde:

Die Kindeslieb' und Kindestreu

Wohnt mir von jener goldnen Zeit noch bei.

Quelle:
Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Band 1, Stuttgart 1960–1977, S. 175-177.
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