VI. Trennungen

[95] »Und ich sah's, und habe sinnend

An das Einst und Jetzt gedacht:

An ein Leben, das beginnend,

Und ein Leben, das vollbracht. –«

Eduard Mautner.


Elisabeth und Pauline waren die Wohlthäterinnen des kleinen Mädchens geworden, welches bei jener Gartenscene, wo es nach Mamsell Paulinchen gefragt hatte, so arg von den Pensionärinnen verhöhnt worden war. Durch diese mein schaftliche Handlung hatten sich jene Beiden einander sehr genähert, und einander liebgewonnen, indem sie sich gegenseitig, was unter Mädchen so zarten Alters allerdings selten ist, mehr Achtung abnöthigten, als sich gerade Vertrauen zollten. Die arme Christiane, so hieß das Mädchen, welches Paulinens Schützling war und in Thalheims Dienst stand, hatte zuweilen ein Wort über dessen häusliches Unglück fallen lassen, welches Elisabeth auf's Schmerzlichste erschütterte. »Ach,« sagte sie dann wohl zu Paulinen, »hast Du es gesehen, um wie viel ernster und bleicher er[95] jetzt geworden ist? – So tief kann Armuth allein einen solchen großen Menschen nicht beugen, eher, eher kann dies vielleicht – unglückliche Liebe.«

»Kennst Du die Macht der Liebe?« sagte Pauline. »Mir klingt das Wort wie aus einem Mährchenlande, darin es wunderbare Formeln giebt, die man wohl niemals zu lösen vermag, ja, welche vielleicht nicht einmal eine Lösung haben – aber die Macht der Armuth, der bin ich schon hundertfach im Leben begegnet – ich glaube, das ist eine furchtbare Gewalt, welche aus guten Menschen Verbrecher machen kann, aus sanften Charakteren wüthende und erbitterte, eine Macht, welche auch die größten Geister so herabdrücken kann, daß sie ganz und gar von dem Staube, der sie wider ihren Willen herabzieht und seine Rechte fordert, bedeckt und überwältigt werden.«

Es war im Garten, wo die beiden Mädchen so allein in einer Laube sprachen – sie bemerkten nicht, wie Thalheim während Paulinens Rede sich ihnen genähert hatte; noch verbargen ihn grüne Ranken halb – auch hatten die Mädchen ihre Augen auf den Boden geheftet, und sahen Beide sinnend nieder. Elisabeth drückte Paulinens Hand, indem sie sagte:

»Vielleicht hast Du Recht – was ich Liebe nenne, muß immer nur erheben können, ja, beseligen, allein durch sich[96] selbst – aber die Armuth muß niederdrücken, ja vielleicht gar vernichten.«

»Aber es ist auch ein Segen darin für die Andern,« begann Pauline. »Siehst Du, wen Liebe unglücklich macht, den muß man es schon sein lassen – aber wer durch Armuth unglücklich ist, dem kann man helfen – darum freue ich mich darauf, wenn ich in das Vaterhaus komme, ich werde dort wohl den Armen, denen mein Vater Arbeit und Brod giebt, noch manche Wohlthat erzeigen können. Wenigstens soll dies mein Streben sein – es wird dort in der friedlichen Einsamkeit mein Glück ausmachen. Die Gefährtinnen hier haben oft gesagt, daß ich mit ihnen Nichts gemein habe, daß ich zu den Niedriggeborenen gehöre – so will ich es beweisen, daß es mein Stolz sein soll, eine Schwester dieser Armen zu sein.«

Thalheim hatte mit einem schmerzlichen Lächeln diese naiven Worte eines unschuldigen Kindes angehört, welches es sich so leicht dachte, Elend zu lindern – aber um so mehr rührte ihn diese edle kindliche Gesinnung, und indem er jetzt vortrat, sagte er:

»Pauline – versprechen Sie es in die Hand Ihres Lehrers, niemals diesem edlen Vorsatz untreu zu werden – versprechen Sie es mir, wenn nicht die Schwester, doch die Freundin der Armen und Niedriggeborenen zu sein, und niemals die schönen Regungen des Mitgefühls dadurch ersticken[97] zu lassen, weil Sie vielleicht gewaltsam daran gewöhnt werden, das Elend um sich zu sehen, weil Sie vielleicht eines Tages sich sagen werden: was ich thun kann, um die Noth zu verringern, ist nur ein Tropfen, den ich hinwegschöpfe von der Fluth des Unglücks, die Alles überschwemmt – – versprechen Sie mir das in dieser Stunde, wo ich Sie vielleicht zum letzten Male sehe!«

»Gewiß, ich verspreche es!« sagte Pauline gefühlvoll, indem sie ihre Hand in die seinige legte, die er ihr bot.

Aber Elisabeth blieb regungslos sitzen, und sah ihn starr an, keines Wortes fähig.

Er fühlte diesen Blick, verstand, was er fragte, und sagte erklärend: »Ja, ich komme, um Abschied zu nehmen. Man hat mich aufgefordert, ein paar junge Leute auf Reisen zu begleiten – ich fand es unnöthig, vorher davon zu sprechen – ich habe den Stellvertreter gefunden, der mich bei Ihnen ersetzt, und bin nun im Begriff, in wenig Tagen abzureisen.«

Elisabeth war todtenblaß geworden – sie senkte ihre Augen nieder, öffnete ihre Lippen, als ob sie sprechen wollte, brachte aber kein Wort heraus.

»Auch für Sie,« sagte er, indem er sich zu Elisabeth wandte, »habe ich ein letztes Wort. Sie werden dem Lehrer eine aufrichtige Mahnung gestatten – besonders jetzt, wo wir ohne fremde Zeugen sind, und wo ich von ihnen scheide,[98] wo Sie bald meiner nur vielleicht wie eines ernsten Traumbildes gedenken werden.«

Sie winkte ihm mit einem flehenden Blick, zu reden, aber selbst vermogte sie Nichts zu sagen. Ihr Herz schlug laut und stürmisch, ihre Züge versuchten umsonst, die leisen Schauer, welche über Stirn und Wangen glitten, durch den Ausdruck der Ruhe zu verscheuchen.

»Meine erste Bitte,« sagte Thalheim, »ist an Beide. Versprechen Sie mir, einander Freundinnen zu bleiben! – Ich war überrascht, aber erfreut, als ich diesen Bund entstehen sah – versprechen Sie mir, ihn niemals zu lösen. Sie, Pauline, bedürfen es, an ein starkes, muthiges Herz sich zu schließen, und Sie, Elisabeth, bedürfen eine sanfte und milde Seele, um sich ausruhend an sie zu schmiegen – darum müssen Sie beisammen bleiben.«

Elisabeth umarmte Paulinen und Beide sagten: »Wir geloben Alles!« – »Alles, was Sie gebieten,« fügte Elisabeth erröthend hinzu.

»Vielleicht,« sagte Thalheim, »wird dieser Bund nicht ohne Prüfungen sein – und gerade deshalb freut er mich. – Sie werden Beide stark genug sein, sie zu bestehen, Sie werden zu stolz sein, um Ihre Neigung irgend einem Vorurtheile aufzuopfern – wenn Sie das Leben kennen lernen, so werden Sie finden, daß immer das Beste den größten Kampf kostet aber auch nur das Beste ihn verdient[99] – dann wird es gut sein, wenn Sie sich vorher geübt.«

Er nahm Elisabeths Hand, sie zitterte krampfhaft in der seinen, er hielt sie so fest, daß sie nicht mehr zittern konnte, und sagte: »Sie schrieben einmal einen Aufsatz über das Bibelwort: ›Wem Viel gegeben, von dem wird man Viel fordern‹ – beherzigen Sie das wohl – machen Sie die großen Erwartungen wahr, zu denen Ihr Charakter berechtigt – und nun leben Sie wohl, und weihen Sie mir zuweilen einen Augenblick freundlicher Erinnerung.«

»Leben Sie wohl,« sagte Pauline unter Thränen, »wir werden Sie niemals vergessen, wir werden oft zusammen von Ihnen sprechen, vergessen Sie auch Ihre Schülerinnen nicht ganz.«

»Leben Sie wohl,« antwortete Elisabeth – sah ihn noch mit einem unaussprechlichen Blick an, und wie er ihre Hand los ließ, warf sie sich an Paulinens Brust.

Thalheim verließ schnell den Garten.

Jetzt erst brach Elisabeth in lautes Schluchzen aus – nach einer Weile sagte sie: »Es kann, es darf nicht sein!«

In diesem Augenblick kam Aurelie in den Garten und in die Laube. »Ei,« sagte sie lachend, »Ihr befindet Euch ja in einer ganz besonders zärtlichen Stellung – wenn diesem weinerlichen Duo etwa ein schmachtendes Finale vorhergegangen, wobei Thalheim, wie die Theaterkritiker sagen,[100] einen glänzenden ›Abgang‹ gehabt, so bin ich froh, daß er von mir in corpore mit den andern Mädchen Abschied genommen, und mir nicht die Auszeichnung mit Euch zu Theil geworden ist.«

Die Beiden würdigten sie keiner Antwort. Dies gefühllose Geschwätz Aureliens drängte diese vollends und für immer aus Elisabeths Herzen.

»Nun, das ist ja allerliebst,« fuhr Aurelie spöttisch fort, »die Damen sind nicht einmal mehr so höflich, zu antworten, und ich kam gutmüthig genug hierher, um Dir, Elisabeth, zu sagen, daß ich mich wahrscheinlich verloben werde.«

»Was ist das wieder für ein schlechter Spaß?« fragte Elisabeth ärgerlich, und nachdem sie hastig ihre Thränen zurückgedrängt hatte.

»Gar kein Spaß – da ist der hübscheste Liebesbrief, das formellste Anhalteschreiben vom Baron von Füßly, derselbe, der sich auf den ersten Blick im Theater sterblich in mich verliebt hat, mich dort öfter gesehen, und im letzten Conzert so Viel mit mir gesprochen hat. Er weiß, daß heute mein Theatertag ist, und wenn ich ihm Hoffnung gebe, soll ich eine rothe Rose anstecken, außerdem eine weiße. Nach diesem Zeichen meines Einverständnisses will er bei meinen Eltern um mich anhalten. Ist das nicht allerliebst, mit sechzehn Jahren schon die Braut eines so zierlichen Herrn[101] zu sein? Damit er ja keinen Zweifel hat, will ich lieber gleich einige rothe Rosen anstecken, und um mir diese zu holen, kam ich eigentlich herab.«

»Aber Aurelie – Du wirst doch keine leichtsinnige Uebereilung begehen?« sagte Elisabeth warnend.

»Laß jetzt Deinen Gouvernantenton, er macht keinen Eindruck auf mich, und ich habe jetzt nicht einmal Zeit, Dich anzuhören, denn meine Toilette muß heute besonders niedlich werden, und da brauch' ich wenigstens ein paar Stunden Zeit, und habe also gar keine dazu übrig, langweilige und abgeschmackte Moralpredigten anzuhören.«

Und indem sie dies sagte, entfernte sich Aurelie trällernd und tänzelnd.

»Pauline,« sagte Elisabeth, »ich muß Thalheim noch ein Mal sehen – noch ein Mal wenigstens! – Laß die kleine Christiane herkommen, wir können uns von ihr ja Blumen bringen lassen – sie muß dann für uns erfahren, wann Thalheim, und auf welcher Straße er abreis't – das Weitere wird sich finden.«

Ein paar Tage waren vergangen – der Morgen von Thalheims Abreise war angebrochen. Es war noch sehr früh. Amalie hatte ihm zum letzten Mal das Frühstück bereitet, sie war ihm freundlich behilflich, wie er sich reisefertig machte, aber sie sprachen Wenig zusammen. Die kleine Anna schlief noch sanft in ihrem kleinen Bettchen. Sie[102] hatte sich die Wangen roth geschlafen, und ihr rechtes Händchen ruhte auf ihren goldnen Locken – so glich sie einer rosigen frischen Apfelblüthe mit goldenen Fäden. Der Vater neigte sich auf das Bettchen, ganz verloren in den holden Anblick des theuern, einzigen Lieblings – eine Thräne fiel aus des Vaters Augen.

Ach diese Thräne! Wie viel Sorgen und Schmerzen lagen nicht darin, wie viel bange Fragen an das Schicksal ohne Antwort, wie viel stumme Gebete gen Himmel.

Er zog seine Hand an die andere Seite des Bettchens, er reichte ihr über dasselbe hinweg seine Hand.

»Das ist eine heilige Stelle, an der wir stehen,« sagte er, »ich kenne keine heiligere. Ich verlasse Dich, weil wir jetzt nicht ohne Selbstvorwürfe, Heuchelei oder Bitterkeit und Kummer neben einander zu leben vermögen – wir werden so eher wieder Frieden finden, und vielleicht kommt noch ein Tag, der uns wieder durch Vereinigung glücklich macht. – Aber unsere Anna! Von ihr scheide ich mit schwerem Herzen. Du mußt ihr nun Beides sein – Vater und Mutter zugleich. Ach Amalie – nimm mir die Liebe unsres Kindes nicht! Laß es mein Bild rein und treu bewahren, bis ich es wieder einmal selbst an das Vaterherz drücken darf. Laß es fromm und gut werden, und störe den heitern Frieden seiner Unschuldsjahre nicht. Versprichst Du mir, Alles das wenigstens zu versuchen?«[103]

»Ich verspreche,« sägte sie gerührt und drückte ihm die Hand. »Wenn ich Deinen Aufenthalt weiß so werde ich Dir zuweilen von Anna schreiben – und sobald sie es selbst kann, will ich sie lehren, den ersten Brief an ihren Vater zu schreiben.«

»So scheide ich ruhiger,« sagte er, »aber nun muß es sein – der Wagen wartet unten. – Lebe wohl, Amalie, lebe wohl, Anna!« Und er küßte das Kind noch ein Mal – es zuckte leise im Schlaf zusammen, aber schlief dennoch ruhig und ahnungslos fort.

Thalheim eilte die Treppe hinab, und sprang in den Wagen, in welchem Graf Osten ihn auf sein Gut, wo sein Sohn des Reisebegleiters wartete, abholen ließ.

Es war ihm seltsam zu Muthe, unendlich traurig und unendlich leicht zugleich – er hatte nun die Trennung hinter sich, mit all' ihrem Weh, und ein neues Leben vor sich – aber er hatte sich auch aus alten Banden gerissen, die ihn einst beglückt hatten – und immer mußte er wieder an seine kleine Tochter denken, und wie leicht Amalie sie falsch erziehen könnte – da wurde ihm bang und traurig zu Sinn.

Elisabeth hatte die Stunde von Thalheims Abreise erfahren. Sie fühlte nur, daß sie ihn noch ein Mal sehen müsse – weiter war sie sich in Nichts klar, aber dies Eine war bei ihr unumstößlichste Gewißheit geworden.[104]

Beim ersten Morgengrauen war sie aufgestanden nach einer schlaflosen Nacht. Sie hatte sich angekleidet, und war leise aus ihrem Zimmer durch den Corridor und die Treppen hinab geschlichen. Alles im Hause schlief noch, und Todtenstille herrschte. Sie weckte den schlafenden Portier: »Oeffnen Sie mir die Hausthüre!« sagte sie ihm. Der Portier zauderte. Sie gab ihm ein großes Geldstück und sagte, auf den Nelkenstrauß deutend, den sie in ihrer Hand hielt: »Es gilt eine Ueberraschung bei einem Geburtstage, ich habe Niemand ein Geheimniß daraus gemacht, und wenn ich zurückkomme, werde ich Alles verantworten.«

Geld öffnet ja so viele Thüren – warum nicht auch die einer Erziehungsanstalt? Elisabeth durfte sie ungehindert verlassen. Die Entschiedenheit, mit der sie es als ein Recht verlangte, frappirte ihn – er dachte, um das zu wagen, müsse sie wohl wissen, daß sie es wagen dürfe – und so öffnete ihr der Portier.

Sie eilte hastig durch die noch ziemlich menschenleeren Gassen dem Thore zu, durch welches Thalheim fahren würde. Es war noch nicht fünf Uhr – um diese Stunde hatte er fort gewollt – das rasche Klopfen ihres Herzens benahm ihr oft fast den Athem, ihre Pulse bewegten sich fieberhaft, stürmisch – sie hatte gar keinen klaren Gedanken, nur auf einen Punkt richtete sich ihr Geist: sie mußte ihn noch ein Mal sehen – zum letzten Mal – alles Andere[105] lag vor ihr in Nebel gehüllt, wie die Thäler und Bäche und all' die Fernen, über welche der Morgen erst leise aufdämmerte – nur die Berge hatte er schon mit blitzendem Sonnengold gekrönt.

Sie ging ein Stück auf der Straße fort bis zu einem kleinen Rasenhügel, auf dem eine Steinbank zwischen hohen Lindengruppen angebracht war. Hierher setzte sie sich, denn von hieraus konnte sie den Wagen schon von Weitem kommen sehen. Sie nahm ihren Hut ab, und legte ihn auf die Bank, damit er sie nicht etwa am Sehen hindere. Bange Minuten vergingen ihr – sie fühlte und dachte dabei aber sonst Nichts, weil sie immer nur auf den einen Punkt der Gegend hinstarrte, von wo der Wagen kommen mußte, der Wagen, den sie so sehnlich erwartete, und vor dessen Nahen sie doch auch wieder so zitterte, weil dann bald der Augenblick für immer vorüber sei, wo sie noch ein Mal vor dem theuern Menschen gestanden.

Jetzt wirbelten Staubwolken auf – ein zurückgeschlagener Wagen ward sichtbar – ein einzelner Mann saß darinnen – er war es – sie sprang auf den Wagen zu, wie er bei ihr vorüberfliegen wollte, warf den Strauß hinein, und rief: »Mein Lehrer!«

Er befahl hastig, den Wagen zu halten – er sprang heraus.[106]

»Sie hier, Elisabeth?« fragte er sanft im Tone der höchsten Verwunderung.

Sie stand zitternd vor ihm mit gesenktem Blick, und wie die Morgenröthe am Osthimmel aufflammte, so erglühte auch ihr Gesicht wie im sanften Wiederschein – und gleichsam, als fühle sie jetzt bei Thalheims Befremden über ihr Hiersein, daß der Schritt, den sie gethan, vielleicht nicht nur ungewöhnlich, sondern auch unmädchenhaft sei, hauchte sie leise »Vergebung« und senkte ihr Haupt auf seine Hand herab, welche die ihrige hielt, so daß sie in einer gebeugten, halb knieenden Stellung vor ihm verharrte, bis er selbst sagte:

»Richten Sie sich auf, Elisabeth, Sie haben mir vielleicht noch Etwas zu sagen, zögern Sie nicht – ist es ein Wunsch, vielleicht ein Auftrag, ich werde wenigstens versuchen, Ihnen Nichts unerfüllt zu lassen.«

Sie richtete sich plötzlich auf mit aller Kraft, welche ihr zu Gebote stand, und sagte unter Thränen, lächelnd: »Ich habe um Nichts bitten wollen, als daß Sie diese Blumen mitnehmen – Nelken sind ja Ihre Lieblingsblumen – und deshalb kam ich hierher – und zu einem letzten Lebewohl.«

Sie hatte diese Worte mit ruhiger Fassung gesagt: »Ich werde Sie niemals vergessen, Elisabeth – ich habe es sie immer ahnen lassen: Sie sind meine theuerste Schülerin[107] gewesen, und es wird mir eine süße Genugthuung sein, wenn Sie mir ein freundliches Andenken bewahren.«

Sie zitterte, und vermogte Nichts zu antworten, er nahm ihre Hand, führte sie zu der Steinbank unter den Linden, und sagte: »Ruhen sie hier aus in der schönen Morgenfrische, und lassen Sie uns Beide dieser Stunde ein dauerndes Andenken bewahren. Leben Sie wohl und glücklich.«

»Leben Sie wohl!« rief sie ihm noch nach, als er sie hastig verließ und in den Wagen sprang, blieb aber wie angewurzelt auf der Bank sitzen, an welche er sie geführt hatte.

Der Wagen rollte davon.

Sie sah ihm starr nach – wie er ganz verschwunden war, glitt sie von der Bank herab auf ihre Kniee, drückte die bleichwerdenden Wangen auf die kalte Steinplatte der Bank, und ließ ihr Antlitz von den feuchtgewordenen Locken verhüllen. So lag sie regungslos da. Ihr schwarzes Morgenkleid umfloß weit, wie das Trauerkleid einer Büßerin, die knieende Gestalt.

Nachdem sie eine lange Weile so gelegen, hauchte sie: »Nun ist Alles aus,« und wollte sich langsam erheben. Da – plötzlich, wie sie ihr Gesicht wandte, blickte sie in ein paar Augen, in welche sie schon ein Mal geblickt – sie erschrak – denn eine hohe Männergestalt hatte sich über[108] sie geneigt – sie bemerkte es erst jetzt, als sie rasch und erbebend aufsprang.

Es war Jaromir von Szariny, welcher sich ihr genähert hatte.

Jaromir war nicht früh aufgestanden – für ihn war der heutige Tag noch gestern. Er hatte die Nacht mit Bekannten bei einem Trinkgelag zugebracht – er hatte wieder einmal für die Leere, die Unbefriedigtheit seines Herzens Vergessenheit gesucht in den goldnen Fluthen des Weines – er hatte sie auch gefunden, er hatte sich einige Stunden unbeschreiblich amüsirt, und wie Einer nach den Andern lärmend oder stumm gegangen war, so war er doch noch geblieben, und hatte Füßly und noch ein paar andere Herren mit zurückgehalten. Endlich waren sie auch aufgebrochen. Drinnen das große, durch geschlossene Laden gegen das Morgengrauen verwahrte Zimmer, in welchem Cigarrenrauch mit hellem Gaslicht kämpfte, in welchem der Dunst starken Weines und dampfenden Grogs eine betäubende warme Luft hervorbrachte, hatte wohl zu dieser nächtlichen Orgie gepaßt. – Aber wie paßte zu dieser Aufregung derer, welche sie gefeiert, nun die frische Morgenluft, in welche sie traten? Der reine, blaue Himmel mit dem sanften Morgenroth und ziehenden Silberwölkchen über ihnen? – Die geschäftige Thätigkeit, mit welcher die vom Schlaf noch rothen und frischen Gesichter der Dienstmädchen, welche zum[109] Brunnen liefen? Wie die fröhlichen Morgenlieder, mit welchen die Handwerker zur Arbeit gingen? Wie das »guten Morgen«, was Vorübergehende ihnen zuriefen? »Gute Nacht!« sagten die vorhin so Heitern und Glücklichen plötzlich übelgelaunt und verstimmt zu einander, und an den verschiedenen Straßenecken sich trennend, ging Jeder, verdrießlich vor sich ausschauend, den Weg nach seiner Wohnung.

Jaromir war plötzlich ernüchtert – vielleicht auch noch nicht ganz – er fühlte nur auf ein Mal wieder, daß sich eine Last auf sein Herz senkte, welche er vorhin für immer abgeschüttelt zu haben meinte. So fremd und unharmonisch er jetzt seine eigne, verstörte Erscheinung fand in und mit dieser frischen, thätigen Morgenwelt – so unharmonisch kam ihm wieder sein ganzes Sein zur ganzen großen Erdenwelt, so unharmonisch seine innere Sehnsucht zu seiner Stellung im Leben, zu seiner Umgebung, der Gesellschaft vor – in seiner innern Gefühlswelt vernahm er wieder nur lauter schrillende Mistöne – er fühlte, daß er heute noch ganz derselbe zerrissene Mensch sei, wie gestern, ja daß er dies Bewußtsein heute nur tiefer hatte, als jemals. – Und so war er denn jetzt auch wieder unglücklicher und nüchterner als jemals erwacht aus dem kurzen Taumel des Vergnügens.

Er hätte heimgehen, und den Morgen verschlafen können, wie andere Male, sich in sein Lager vergraben, damit[110] er auf ein paar Stunden wenigstens Nichts sehe und höre von dieser Welt, deren Treiben ihn eben jetzt so anekelte – aber er kehrte wieder um, als er an seiner auch schon offen stehenden Thüre ankam, und eilte die Straße entlang, durch das Thor, hinaus in's Freie.

Erst verdroß ihn die Lerche, die jubelnd neben ihm aus der Saat aufwirbelte, und sich in's Blaue des Himmels hineinstürzte – verdroß ihm der Thau, der in luftigen Silberketten von Grashalm zu Grashalm schwebte, sah er die Blumen, die groß und wunderbar dem jungen Sonnenstrahl entgegen die Augen aufschlugen, verdrießlich an. – Aber wie er so hastig immer weiter lief, und auf eine Höhe kam, von welcher herab er plötzlich einen weiten Blick thun konnte in die ganze lachende Gegend hinein: da ging ihm plötzlich das Herz auf – da fühlte er, daß die Erde so schön sei, und die Natur so reich – und immer heller ward sein Blick, und er sah die Natur an, wie eine erste, jungfräuliche Geliebte, von der ihn lange ein feindliches Schicksal und der eigne unstäte Sinn getrennt – die aber jetzt ihm entgegentrat in aller Anmuth einer erblühten Schönheit, und ihn wieder zu sich zu ziehen strebte an ihre treue Brust. – Da war ihm, als habe er hastig hintereinander viele Masken im wechselnden Spiel getragen, bald habe er sich für einen Salonmenschen, bald für einen Trunkenbold bald für einen theatralischen Liebhaber, bald für einen leidenschaftlichen[111] Spieler ausgegeben, und so immer wieder eine Maske mit der andern vertauscht – jetzt aber hatte er sie alle weggeworfen, und in dem Spiegel, welchen ihm die Natur vorhielt, schaute er sein wahres Gesicht – er fühlte sich wieder, er erkannte sich wieder – er war ein Poet! –

Er war nicht mehr in Verzweiflung, er verachtete sich nicht mehr selbst, wie vorher, aber er fühlte, daß sein Herz schmerzlich allein sei – allein, unverstanden, und daß in der Sehnsucht, die Wünsche des Innern zum Schweigen zu bringen, eben dieses Herz sich so oft zum Unwürdigen verirrte. Er versank in tiefes Sinnen – endlich schienen seine Gedanken und Gefühle zu dem Resultat zu kommen, das er leise vor sich hin sprach: »Ideale, wie ein Dichterherz sie träumt, giebt es in der Wirklichkeit nicht – und einer wirklichen Erscheinung das Ideal, das ich ersehne, anzudichten – dazu reicht meine Phantasie nicht mehr aus!«

Wie er das gesagt hatte, war er auf der andern Seite der Höhe herabgeschritten – er stand jetzt auf dem Hügel, wo zwischen den Linden sich die Steinbank befand, vor welcher Elisabeth auf die Kniee hingeworfen lag.

Er blieb hastig, beinah erschrocken stehen – er erkannte sie wieder.

Es war dieselbe hohe Jungfrau, welcher er begegnet war, als er von dem erschütternden Wiedersehen Amaliens[112] gekommen war. So begegnete ihm diese schöne Erscheinung zum zweiten Male – ja zum zweiten Male in einem Moment, wo in ihm all' seine Gefühle im Sturm sich erhoben hatten. Aber wie anders jetzt, als damals! Damals hatte ein leuchtender Friede auf ihrem Gesicht gelegen, mit festen, leichten Schritten war sie an ihm vorübergegangen – jetzt lag sie hier hingeworfen, wie innerlich vernichtet – ihre goldenen Locken bemühten sich vergebens, ihre Thränen zu verschleiern, ihre gefalteten Hände zeugten wohl vom Gebet, aber doch von keinem Gebet, das Frieden und Erhörung gefunden.

Langsam näherte er sich ihr, bis er ganz dicht neben ihr stand – da fuhr sie auf, und maß ihn mit einem langen, fragenden Blick der Bestürzung.

»Sie sind noch so jung, und schon so unglücklich?« sagte Jaromir mit der sanftesten Stimme des Mitgefühls.

Sie griff nach ihrem Hut, und wollte sich rasch entfernen, ohne zu antworten – da warf sie unwillkührlich noch einen vorübergehenden Blick auf ihn – und er erwiderte ihn so aus tiefster Seele, so ernst und voll innigster, schmerzlichster Theilnahme, daß sie leise sagte: »Schonen Sie mich!« und wieder in einen Strom von Thränen ausbrach.

»Fürchten Sie keine beleidigende Annäherung von mir,« sagte er mit sanftem Ernst, »ich werde Sie nicht stören, wenn Sie in diese morgentliche Einsamkeit flüchteten, um[113] Ihren Schmerz auszuweinen – glauben Sie mir, ich kenne das, und ich weiß jede Thräne zu ehren! Bleiben Sie hier, ich störe Sie nicht, mein Weg führt nach der Stadt.«

»Ich kann nicht länger hier bleiben, ich muß zurück!« sagte Elisabeth.

»Nun dann,« antwortete er, »will ich bleiben an dieser Stelle, welche Thränen geheiligt haben.«

»Ich danke Ihnen, Sie scheinen auch nicht glücklich – mögen Sie an dieser Stelle mehr Beruhigung finden, als ich.« Nachdem sie diese Worte gesagt hatte, entfernte sie sich hastig.

Er setzte sich auf die Bank, welche sie verlassen hatte, sah ihr nach, und überließ sich dann wunderlichen Träumen.[114]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 1, Leipzig 1846, S. 95-115.
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