Erster Theil

Der junge Marquis d'Anville hatte sich in seine Bibliothek zurückgezogen, und wir finden ihn in einer frühen Morgenstunde, wie es scheint, mit sehr ernsten Angelegenheiten beschäftigt. Bestäubte Aktenstücke, deren vergelbtes Pergament und in Kapseln daran niederhängende Siegel auf wichtige Dokumente schließen lassen, liegen um ihn her auf Stühlen und Tischen, und werden abwechselnd verglichen und geprüft mit Briefen und Papieren, welche einen neueren Ursprung verrathen und zu Notizen veranlassen, die der junge Mann alsdann nachdenkend in ein kleines Buch verzeichnet. Sichtlich sind ernste, fast schwermüthige Gedanken dabei in ihm angeregt, denn die Stirn, die sonst der Wohnsitz der Heiterkeit zu sein scheint, ist umwölkt und trägt die Furchen tiefen Nachdenkens. – Hinter seinem Rücken hat sich indessen die Thür geöffnet, und es naht sich ihm der holdeste Feind trübsinnigen Nachdenkens, seine junge und schöne Gemahlin, deren leichter Schritt sie ihm noch nicht verkündet, während sie selbst mit jugendlicher Schüchternheit zu zagen scheint, und ungewiß, ob sie es wagen darf, ihm zu nahen, sich von dem Ernste seiner Beschäftigungen und dem Ausdruck seiner seitwärts belauschten Züge imponiren läßt. Gern sähe sie sich von ihm bemerkt und herbeigerufen, aber ihre beredten Augen bleiben natürlich, wenn auch auf ihn gerichtet, dennoch geräuschlos, und sie muß sich entschließen, sich selbst anzukündigen. »Ich bin unbescheiden, Dich zu stören,« hebt sie an – »aber ich wußte nicht, daß Du so ernst beschäftigt warst.« Bei dem Klange dieser lieben Stimme richtet der junge Marquis das[1] Antlitz der Redenden entgegen, und als ob ein Sonnenstrahl den Wolkenschleier durchbräche, so leuchtet das entzückte Lächeln der Liebe daraus hervor.

»O, Lücile!« ruft er, ihr die Hand entgegenstreckend, »stets ersehnt, stets erwünscht und zur rechten Stunde, ist nur Deine Entfernung eine Störung für mich.«

»Auch wollte ich mich nur als Botin des Frühlings bei Dir melden,« antwortete nun, in völlig sichere Heiterkeit zurückgekehrt, die junge Marquise. »Diese Veilchen, die ihr sehnsüchtiges Herz, der Sonne entgegen, unter dem leichten Reife des alten Mooses hervordrängen, sie tragen in ihrem süßen Dufte das ganze Paradies des Frühlings, sie erinnern mich an ihre Schwestern in der Provence, an die knospenden Buchengänge von Arconville.«

»Geliebtes Wesen!« rief ihr Gemahl – »es liegt zwischen der schönen Wiege unserer ersten glücklichen Tage ein weit abführender Weg, der hier aus diesem Aktenwuste unabweisbar sich entwickelt. Mahnung an den Frühling kömmt mir aber zur rechten Zeit; er giebt mir Muth, Dir eine Reise vorzuschlagen, die Dich schon jetzt den Freuden des glänzenden Hoflebens entführen wird.«

»Wie!« rief die junge Frau – »verstehe ich Sie recht, Herr Marquis? Sie schlagen mir vor, den Hof inmitten seiner größten Freuden zu verlassen? Haben Sie die Liste übersehen, die man gestern in den Zimmern der Königin herumzeigte, die uns wenigstens noch zwölf Bälle, ein Caroussel und einen Maskenscherz von einigen Tagen verspricht? Haben Sie die prachtvollen Roben und Ballkleider vergessen, mit welchen Sie Ihre Gemahlin beschenkt, und die noch nicht zur Hälfte den Neid meiner schönen Rivalinnen erregt haben? Wollen Sie, daß die Juwelen, um deren Besitz Sie die alte und neue Welt geplündert, die Perlen, nach denen die Wellen des Meeres noch jetzt[2] seufzend am Strande niederstürzen – wollen Sie, daß dieß Alles umsonst für den ersten Debüt Ihrer Gemahlin verwendet ward? Wissen Sie nicht überdies, daß wir das Taubenpaar aus der Provence heißen, und daß ich dem tugendhaften Versailler Hofe das nie gesehne Schauspiel gab, ein Jahr nach der Hochzeit noch von meinem Gemahle geliebt zu sein? Wollen Sie, daß ich all' diesen Triumphen entsage, die mein junges Herz berauschen – und was wollen Sie mir zum Ersatze bieten?«

»Nichts, Lücile,« rief ihr Gemahl mit dem vollen Ausdrucke entzückter Sicherheit – »nichts, als mich – entweder sehr wenig, oder – Alles? Laß Deine Roben und Juwelen zurück – ich schenke Dir einen Strohut und pflücke Dir selbst die Blumen darauf!«

Die Marquise wandte sich leicht von ihm ab – er folgte dem lieblichen Gesichte – ihre Augen standen in Thränen – aller neckende Muthwille war daraus verschwunden. Als sie schüchtern zu ihm aufblickte, sagte sie mit dem frommen Ernst einer Betenden: »Bin ich nicht zu glücklich?«

»Laß uns dankbar sein und Gott ehren durch ein lebendiges Gefühl unseres Glücks,« sagte der Marquis – »es scheint mir ein schöner Gottesdienst, ein glückliches freudiges Herz sich zu erhalten und sich des Geschenks seines Lebens zu erfreun! Ich fürchte nicht, daß mir die Kraft darin erlahmen wird, ihm gehorsam und getrost zu bleiben, wenn trübe Tage kommen; denn ein tugendhaftes Glück läßt die Gaben des Herzens und Geistes unverkümmert empor wachsen.«

»Ich fürchte wenigstens für Dich nicht, mein Armand,« sagte die Marquise mit jenem Lächeln der Bewunderung, das die Blüte des schönsten weiblichen Glücks, nur die höchste Achtung in der hingebensten Liebe, giebt – »doch laß' mich erfahren, wo Du mir die Blumen für meinen Strohhut zu pflücken gedenkst, denn es scheint, in den Wäldern von Arconville wird es nicht sein!« –[3]

»Für die nächste Zeit wenigstens nicht, liebe Lücile! Meine Gegenwart wird unvermeidlich auf unsern neuen Besitzungen in Languedoc verlangt – ich kann die persönliche Uebernahme dieser Güter nicht länger verschieben, denn obwohl sie mir seit drei Jahren gehören, lehnte ich bis jetzt diesen mir widerstrebenden Akt noch immer von mir ab; doch sehe ich ein, daß mein Anwalt Recht hat, der mir die Verwirrungen vorstellt, die nothwendig daraus entstehen müssen.«

»Sind das die Güter, die Du von dem Grafen Crecy, dem alten finstern Bruder Deiner Mutter erbtest?« frug die Marquise.

»Sie sind's,« erwiederte ihr Gemahl – »und selten ist wohl eine Erbschaft, die eine halbe Million betragen mag, mit schwererem Herzen angetreten worden, als diese – ja, ich gestehe Dir, daß ich mich noch nie der Revenüen, die daher kommen, zu einer Erweiterung unseres Etats habe bedienen mögen, daß ich mich mehr als den Verwalter dieser schönen Güter, als den Besitzer ansehe, und ziemlich zu ihrer Verbesserung diese Summen wieder verwendet habe, da die lange trübselige Vernachläßigung derselben dies auch nöthig erscheinen ließ.«

»Ich habe Dich noch nie von diesen Besitzungen sprechen hören,« sagte die junge Frau – »obwohl ich wußte, daß sie Dir gehörten, und ein Umstand mich für sie interessirte, nämlich die Nähe von Ardoise, dem Schlosse meiner geliebten Tante Franciska. Doch sage mir, darf ich erfahren, warum sie diesen seltsamen Eindruck auf Dich machen?«

»Es gehörte viel Zeit dazu, Dir den ganzen Inhalt dieses Gefühls zu erklären,« erwiederte der Marquis. »Ich brachte das letzte Jahr seines Lebens bei diesem alten unglücklichen Oheim zu, und er hat vor mir in seinen langen schlaflosen Nächten die Geschichte seines trüben und schuldigen Lebens mit einer Klarheit der Erinnerung, mit einer Schärfe der Combination[4] entwickelt, die die Fähigkeit hohen Alters zu übersteigen schien, und nur dem krankhaften, stets lebendigen Reize seines gequälten Gewissens zuzuschreiben war. Er sah mich allerdings als seinen nächsten Erben an, und darum wünschte er mich in der letzten Zeit seines Lebens, dessen Ablauf er erkannte, um sich zu haben – aber in diesem Wunsche, dessen Erfüllung die Welt nur als die Pflicht des natürlichen Erben nahm, lag weit mehr die Absicht des Unglücklichen, diesen unbestrittenen Erben empfänglich zu machen für den Gedanken eines möglichen Verlustes dieser Erbschaft; denn der Hauptinhalt dessen, was ich mir vorbehalte, Dir später ausführlich mitzutheilen, ist, daß die Möglichkeit vorhanden, es lebe noch Einer, der nähere Rechte auf diese Besitzungen habe.«

»Mein Gott,« rief die Marquise, »wie seltsam ist das! wie spannst Du meine Neugierde! und sage, hat sich nach dem Tode des alten Herrn keine Entdeckung machen lassen? dauert Deine Ungewißheit ohne alle Muthmaßungen fort?«

»Die letzten Anzeichen verlieren sich an der nördlichen Küste von Frankreich,« erwiderte der Marquis – »aber trotz dem, daß ich nach dem Tode des Unglücklichen die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen ließ, hat bisher keine auf eine Spur leiten wollen, die irgend eine Entdeckung verspräche; dessen ungeachtet begreifst Du, daß ich diese Versuche fortsetzen lasse und bisher kein Eigenthums-Gefühl zu diesen Besitzungen haben konnte. Ueberdies sind noch die Erzählungen von den traurigen und finsteren Dingen, von denen die Hauptbesitzung der Schauplatz war, mir zu gegenwärtig, um es wünschenswerth zu machen, mir dort als anerkanntem Besitzer huldigen zu lassen. Und« – setzte er lächelnd hinzu – »wie findet mich meine junge Gemahlin, daß ich grade dorthin ihr den Weg vorschlagen will, und wahrlich ihr keinen andern Aufenthalt anzubieten weiß, als eben jenes alte verwünschte Schloß von Ste. Roche, von dem[5] mehr Spuck- und Gräuelgeschichten die Gegend durchlaufen, als wir in einem Jahre anzuhören vermöchten.«

»Nun,« rief Lücile – »ich bin nicht abgeneigt, mich ein wenig zu grauen, wenn ich nur recht vollständig dabei in Sicherheit bin und nicht den ganzen Tag daran zu denken brauche.« –

»Auch schreibt mir mein Verwalter, er habe den rechten Flügel des Schlosses, der überhaupt ein neuerer Anbau ist, und eine freiere Aussicht und lichtere Räume gewährt, so viel dies bei der Abneigung der Arbeiter, das Schloß zu betreten, gehn wollte, etwas aufräumen lassen – wogegen Dir zum Grauen jedoch noch genug Veranlassung bleiben wird, da ich aufs Bestimmteste verboten habe, den übrigen Theil des Schlosses anzurühren – bis auf die äußeren Reparaturen der Dächer, Thüren und Fenster. Den linken Flügel mußte ich bis auf Dachbefestigungen auch hiervon ausnehmen, denn dieser steht unter einer besonderen Autorität, die ich zu respektiren habe angeloben müssen in dem ganzen Umfange, wie dies mein Oheim zu thun sich gelobt hatte. Diese Autorität ist eine alte Frau, welche ihr Leben in diesem Schlosse, und seit einigen fünfzig Jahren in diesem Flügel, oder vielmehr in einer kleinen Behausung vor demselben zubringt, welche Niemand den Einlaß gestattet und von Niemand dazu gezwungen werden kann, – so daß von allen, die dort leben, sich Niemand rühmen darf, das Innere dieses geheimnißvollen Ortes betreten zu haben. Bevor ich die Güter übernahm, hauste sie und ein alter Kastellan in diesem Schlosse, und es war die höchste Zeit, daß eine andere Macht dort einschritt, da das alte Schloß, so fest und fast unverwüstbar es auch erbaut ist, doch bei der gänzlichen Vernachläßigung, die es, wie alle übrigen Besitzungen, erleiden mußte, allgemach immer baufälliger zu werden begann.«

»O, wie sehne ich mich nach Ste. Roche!« rief die junge Marquise – »und wie will ich um das Herz der alten Pförtnerin[6] mich bemühen, daß sie mir Einlaß gewährt in diese geheimnißvollen Gemächer. Doch sage mir nur noch mit einem Worte, ob Du die Geschichte derselben kennst?«

»Ich kenne sie,« erwiederte ihr Gemahl – »doch dringe vorerst nicht in mich, sie Dir mitzutheilen; es schmerzt mich, diesen Mißlaut in Deine reine Seele zu spielen! Wie entzückt mich der Gedanke, wenn ich Deinen Zauber empfinde, daß das Böse für Dich nur eine allgemeine inhaltlose Existenz unter den Erscheinungen hat, dessen Dasein Du kennst, ohne daß Dich seine Bedeutung erreichen konnte. Gönne mir das Glück, Dich zu behüten und zu bewahren – laß mich der Engel mit dem feurigen Schwerte sein, der das Paradies Deiner unschuldigen Gedanken bewahrt.«

»O, mein Geliebter,« rief die junge Frau – »welch' ein Wohllaut des Himmels liegt darin, Dir so anzugehören, daß selbst meine Gedanken Deines Schutzes genießen! Glaubst Du, daß es eine Neugierde gäbe, die stärker wäre, als dies Gefühl?«

»Nein,« erwiederte er ernst und gerührt – »ich weiß es, die Deinige wenigstens nicht – auch denke ich daran, Dir den Inhalt dieser unglücklichen Geschichte später auf eine Weise mitzutheilen, die Dich weniger verletzt.« –

»Bis dahin also will ich Gednld haben, die mir leichter noch durch die Aussicht wird, dies schauerliche Geheimniß in seiner Oertlichkeit zu sehen.« –

»Doch sieh' da – Leonce!« rief der Marquis und eilte seinem Bruder entgegen, der mit der freundlichsten Eilfertigkeit in das Zimmer trat. »Willkommen in Paris, Theurer, Lieber! Seit wann bist Du zurück?«

»Erst seit diesem Augenblick,« rief der junge Mann und begrüßte herzlich seine liebenswürdige Schwägerin.

»Nun in Wahrheit,« rief Lücile, – »lieber Leonce, Sie kommen zur rechten Zeit, mich gegen meinen Gemahl in Schutz[7] zu nehmen; denken Sie nur, er verlangt, daß ich Paris verlassen soll, da noch Niemand daran denkt, sich auf seinen Gütern zu langweilen, und Paris in der vollen Blüte seiner auserlesenen Freuden steht. – Haben Sie ein ähnliches Anerbieten schon jemals gehört? und was meinen Sie, daß ich thun oder nur antworten soll?«

»Was Sie bereits gethan oder geantwortet haben,« rief Leonce mit dem Ausdrucke inniger Verehrung; »denn das Rechte war es gewiß, und ich will es blos wissen, um Sie aufs Neue zu bewundern.« –

»Gottlob,« rief die heitere junge Frau – »unser Bruder ist mit vollständig liebenswürdigen Manieren zurückgekehrt! Glaubt mir, ich erkannte Euch nicht, als Ihr damals von Euren Reisen wiederkamet – auch nicht ein Zug von meinem liebenswürdigen Spielkameraden war geblieben – eine düstere, blasse, seufzende Kreatur war zurückgekehrt, und ich ward entmuthigt, froh zu bleiben, wenn Ihr so still und einsylbig an meiner Seite saßet.«

Sichtlich traf die Rede den jungen Mann tiefer, als die sorglose Heiterkeit seiner Schwägerin ahnete – es brach aus den Augen des Jünglings eine so melankolische Glut, er schloß die Lippen so schmerzlich zusammen, daß der Marquis, überrascht von der plötzlichen Veränderung seines Brudes, ihm schnell einige Fragen über die zurückgelegte Reise und den vorgefundenen Zustand seiner Güter that.

Leonce arbeitete sich mit sichtlicher Anstrengung aus der Stimmung heraus, die durch die unschuldigen Worte seiner Schwägerin angeregt war, und versicherte seinem Bruder, er habe Alles wohl arrangirt gefunden, könne nicht anders, als seine Verwalter loben und habe für längere Zeit ihre Vollmachten bestätigt.

»Aha!« fiel die Marquise ein – »für lange bestätigt; das heißt so viel, als: wir haben uns auf lange Zeit von der[8] eigenen Verwaltung losgemacht und sind nicht gesonnen, den alten Ahnenbildern und den Schäferspielen der Gobelin-Tapeten auf dem alten Schlosse Gesellschaft zu leisten.«

Leonce lachte. »Es ist wahr, schöne Spötterin, ich muthete mir eine Einsamkeit in so großartiger, aber dennoch melankolischer Umgebung nicht zu – ich bin noch zu jung, sie suchen zu dürfen, ich muß sie sogar fürchten, da ich ihren Zauber nicht lange genießen dürfte, ohne ihm zu unterliegen. Dagegen hilft nur ein sehr muthiges Erfassen des Lebens – ich denke Dienste zu nehmen, oder noch eine weitere längere Reise zu machen – vielleicht,« setzte er hinzu, »nach England.«

»Nun, dazu gebe ich nimmermehr meine Erlaubniß!« rief die junge Marquise. – »Nach England wollt Ihr? wo die Sonne nie klar, voll und warm Euch bescheint, wo die Stürme des Meeres Euer Gehirn austrocknen, und Eure Empfindungen zum Schweigen verdammt sind vor dem melankolischen Gespräch der Wellen. Niemals,« rief sie mit komischem Pathos, »gebe ich dazu meine Erlaubniß, und diese müßt Ihr doch wohl haben; da ich das einzige weibliche Haupt dieser, Eurer Familie bin?«

Beide Männer lächelten der guten Laune der liebenswürdigen Frau Beifall zu, der Marquis aber umfaßte zärtlich seinen Bruder. »Du siehst, mein Lieber, welcher Herrschaft wir beide dienstbar sind, ergieb Dich und willige in meinen Vorschlag, Dich uns anzuschließen. Sieh', die Reise, die ich vorhabe, wird mir herzlich schwer – ich gehe nach Ste. Roche, und übernehme endlich nach langem Sträuben diese mir fast verhaßten Besitzungen. Lücile hat eingewilligt, mich zu begleiten; ich möchte ihr zum Lohn für so viel Nachgiebigkeit gern ihren alten Spielkameraden mitführen, denn meine Angelegenheiten werden meine Zeit mehr in Anspruch nehmen, als ihr lieb sein wird.«

»Thut das, Leonce,« sagte Lücile – »und ich will schon dafür sorgen, daß Euch die trübseligen Gedanken vergehen,[9] wenn wir uns auch nicht viel auf äußere Hülfsmittel werden verlassen dürfen, da wir in ein wahres altes Gespensterhaus einziehen.«

Leonce schwieg noch immer, und der Ausdruck seiner Züge veränderte sich wieder bis zur Düsterheit; er schien kaum die liebevollen Worte zu verstehen, eigene Gedanken mußten dazwischen getreten sein.

»Gieb es auf, Armand,« sagte die Marquise – »auf diesem Gesichte steht kein Ja! Das ist die Miene, die ich mehr fürchte, als Dein Geisterschloß – und kann er uns nur mit ihr begleiten, so behüte mich Gott, daß ich ihn mitnehme, er zöge die Geister wie mit Magneten an sich, anstatt er mir helfen soll, sie abzuwehren.«

»Leonce,« sagte der Marquis zärtlich besorgt, »Du bist wirklich seltsam!«

»Vergebt mir,« rief Leonce, sich jetzt emporraffend – »ich habe sehr Unrecht! Gewiß, Ihr habt Ursache mir zu zürnen, mich thöricht und undankbar zu schelten – aber glaubt mir, auch für mich ist eine wichtige Zeit gekommen – ich stehe auf dem Punkte, auf welchem man sich fürs folgende Leben eine Richtung geben oder ihrer für immer entbehren muß. Ich bedarf der Thätigkeit, um mich zu zerstreuen – Zerstreuung soll hier nicht Zeit-Tödtung heißen, ich fände sie sonst wohl in Paris – sie soll das Anbauen, Anranken, Durchdringen des Kerns des höheren Lebens bezeichnen, und kann ich dann nicht glücklich, will ich doch eines besseren Schicksals werth sein.« – Er war wieder blaß geworden bei diesen Worten, und von der tiefsten Bewegung ergriffen, drückte er sich einen Augenblick in die Arme des Marquis. »Es scheint mir, ich habe keine Zeit zu verlieren«, fuhr er ruhiger fort; »daher blieb ich bei Eurem Vorschlage zweifelhaft, und das Nachdenken, worin er mich versetzte, ist mir nachtheilig.«[10]

»Und jetzt müßt Ihr mit, Leonce!« rief die Marquise munter dazwischen – »eben habe ich es entschieden. Ueber Lebenspfade, höhere Richtungen und wie Ihr das alles nennt, entscheidet man am besten auf Reisen – nicht auf so hastigen und ungestümen Reisen, als junge Männer machen, wenn sie allein sind, sondern auf solchen, wo man, in bequeme Kutschenkissen gedrückt, an der Seite irgend einer guten, geschwätzigen, launenhaften, lustigen Frau, dahin rollt – außer Thätigkeit gesetzt, doch dem Zwecke gemäß sich verhält, also ohne Gewissensbisse zum müßigen Nachdenken übergehen kann, wenn die Nachbarin sich müde geschwatzt, oder über ihre Reisekleider nachdenkt, oder ihre Sieste hält – da, mein lieber Leonce, tritt der Moment ein, wo uns große Gedanken kommen – Lebensrichtungen sich von selbst offenbaren, und ohne den schwerfälligen Wust, den Stadt- und Zimmerluft umhängen; vielmehr wird da Alles klar, hell und heiter, wie die Luft, die uns umströmt, wir vergessen nicht, daß das Leben, das wir mit mystischer Spekulation ergründen wollen, vor allen Dingen schön ist, und es keine sanftere Wiege giebt, als in den Mutterarmen der Natur – und in diese Wiege sollt Ihr, Leonce, und diese Hand legt Euch hinein, trotz des Mißverhältnisses der Größe – denn Euch fehlt etwas – Gott weiß, was! – das muß erst heil werden, ehe Ihr entscheidende Schritte thut.«

Mit innigem Wohlgefallen betrachtete der Marquis seine holde Gemahlin, die ihm so ganz aus dem eigenen Herzen gesprochen hatte. Freundlich drückte er ihre deklamirenden Hände. – »Ich danke Dir, Lücile, daß Du ihm Alles gesagt, was ich dachte; laß' mich hinzufügen,« fuhr er gegen Leonce fort, »daß Dich jetzt in dieser Stimmung zu verlassen, mir fast unmöglich sein würde, und da ich doch kaum bleiben könnte, es mein einziger Trost ist, Dich mit mir zu führen. Rechne darauf, daß Du mit Deinen direktesten Freunden reisest, die Dir ganz allein[11] überlassen werden, was Du für nöthig halten wirst, ihnen mitzutheilen.«

»Abgerechnet,« lachte Lücile, »was ich ihm gelegentlich ablocke oder ablausche.«

»So bleibt mir denn keine Wahl,« rief Leonce, und sein tragischer Ton verhieß noch wenig Sinn für die heitereren Anklänge seiner jungen Beschützerin. »So will ich denken, Ihr seid mein Schicksal; nehmt mich mit Nachsicht hin, ich will Eurer Liebe ganz vertrauen – ja, ich folge Euch! Aber versprecht mir, daß Ihr mich nicht aufhalten wollt, wenn ich Euch später doch sage, daß ich fort muß.«

»Ich verspreche nichts, als mich jetzt zur Reise zu rüsten,« rief die Marquise, »und Eures Winkes gewärtig zu sein. Richtet jetzt Alles zu meinem Wohlgefallen ein; denn ich will mir einen Vorrath von Einfällen und Capricen sammeln, an denen Ihr beide genug zu thun haben sollt.«

Hold grüßend entschlüpfte sie den Brüdern. Als die Thüre sich hinter ihr schloß, warf sich Leonce stürmisch in die Arme seines Bruders. »Glücklicher, Glücklicher!« rief er – »Dir haben die Engel in der Wiege gelacht, als sie Deiner Zukunft dies Geschenk verhießen! Dich trennten keine Vorurtheile, keine Launen des Zufalls von dem einzigen und höchsten Wunsche Deines Herzens!«

»So ist es, Leonce,« sagte der Marquis fast verlegen über diese Rede – »und ich hoffe, wir sind beide unter guten Zeichen geboren; auch Du wirst glücklich werden.«

Leonce schüttelte leise den Kopf. Beide trennten sich zu den nöthigen Anordnungen der Abreise.
[12]

Die Strahlen der Frühlingssonne erhellten die keimende, knospende Erde, und schienen das Geschäft ihrer Entwickelung mit dem Eifer eines Gebers zu betreiben, der sich seines Reichthums bewußt ist und das Glück, womit er den Bedürftigen überschüttet, zu sehen trachtet. Fast hätte man von Stunde zu Stunde die Blätter und Halme zählen können, die sich aus ihren warmen Strahlen zu erschaffen schienen, und ein Tag verhieß schon für den nächsten die süßesten Wunder.

Wir finden ein Auge in dem Bereiche, dem wir uns nahen, das mit besonders theilnehmendem Ausdrucke diesem Naturtreiben zusah, und Geist und Herz daran zu erquicken trachtete.

In einem von der Sonne erwärmten Gartensaale saß in der offenen Thüre Franciska, Gräfin d'Aubaine, in friedlicher Stille und Einsamkeit.

Die breiten Buchen- und Lindenwege, die Ardoise zieren und den Park mit dem kleinen Flecken, der dazu gehört, durchschneiden, gaben mit ihren durchsichtigen hellgrünen Blättchen schon eine feine Schattenlinie auf die dazwischen durchblickenden Wiesen und Rasenplätze, die vom Schlosse aus durch jene phantastisch geschnittenen Hecken unterbrochen waren, welche die Architektur fortzupflanzen trachten, den wirklichen Gestaltungen der Natur entgegen tretend.

Das alte Herrenhaus von Ardoise lehnte seinen Rücken gegen die wildreichen Wälder dieser schönen Besitzungen, und trennte und schützte es gegen die an seinen Grenzen hinlaufende Landstraße. Es hatte daher den doppelten Vorzug einer ungestörten Einsamkeit und einer leicht zu unterhaltenden Kommunikation mit den nahe liegenden Ortschaften und Nachbargütern.

Die Gräfin d'Aubaine wußte jetzt beide Vorzüge wohl zu schätzen, wenn in früheren Jahren eine bestimmte Richtung ihres Innern ihr den ersteren als den vorherrschendsten bei der Wahl ihres Aufenthaltes hatte erscheinen lassen. Bis zum Tode ihrer[13] Aeltern hatte sie abwechselnd hier und auf deren Stammschlosse Mont Réal gelebt. Dies war ihrem Bruder zugefallen, und nachdem sich auch ihre jüngste Schwester, die Mutter der Marquise d'Anville, an den Grafen Maurepas vermählt hatte und dessen Güter bewohnte, zog die Gräfin Franciska vor, in Ardoise ihren Wohnsitz zu nehmen.

Sie war unvermählt geblieben – und ohne, daß über die Erlebnisse ihrer Jugend etwas Bestimmtes bekannt gewesen wäre, genoß sie von Aeltern, Geschwistern und Freunden die stille ehrende Schonung, mit der man das unverschuldete Mißgeschick betrachtet, und die Fügsamkeit in ihren Willen, die man so gern den kleinen Rettungsmitteln widmet, womit ein blutendes, aus dem natürlichen Kreise des Lebens verschlagenes, Herz sich zu schützen sucht. – Auch war die Rücksicht, die sie unaufgefordert ihren Angehörigen auferlegte, keine schwer zu leistende. Ihre Seele war durch das Erlebte den schönen Gang einer wahren Resignation gegangen; losgelöst von eignen Hoffnungen und Wünschen, suchte sie sich in keiner äußeren Erscheinung mehr, und war um so hingebender und theilnehmender für die Zustände um sich her. – Selbst ihr vorherrschendstes Bedürfniß: Ruhe, befriedigte sie nie auf Unkosten einer freundlichen Hingebung an die gelegentlichen Anforderungen, sich gesellig zu erweisen – und die ganze tiefe umfassende Erfahrung des Unglücks, die ihr geworden, diente ihr nur, ähnlichen Zuständen mit Rath und Theilnahme zu begegnen. Sie kannte keine größere Wohlthat, als den Anblick glücklicher Menschen, sie nannte sich scherzend darin eine Epicuräerin, und ließ nicht ahnen, wie sie das Unglück aufsuchte und sich ihm hinzugeben verstand, wenn um sie her in dem weitläufigen Schlosse der Frohsinn zu herrschen schien, den sie sowohl zu wecken und zu unterhalten verstand. Ihre eigene, frühzeitig von Kummer gezeichnete Gestalt konnte nicht mehr das zeigen, was sie gern bei Andern sah.[14] In der Mitte des Lebensalters, trug sie doch das Ansehn einer Matrone; nur ihre hohe Gestalt war fein und schlank und von dem edelsten Anstande getragen. – Die einst so schönen braunen Locken waren schon in Silbergrau verwandelt und bildeten den Uebergang zu dem völlig erblaßten stillen Angesichte, dessen tiefgedrückte Augenbrauen und niedergezogene Mundwinkel die rührenden Züge eines Kummers darstellten, der Zeit gehabt hatte, die reichste Schönheit zu seiner Repräsentantin umzuwandeln. Sie trug immer einfache schwarze Kleidung, und die Mode ging unbeachtet an ihr hin, wie sie es unbeachtet zuließ, daß ihre alte Kammerfrau von Zeit zu Zeit in nicht störenden Anordnungen ihr nachzukommen suchte. Angebetet von ihren Dienstleuten, war sie das Kleinod der Familie, und wie man einen kostbaren Schmuck wohlverwahrt läßt, seinen täglichen Genuß nicht wagend, sich des schönen Besitzes sicher wissend, so unterbrachen alle die heilige Ruhe der Tante nur selten, des erwärmenden Gefühls gewiß, daß sie ihnen lebe, sich ihnen nie zu entziehen strebe.

Diese stille Abgeschiedenheit sollte jedoch eben an dem Tage, wo wir uns in Ardoise einführen, eine kleine Umwandlung erleiden, denn die Gräfin d'Aubaine war in Erwartung einer jungen Gefährtin ihrer künftigen Tage.

Der frühe Abend hatte sie in ihre oberen Gemächer geführt, wo die leichte Glut eines Kaminfeuers und der helle Schein der Kerzen noch die Beschäftigungen des Winters zurückrief.

Einige Stunden später fuhr ein verschlossener Reisewagen mit den Livreen der Gräfin durch die nun völlig in Dunkel gehüllten Wege des Waldes dem Schlosse zu. Die Thorwächter öffneten die eisernen Gitter, die den Hofraum umschlossen, und der Wagen fuhr in den Portikus des Hauses.

»Ist die Frau Gräfin noch zu sprechen?« fragte St. Blace, der alte Kammerdiener derselben, und hob sich langsam aus dem bequemen Bocksitze.[15]

»Sie haben befohlen, sogleich die junge Herrschaft einzuführen,« antwortete Mr. Lorint, der Haushofmeister, »und sind besorgt um ihr langes Ausbleiben.«

»Nicht meine Schuld, nicht meine Schuld, Mr. Lorint!« rief St. Blace, »wir haben keinen Mondschein, und die Wege im Walde sind noch feucht und aufgeweicht von der Regenzeit – wir konnten nur langsam vordringen.«

Indem nahten sich Beide dem Wagenschlage, und ihn öffnend, hob sich ihnen zuerst die alte Kammerfrau der Gräfin, Madame Sulpice, entgegen und ließ sich, in ihre Pelze und Mäntel gewickelt, von ihren beiden Kameraden über den Tritt der Kutsche ziehen.

»Ah, Mr. Lorint!« rief sie freundlich – »ich hoffe, wir finden Alles wohl auf in Ardoise und kommen zur gesegneten Stunde.«

»Ihro Gnaden wenigstens führten ein leidliches Wohlbefinden, und sonst fiel seit zwei Tagen nichts zu vermelden vor.«

»Desto besser, Mr. Lorint – keine Neuigkeiten besser als trübe,« erwiederte Mad. Sulpice. – »Darf man Euer Gnaden ersuchen, auszusteigen?« fuhr sie, gegen den Wagen zurückgewandt, fort.

Voll Neugierde beeilte sich jetzt Mr. Lorint der Angekommenen Hülfe zu leisten. Alle Bewohner Ardoise's sahen auf die Veränderung in dem Leben ihrer Gebieterin, die ihr nach so langer Einsamkeit eine stete Begleitung, eine Lebensgefährtin, wie sie sich selbst darüber ausdrückte, geben sollte, mit einem Erstaunen und einer Erwartung, die man wenigstens durch die Erscheinung des Gegenstandes selbst gerechtfertigt zu sehen hoffte.

Mit der Leichtigkeit der Jugend betrat jetzt den Kutschentritt eine schlanke feine Gestalt, welche den Flor der Haube so über die Stirn gezogen trug, daß nur das blendend weiße Kinn und der schöne Mund sichtbar waren. So getäuscht sich[16] Mr. Lorint hierdurch fand, schloß er doch gleich mit sich ab – hier eine junge Schönheit zu sehen, und als sie den Boden betrat und mit dem reinsten französischen Accent ihn anredete, beschloß er, sie des Vorzugs, den sie eben einzunehmen im Begriff war, würdig zu erklären.

»Und werde ich die Gräfin d'Aubaine diesen Abend noch sehen?« frug die junge Dame mit einem sanften Tone der Sprache.

»Ich eile, Euer Gnaden zu melden,« erwiederte Lorint, »und bitte unterthänigst mir zu folgen.«

Die Fremde nahm mit einigen dankbaren Worten von ihren beiden Reisegefährten Abschied und stieg hinter Lorint die heitere breite Treppe hinan, die, gastlich erhellt, den schönen Marmor der Wände mit seinen kunstreichen Verzierungen zeigte. – Lorint öffnete einen Vorsaal und beurlaubte sich dann, in eine Nebenthüre verschwindend. Kaum sah sich die Fremde allein, als ihr Herz von der tiefen Bewegung überfloß, welche sie zu beherrschen getrachtet hatte. Die heißesten Thränen stürzten aus ihren Augen, und sie verhüllte das Gesicht, dem Schmerze ihres Herzens sich hingebend. Einige Augenblicke hatte sie so den Tribut gezahlt, den eine plötzliche und vollständige Umänderung aller bisher gekannten und lieb gewesenen Verhältnisse dem jungen Herzen abnöthigten, als sie durch den Gedanken, im nächsten Augenblicke derjenigen gegenüber zu stehen, die sich mit allen Beweisen von Liebe und Theilnahme ihr schon in weiter Ferne bis zum gegenwärtigen Tage genaht hatte – ihre Thränen versiegen machte und ein neues Bemühen herauf rief, ihre schmerzliche Aufregung zu beherrschen. Sie trocknete ihre Augen, und ihren Mantel ablegend, gewahrte sie nun erst die Schönheit des Raumes, in dem sie sich befand, der von zwei Kaminen und vielen geschickt vertheilten Kerzen, die ihr Licht von hell polirten Wänden und Fußböden wiedergaben,[17] erleuchtet wurde. Ihre Aufmerksamkeit ward sogleich durch einige lebensgroße Bilder in Anspruch genommen, Personen aus der Familie darstellend, welche die Fremde in den Kreis einzuführen schienen, dem sie künftig angehören sollte. Es waren schöne, edle Gestalten, und ihr Auge blieb mit besonderer Theilnahme an den Zügen einer Dame hängen, welche, im Brautschmucke gemalt, mit so unbeschreiblich anziehenden Mienen auf die junge Beschauerin niedersah, als wolle sie ihr Muth und Lebenshoffnung einreden.

»Ach,« seufzte sie leise, »wären das die Züge der Gräfin d'Aubaine, wenn auch von der Zeit der jugendlichen Schönheit beraubt! – Wie unbeschreiblich wohl wird mir in Deinem Lächeln – als hätte ich Dich längst gekannt, als wüßtest Du Alles, was in meinem Herzen vorgeht!«

Indem öffnete Lorint die Flügelthüren und lud das Fräulein zum Nähertreten ein. Durch mehrere Gemächer, welche alle, erhellt und vom Kaminfeuer belebt, den Hauch des Geistes trugen, der nur im steten Gebrauche ihnen ihr ansprechendes Dasein einflößt – erreichte die Fremde ein Kabinet, das die Zimmerreihe schloß, und, mit grünen, seidenen Vorhängen rings umhängt, wie Waldeinsamkeit und Stille den Wohnenden umfing. An der Schwelle stand plötzlich die hohe Gestalt der Gräfin d'Aubaine. Es waren zwar nicht die Züge, die aus jenem Bilde lächelten, aber wer hätte der sanft verklärten Dulderin in die milden blassen Züge blicken können, ohne zu glauben, er habe gefunden, was er suche.

»O Elmerice,« rief die Gräfin, das schnell zu ihren Füßen gesunkene Mädchen mit beiden Armen umfassend, »suchst Du keinen andern Platz bei Deiner zweiten Mutter?«

Unfähig zu sprechen, sank Elmerice an ihren Busen. Die Gräfin, welche jede allzugroße Erweichung scheute, rang sichtlich mit ihren Gefühlen, das liebe Wesen, welches sie[18] innig an sich gedrückt hielt, in der natürlich großen Bewegung zu stützen.

»Blicke auf, mein Kind, und sei getrost! Du hast eine Mutter, ich die Freundin meiner Seele verloren! Ach, glaube mir: Du bist mir ein heiliges, über Alles theures Vermächtniß, und daß sie mit dieser letzten Gabe ihres Lebens mich noch beglücken und ehren wollte, das ist ein Zeugniß ihrer Liebe, woran ich Dich erinnere, daß Du fühlst, wie sie mich hochhielt, und daran Dein Vertrauen zu mir knüpfest.«

»Ach, Frau Gräfin,« rief Elmerice, »wie könnte ich jetzt erst Gefühle anknüpfen wollen, bei denen ich groß gezogen ward – meine Aeltern, so lang ich sie beide besaß, wetteiferten, Euch zu lieben!«

Elmerice zärtlich umschlingend und sie zu sich in das Ruhebette niederziehend, sagte die Gräfin: »wie rührt mich so viel Liebe, wenn sie, auch unverdient, nur den Geber ziert. Wie rührt es mich, daß Deine Mutter so das Herz Deines Vaters bestimmte, ihm für die nie Gesehene, Ungekannte, eine so warme Theilnahme einzuflößen!«

»Mein Vater kannte Euch nicht?« rief hier Elmerice überrascht, – »wie ist dies möglich? Er muß Euch gekannt haben, denn von ihm erbat ich es oft mir, Euch und Ardoise zu schildern.«

»Und that er das?« frug lächelnd und überrascht die Gräfin.

»O hättet Ihr es gehört! Wie ich die Treppe hinauf stieg, erkannte ich Ardoise nach dieser Beschreibung sogleich wieder – und je länger ich Euch betrachte, jemehr erkenne ich das Bild, das er von Euch entwarf, tragt Ihr freilich auch nicht mehr Eure Lieblingsfarbe, das schöne Himmelblau, die weißen Rosen im Haare, worin Ihr den Engeln glichet.«

»Seltsam!« sagte die Gräfin, leicht erröthend vor sich niederblickend – »doch glaube mir, ich sah ihn nie, aus den Erzählungen Deiner Mutter kannte er dies; sie schmückte mich[19] zuerst bei ihrem Aufenthalte in Ardoise an dem Namenstage meiner Mutter, so wie Dir gesagt ward. Viele Jahre trug ich so am liebsten mich, schwere verhängnißvolle Erinnerungen sind an dies Kleid geknüpft, und da man es oft als zu meinem Leben gehörend erwähnt hat, wird es auch so Dein Vater erfahren haben.«

Elmerice schwieg, aber das gesenkte Angesicht zeigte, wie unbegreiflich ihr diese Annahme schien. – »Mein Vater war aber in Frankreich, er ist in Paris erzogen,« fuhr sie endlich fort, fragend in das Antlitz der Gräfin blickend, denn ihr schien jetzt nichts mehr recht sicher, da dies Eine, woran sie so bestimmt geglaubt, ihr in Abrede gestellt ward.

»So hörte ich von Deiner Mutter, liebste Elmerice. Herr Eton, Dein Großvater, gehörte zu den selten gebildeten englischen Geistlichen, die ihren Kindern keinen größern Vorzug mitzugeben trachten, als eine ausgezeichnete Erziehung. Dein Vater muß eine vollendete Bildung erhalten haben.«

»Wie könnt' ich bestimmen,« rief Elmerice mit Enthusiasmus, »auf welcher Höhe der stand, welcher um sich her die Hoheit und die Würde jeder menschlichen Tugend verbreitete? Er war selten heiter, und ich habe Menschen gekannt, die dies zu tadeln suchten – aber wie hätten wir uns ihn anders denken können, wie glauben, er könne die gewöhnliche Gabe des Frohsinns besitzen, so erhaben wie er vor uns stand! O, er war ja nie finster, nie unfreundlich – und gab es etwas, was sich mit seiner Freundlichkeit hätte vergleichen können? Ich, sein glückliches Kind, an das er seine ernstesten Blicke in Huld und Güte umwandelte, wie war ich bezaubert von diesem Lächeln! – Wenn er plötzlich eintrat, wo ich mich befand, und nur mein Arm, meine Hand nachläßig danieder hing – ich fühlte es als einen Vorwurf und rückte mich beschämt zurecht, und wagte nicht, kühn zu ihm aufzublicken, nicht laut zu sprechen, wenn er still[20] und sinnend in langen, stummen, innern Anschauungen da saß und seine bloße geräuschlose Gegenwart uns beherrschte, als ob ein König unter uns wäre. Man spricht von Menschen wie von Fabeln, die durch die Gewalt ihrer Augen ihre Mitgeschöpfe beherrschten; so war mein Vater! Ich habe ihn, statt Worte zu sagen, anblicken sehn, und die Macht der erschütterndsten Rede hätte nicht siegender wirken können – der ausgelassenste Uebermuth sank vor diesen Augen zusammen. – Zu ihm kamen die ausgezeichnetsten Menschen und forderten Rath; seine Gesellschaft, seine gelegentliche Unterhaltung mit Einem oder dem Andern war eine hohe Ehre, dessen sich die Besten rühmten und stolz darauf waren. Sein Tod brachte die Grafschaft in Bewegung, ein Jeder eilte herbei, ihn noch ein Mal zu sehen.« – Hier schwieg Elmerice plötzlich – ihr kindlicher Enthusiasmus hatte sie so nach Außen gedrängt, daß sie sich selbst ganz aus den Augen verloren; die Erwähnung seines Todes aber weckte ihr eigenes Gefühl; der Schmerz, belebt durch das Bild seiner Vorzüge, das sie in Liebe glühend heraufgerufen, durchzuckte sie jetzt mit dem Gefühle seines Verlustes – große Thränen fielen wie Perlen aus den Augen – sie vermochte nicht weiter zu sprechen.

Die Gräfin d'Aubaine hatte dies fast vorausgesehen – freundlich war sie beeilt, sie zu unterbrechen: »Ich wollte, Du hättest Recht, Elmerice, und ich hätte Deinen Vater gekannt, den Du so lebhaft vor meine Seele führst. Wohl hatte mir Deine Mutter stets seinen hohen Werth gerühmt, und ich hielt ihn so in meinen Gedanken fest; doch hast Du mit Deiner kindlichen Liebe ihn noch schöner, bedeutender gezeichnet, als die stets bescheidene Freundin, die sich eines solchen Glücks kaum zu rühmen wagte und mich über tausend Dinge, die mir wichtig schienen, zu erfahren, und eben Deinen Vater angingen, in Ungewißheit erhielt. Die Liebe eines solchen Mannes gewonnen[21] zu haben, wollte sie nie einräumen, so daß es demjenigen, welcher nicht, wie ich, ihr bescheidenes Herz kannte, fast hätte scheinen können, sie nur sei die Liebende gewesen, unberechtigt, von solchem Mann eine Erwiederung zu erwarten.«

»Ja,« rief Elmerice lebhaft, »Ihr sprecht es aus, wie es auch mir oft, doch nicht so klar ausgedacht, erschien – ich glaube selbst, meine Mutter hielt es für unmöglich, von solchem Manne geliebt zu sein! So wunderbar schön stand sie ihm zur Seite, als wolle sie ihm blos abwehren, was ihn verletzen könne. Ach, Frau Gräfin, Ihr werdet das Alles besser wissen, als ich Euch sagen könnte – aber große Leiden muß mein Vater erlebt haben, bevor er sich in die Einsamkeit begrub, wohin ihm meine Mutter folgte. Oft machte sie Andeutungen, die mich ahnen ließen, daß seltene und ungemein harte Verfolgungen ihn trafen.«

»Nein, mein theures Kind,« antwortete die Gräfin, »ich bin davon nicht unterrichtet. Wie ich Dir sagte, beobachtete Deine Mutter die größte Schüchternheit in Mittheilungen hinsichtlich ihres häuslichen Lebens, so innig auch sonst der Austausch unserer Seelen war. Von ihrer Liebe zu Deinem Vater erfuhr ich nur, als sie ihm bereits ihre Hand zugesagt. Diese Zurückhaltung überstieg fast das Maaß eines liebenden Mädchens, es trug etwas Geheimnißvolles an sich, und ich gestehe Dir aufrichtig, daß sie sich bemüht, mich glauben zu machen, nur sie liebe ihren Gemahl, sie genieße blos seine Achtung, seine Freundschaft. Du weißt, daß Deine Mutter die Cousine Deines Vaters war – er lernte sie bei seinem Vater kennen, sie verließ mit ihm gleich nach ihrer Vermählung Yorkshire, und Herr Eton, Dein Vater, kaufte sich in Schottland an, wo Du geboren und erzogen wurdest. Wenn ich nicht irre, grenzte dies Besitzthum an das Schloß Leithmorin, das dem intimsten Freunde Deines Vaters, dem Lord Duncan, gehörte.« –[22]

»Ja,« sprach Elmerice, sich schnell entfärbend, »der kleine Garten unseres Hauses stieß mit dem Parke des Lord Duncan zusammen; wir haben wie Eine Familie gelebt – nur getrennt, wenn auf dem Schlosse Besuch einkehrte, denn hieran Theil zu nehmen, konnte meinen Vater selbst seine Liebe zu Lord Duncan nicht bewegen; doch sah er es gern, wenn ich unter der Aufsicht der ehrwürdigen Lady Duncan die Freuden der Geselligkeit kennen lernte.«

»Lord Duncan war jedoch bedeutend älter, als Dein Vater,« hob die Gräfin wieder an, der die schnelle Verlegenheit des jungen Mädchens nicht entgangen war; »er mußte erwachsene Kinder haben.«

»Der älteste Sohn von Mylord,« erwiederte Elmerice, »ist bereits seit zwei Jahren vermählt – er hatte noch einen erwachsenen Sohn, Lord Astolf, und Lady Marie, meine liebe Freundin, zwei Jahre älter als ich.«

»Mein armes Kind,« rief die Gräfin, vvn einer plötzlichen Ahnung berührt – »so viel liebe Freunde, eine so glückliche Lage mußtest Du in Deinem Vaterlande verlassen, um zu einer alten melankolischen Frau zu gehen, die keine andere Anziehungskraft für Dich haben kann, als die Liebe Deiner Aeltern? Kaum begreife ich Lady Duncan, daß sie Dich zu mir entließ, kaum das grenzenlose Vertrauen Deiner Mutter, Dich dem gewohnten Kreise zu entziehen, und einem Dir sogar bis auf Land und Sprache fremden hinzugeben.«

Elmerice schwieg – ihr Köpfchen hing bewegt auf ihrer Brust, unverkennbar lag auf diesen weichen jugendlichen Zügen das feine Lineament des ersten Kummers. – Die Gräfin glaubte sich nach diesem stummen Augenblicke in das Geheimniß ihres Schützlings eingeweiht, und von tiefer Theilnahme ergriffen, drückte sie sanft ihre Hand zwischen den ihrigen. – Elmerice blickte auf – und ihr Schweigen mit dem bittenden Lächeln[23] der Unschuld vertretend, drückte sie schnell die lieben Hände an ihre Lippen.

»O, scheltet mich nicht undankbar,« hob sie schüchtern an, »wenn ich nicht schnell Eure Zweifel beantwortete. Nicht verlegen war ich, Euch meine Meinung zu verbergen, nur wie ich sie Euch verständlich ausdrücken sollte, machte mich verstummen. – Nicht unerwartet,« fuhr sie fort, »kam mir diese liebe Bestimmung meiner Aeltern. Mein Vater, der Euch und Ardoise immer im Sinne trug, hatte meiner Mutter das Versprechen abgenommen, mit mir nach Frankreich und in Eure Nähe zurückzukehren, sobald der Tod, den er sich immer nahe glaubte, ihn abgerufen haben würde. Meine ganze Erziehung war darauf eingerichtet, in einem Lande nicht fremd mich zu fühlen, worin er mich später lebend wünschte. Er war der Sprache vollkommen mächtig, die ich durch ihn lernte; seine Erzählungen beabsichtigten, mich mit Sitten und Gebräuchen dieses von ihm so geliebten Frankreichs, wie mit dessen Geschichte mich so vertraut zu machen, als mit der meines Vaterlandes. Meine Mutter, die seinen Willen in allen Dingen heilig hielt, hätte ihm unfehlbar diesen Wunsch erfüllt, hätte sie es vermocht. Ihr wißt es,« fuhr sie mit bebender Stimme fort, »wie schnell sich ihre körperliche Hülle auflöste, der Sehnsucht folgend, die sie meinem Vater nachzog. Da hatte sie nur Einen Gedanken, nur Eine Sorge, die, mich Euch zu übergeben – und auch ich theilte nur das Verlangen, diesen ihren letzten Wunsch erfüllt zu sehen, und fühlte bei Euren günstigen Antworten die Beruhigung, die sie selbst empfand, wenn mich auch der Schmerz ihres nahen Verlustes ziemlich gleich gültig gegen meine Zukunft machte – was Ihr wohl natürlich finden werdet.«

»O mein theures Kind, wie vermöchte ich es anders!« rief die Gräfin – »aber dennoch, selbst so vorbereitet, ward es Dir sicher nur zu schwer, Leithmorin zu verlassen – und Deine[24] arme junge Freundin Marie. – Was habe ich damals gelitten, als ich mich von Deiner Mutter trennen mußte, die über zwei Jahre in unserer Familie lebte, und deren Platz nie mehr in meinem Herzen ersetzt werden konnte! – Aber obwohl sie sich so glücklich bei uns fühlte, sie sehnte sich doch zurück, und außerdem war ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit so groß, daß mein Bruder, der damals in das älterliche Haus zurückgekehrt war, sie nicht sehen konnte, ohne eine Neigung für sie zu fassen, der sie durch Entfernung zu entgehen dachte. Deine Mutter gehörte einer jüngern Linie eines sehr geachteten Hauses in England an – aber mein Bruder durfte sich nur mit einem ebenbürtigen Fräulein vermählen, wenn er Ansprüche auf die Titel des Namens d'Aubaine und auf die damit zusammenhängenden reichen Besitzungen behalten wollte. Seine Leidenschaft beherrschte ihn jedoch so, daß es ihm möglich schien, dem zu entsagen, und er mit allen Ueberredungsmitteln in unsere Aeltern drang, ihm die Bewerbung um Miß Eton zu gestatten. Da erfuhr das edle Mädchen durch meine Mutter selbst die peinliche Lage meiner Aeltern, und ihr Entschluß war sogleich gefaßt. Mein Vater entfernte meinen Bruder auf einige Tage, und unterdessen reiste Deine Mutter unter sicherer Begleitung durch Frankreich bis nach Calais, wo sie von Deinem Oheim, ihrem Bruder, empfangen ward und so nach England zurückkehrte. Ich habe sie nie mehr gesehen, obwohl wir uns nur mit der Hoffnung des Wiedersehens beim Abschiede trösteten; sie aber hatte durch ihre edle Aufopferung eine ganze Familie gegen die traurigsten Verwirrungen geschützt – freilich« – setzte die Gräfin nachdenklich hinzu, »sie liebte meinen Bruder nicht.«

»Ach,« rief Elmerice – »so war ihr das Härteste nicht auferlegt! O, wie beruhigt mich diese Versicherung! Wie könnte es mich noch heute, obwohl alle Leiden der Welt längst hinter ihr liegen, schmerzen, wenn sie die hätte durchkämpfen[25] müssen, die das Herz erleiden mag, so im Gedränge zwischen ernsten Pflichten und einer reinen Liebe, der heiligsten Empfindung des Herzens! – Doch,« fuhr sie nach einer Pause fort, da die Gräfin im Nachdenken verblieb, – »es geschieht wohl oft, daß auf diese Weise Menschen getrennt werden, die von der Natur bestimmt schienen, einander anzugehören, und Frankreich vor Allen scheint mir durch seine alten Familienverträge in dem Falle, so harte Verhältnisse herbei zu führen. Mein Vater sagte mir oft davon – es war während seiner Anwesenheit daselbst, denke ich, Mehreres geschehen, was ihn darauf hinwies.«

»Allerdings;« sagte die Gräfin, – »dies Land hat ganz die Formen behalten, die zu einer Zeit herrschen mußten, wo es nöthig schien, die entstehenden Familien durch solche Verträge gegen Verbindungen mit dem roheren Theile des Volkes zu schützen. Nicht, wie jetzt, war Bildung und Sitte ein Gemeingut der Nation, sie fing erst in den Kreisen sich zu entwickeln an, die durch größeres Grundeigenthum eine gesicherte, ruhigere Existenz gewonnen, und, über die Anstrengungen für den Erwerb des Lebens hinaus, Zeit und Gedanken für eine höhere geistige Entwickelung behielten. Die Geistlichkeit, als Hüter des schon vorhandenen Bildungsschatzes, wußte die Kreise, die so der höhern Sitte empfänglicher wurden, bald zu erkennen, und sie selbst half Verträge erdenken und stiften, welche die nöthige Absicht beförderten, solche Familien unter einander zu verbinden und durch Gesetze von dem roheren Haufen der noch unter dieser Bildung Stehenden abzusondern. Hierdurch ward der erste zarte Keim der Volksentwickelung geschützt und genährt; in diesen Kreisen wuchs sie auf und erstarkte, bis sie, dieselben überschreitend, in einer rechtmäßig organischen Entwickelung sich über die entgegen reifenden niederen Klassen ausbreitete, und die Idee einer Bevorrechtung des Individuums nach gerade in leere Einbildung zerfallen machte.«[26]

»Und dennoch hält man diese Formen fest,« sprach Elmerice, »die ihrer früheren Bedeutung leer geworden sind; und so viel gebrochene Herzen, so viel zerstörtes Lebensglück machte noch Niemand aufmerksam auf den wahren Inhalt dieser alt gewordenen Verträge?«

»Mein theures Kind,« sagte die Gräfin sanft, »wir können hier, wie überall, den Gang beobachten, den in ihrer Entstehung wohlthätige und nöthige Einrichtungen durch den Wechsel der Zeit, den sie mit bewirken halfen, erleiden. Vielleicht sind in diesem Augenblicke nur noch Wenige in Frankreich, die im Stande wären, unsere Unterhaltung nicht mit Staunen, vielleicht mit Unwillen zu hören – ja, es ist noch nicht lange, daß ich selbst mich von diesen Ansichten, mit denen ich auferzogen, beherrscht fühlte und ohne Widerrede geneigt war, ihnen jedes Opfer zu bringen. Erfahrungen, Einsamkeit und Lectüre, gewiß aber und vor Allem, daß ich mit vielen und ausgezeichneten Menschen lebte, die, wenigstens nicht erstarrt in dieser Form, schon die Zeit ahnend herauf dämmern sahen, die sich den gewohnten Ansichten entgegenstämmen wird, machte mich zu einer Entwickelung bereiter, der ich mich jetzt nicht mehr entziehen kann. Je mehr aber ein innerer Verfall, um sich greifend, das lang Bestandene zu bedrohen scheint, je mehr werden wir finden, daß die Form festgehalten und der Irrthum genährt wird; daß sie es ist, um deren Behauptung es sich handelt, das sinkende Ansehn vor der sich auflehnenden Weltordnung zu schützen. Auch gehört sicher eine große Selbstüberwindung dazu, der schwächsten Seite dieser Sache, eben ihres lang behaupteten Rechts, nicht zugleich als eines Vorzugs gedenken zu sollen, da allerdings etwas Schmeichelhaftes darin liegt, sich der Kaste angehörend zu wissen, die am längsten sich des Besitzes geistiger und sittlicher Vorzüge rühmen darf, und auf eine dadurch mit sich geführte Veredlung des Blutes des ganzen Individuums[27] bauen durfte. – Du denkst mit Stolz und Enthusiasmus Deines vortrefflichen Vaters! Das schönste Gefühl der menschlichen Brust, das Gefühl kindlicher Liebe, wird vielleicht, wenn Dich das Leben versuchen sollte, eine Waffe dagegen. Den Namen eines Vaters tragend, den Du so hoch stellst, willst Du sein würdig handeln, Du glaubst von so edlem Ursprunge höhere Anforderungen an Dich – laß' mich hinzusetzen, an die Anerkennung Anderer machen zu können; und so entwickelt sich naturgemäß in jeder edel strebenden Brust ein ähnliches Gefühl, als die Kaste des Adels sich gewöhnt hat zu nähren, jetzt freilich mit dem bedeutenden Unterschiede: ihre Handlungsweise nicht mehr solchen Erinnerungen getreu zu behüten, sondern in den alten Ansprüchen sich zugleich befähigt zu ihrem Besitz haltend. Ludwig der Vierzehnte, der eifrigste Beschützer der alten Adelsvorrechte, hat ihnen doch, vielleicht ahnungslos und in anderer Richtung strebend, durch die geistvolle Weise, wie er Künsten und Wissenschaften einen Platz um seinen Thron einräumte, den Todesstoß gegeben. Die Aufklärung, welche ihre Blüten, Künste und Wissenschaften, gedeihen läßt, ist auf diesen Punkt gestiegen, nicht mehr als Eigenthum höherer Stände, von ihnen ausschließlich fest gehalten, zu denken. – Es sind die Quellen des Nils, die das Flußbett, worin sie eingefangen wurden, in eigner Fülle und Kraft anschwellend überschreiten, und ein ganzes Land befruchtend überziehen; wer einmal die Erndte nach ihrem Säen kennen lernte, blickt Zeit des Lebens aus nach dem seltenen Sämann, der nicht frägt, ob der Boden, den er bestreut, dem bevorrechteten oder belasteten Bürger der Erde gehört.«

»Die Zeit ist also erst im Entstehen,« sagte Elmerice sinnend, »die ein freies Wirken und Schaffen unter Gleichgesinnten herauf führen wird – vorerst hat das reichere geistige Individuum keine Freiheit zu hoffen, als eben die innere, durch edles Streben selbst geschaffene.«[28]

Die Gräfin fühlte mit wehmüthiger Theilnahme, wie dies schöne liebenswürdige Wesen, aus den Wegen allgemeiner Anschauung stets zu sich selbst abzulenken wußte, und das eigene Interesse an diesem Standpunkte prüfte. Da England und Schottland, besonders die alten Familien, zu denen Lord Duncan Leithmorin gehörte, ganz in denselben Vorurtheilen befangen waren, zweifelte sie nicht, daß Lord Astolph die Veranlassung zu den schwermüthigen Betrachtungen war, mit denen ihr holder Schützling den Standpunkt der Zeit beleuchtete.

Diese Gedanken wurden durch das Erscheinen von Lorint unterbrochen, welcher die Abendtafel anmeldete, und die Gräfin d'Aubaine erhob sich, ihre junge Freundin mit sich führend. Die kleine Tafel war in dem Boiseriezimmer bereitet, welches zuerst durch seine interessanten Portraits die Aufmerksamkeit der Miß Eton gefesselt hatte. Auch jetzt – der Dame im Brautschmucke gegenüber sitzend, lächelte diese mit einer Fülle von Liebe und Trost auf sie nieder, daß sie fast die Blicke nicht abzuwenden vermochte und damit die Aufmerksamkeit der Gräfin d'Aubaine auf sich zog.

Nachdem sie sich umgewendet und das Bild erkannt, lobte sie die Schönheit desselben. – »Es war eine Jugendfreundin meiner Mutter,« fügte sie hinzu – »sie ließ sich in dem Brautkleide malen, welches sie bei ihrer Vermählung mit dem Marquis d'Anville trug, und worin meine Mutter sie so schön fand, daß sie so ihr Bild sich zu erhalten wünschte.«

»Die Marquise d'Anville!« rief Elmerice mit einer Ueberraschung, die ihr ganzes Gesicht in Purpur tauchte.

»Hörtest Du von ihr?« fragte die Gräfin.

»Ja, ja,« erwiederte Elmerice, »ich hörte von ihr« – doch plötzlich schwieg sie, und die Gräfin, die ihre sichtliche Bestürzung nicht durch Fragen vermehren wollte, war bemüht, durch ruhig einlenkende Gespräche das heftig erschütterte junge[29] Mädchen aus ihrer peinlichen Stimmung zu ziehen. Elmerice strebte dieser liebreichen Absicht zu begegnen, doch wagte sie nicht wieder die Augen zu dem wunderbar schönen Bilde zu erheben.

Als die Tafel vorüber war, führte die Gräfin d'Aubaine Miß Eton selbst nach ihren Zimmern, die in der freigebigsten Ausstattung Alles enthielten, was dem Reichthume der Gräfin zu geben gebührte und mit den Ansprüchen der Bildung zusammen hing, zu denen sie ihren Schützling berechtigt hielt. Geschickt wußte sie sie zugleich mit den ehrenvollen Verhältnissen, die sie ihr zugestand, bekannt zu machen und ihr die Revenuen ihres elterlichen Vermögens, welche durch ihre, als der Vormünderin, Hände gingen, zur freien Disposition zu stellen.

Beide Frauen trennten sich dann für die Nacht, mit gegenseitig angenehm belebten Hoffnungen für ein ferneres Beisammenleben.


Es zeigte sich bald, wie leicht sich die beiden Frauen neben einander einwohnen sollten. An regelmäßige Zeiteintheilung gewöhnt, trennten sie ihre Beschäftigungen, und führten sie zusammen, in so ungesuchter Ordnung, mit so wachsendem Interesse für einander, daß man die Stirn der Gräfin d'Aubaine nie so unumwölkt gesehen, seit lange das Herz der Miß Eton nicht in so ruhigem Takte geschlagen hatte.

Die vorschreitende Jahreszeit, die geschmackvollen Gärten, noch mehr aber die schönen, daran gränzenden Wälder von Ardoise boten die genußreichsten Spaziergänge, und Miß Eton, die nach Art der Engländerinnen diese zu ihren täglichen Beschäftigungen zählte, fühlte sich ungemein dadurch angezogen und unterhalten.[30]

Ihre Erscheinung war den Bewohnern von Ardoise bekannt und lieb geworden. Die Kinder erwarteten das Schloßfräulein um die Stunde ihrer Promenaden, und vertraten ihr mit der schüchternen Hoffnung ihres Grußes oder Scherzes den Weg, ihr zartes grünes Laub oder eine frühzeitig emporgesproßte Wiesenblume überreichend; die jungen Mädchen ergötzten sich an der Schönheit und vornehmen Kleidung und dem immer gleich freundlichen Wesen – während die älteren Leute des Dorfes, die Leidenden, die Kranken oder von Verlusten Getroffenen, ihren sanften Zuspruch genossen und aus ihren Händen die reichen Gaben empfingen, die zu spenden ihre Lage ihr erlaubte, oder welche die Gräfin d'Aubaine durch sie austheilen zu können sich freute.

Sie fühlte so nach gerade in den Umgebungen von Ardoise eine Sicherheit, die sie ihre Wanderungen immer weiter ausdehnen ließ, da auch hier bekannte Förster vollkommenen Schutz zu gewähren schienen.

An einem schönen Nachmittage hatte sie ihren Weg bis zu einem verlassenen Steinbruche ausgedehnt, dessen höchst romantische Lage sie anzog, und wo sie niedersitzend eine lange Zeit in den tiefen Grund blickte, der, mit schlanken Edeltannen bewachsen, nur einzelne niedergestürzte Steinmassen blicken ließ und ein kleines Thal bildete, dessen saftig grüner Moosgrund immerfort bespült ward von einem silberhellen Bächlein, das, tief aus den Steinbrüchen sich hervorarbeitend, seinen lustigen Lauf über grün bemooste Steine durch den schmalen Thalweg verfolgte. Längst schon hatte sich Elmerice gewünscht, bis zu ihm niedersteigen zu können, aber vergeblich nach einem Wege ausgesehen; die pyramidenartig emporsteigenden Tannenwipfel allein, die, schräg herablaufend, nur einen sehr steilen Abhang annehmen ließen, zeigten sich ihren Blicken.

Abermals durchspähte sie in allen Richtungen den Waldgrund, als sie sich gegenüber einen Jäger er blickte, der, auf[31] einem jäh vorspringenden Felsblocke sitzend, seine ganze Aufmerksamkeit, wie es schien, ihr zugewendet hatte. Ueberzeugt, einen der vielen Jäger zu erkennen, die ihr bereits bekannt waren, winkte sie ihn zu sich herüber in der Hoffnung, von ihm Aufschluß über einen möglichen Weg zu erhalten. Die Gestalt blieb aber ohne Bewegung sitzen, sie immerfort anstarrend, ihre Winke, wie es außer Zweifel war, gewahrend, ohne Lust, wie es schien, ihnen zu folgen. Miß Eton fühlte plötzlich ein fast unerklärliches Grauen, und schnell von ihrem Platze aufstehend, beschloß sie den Rückweg anzutreten, als sie, von unwillkürlicher Besorgniß getrieben noch ein Mal umsah und nun die plötzlich belebt gewordene Gestalt des Jägers gewahrte, der mit der Schnelligkeit einer Gemse, oben an dem äußersten Rande des Steinbruchs entlang, ihr entgegen lief. Miß Eton mußte gleichfalls, um den Rückweg zu erreichen, einen kaum bemerkbaren Fußsteig an diesem Rande der Höhe zurücklegen – und indem sie hastig vorschritt, in der Hoffnung, dem unheimlichen Waidmanne zu entgehen, sah sie bald die Unmöglichkeit davon ein, da er bereits den Punkt überschritten hatte, wo sie hätte einlenken können, so daß jetzt ein Begegnen auf dem schmalen Pfade unausbleiblich ward. – Diese Ueberzeugung ließ sie einsehen, daß sie ihre Unruhe beherrschen müsse, und sie blieb einen Augenblick stehen, um Athem zu schöpfen. Der Jäger eilte noch einige Schritte vor, dann blieb er ebenfalls stehen und schaute sie, auf sein Gewehr gestützt, vorgebogen aus hohlen Augen an.

Miß Eton hatte Zeit, die wunderliche Erscheinung zu prüfen, und mit Grauen drängte sich ihr ein Bild auf, das an Wildheit und Sonderbarkeit alles Andere überbot.

Sein todtenbleiches Gesicht war fast überwachsen von dem starken schwarzen Haare, das Kopf, Kinn und Mund bedeckte – die farblosen großen Augen starrten mit einem trüben Wasserglanze[32] hervor und waren so fürchterlich anzuschauen, daß Elmerice davon wie erstarrt ward. Seine starke Gestalt von mittler Größe zeigte noch jetzt in ihrer traurigen Vernachläßigung von ehemaliger Schönheit, und die abgetragene, zum Theil zerrissene Kleidung von früherer Sorgfalt und Wohlhabenheit. – Er hatte einen flachen Hut mit breiter Krempe und einer alten zerbrochenen Feder auf dem Kopfe, woran ein Strauß gemachter Blumen mit Goldblättchen und Perlen hing, überdeckt mit einem halbzerrissenen Streifen schwarzen Flors. – Ohne die Lippen zu öffnen oder eine Bewegung zu machen, schaute er sie grauenhaft neugierig an. Auch Elmerice glaubte das Blut an ihrem Herzen stocken zu fühlen, denn vorüber schien er sie nicht lassen zu wollen; ja, der Weg war so schmal, daß sie nur, wenn er umkehrte, hinter ihm hergehend, weiter zu kommen hoffen konnte. Eines neuen Gedankens unfähig, ergriff sie der bei seinem ersten Anblicke gefaßte, ihn um Nachricht über den Weg zum Thal hinab zu fragen, und von der Qual des Schweigens getrieben, rief sie mit wankender Stimme: »Wißt Ihr nicht den Weg hinab von dieser Höhe in das Thal?«

Sein Schweigen dauerte fort – er bog sich noch mehr vor und schien, indem er jetzt die Augen zur Erde niederschlug, über das Gehörte nachzudenken.

So wie sich seine grauenhaften Augen von ihr abwandten, faßte Miß Eton neuen Muth – »ich frug Euch, guter Freund,« hob sie mit ruhigerer Stimme an – »ob Ihr den Weg in das Thal hinab kennt?«

Jetzt fuhr die Gestalt zusammen, und mit einer konvulsivischen Bewegung in sein Haar greifend, rief er, indem er sie aufs Neue anblickte: »Lebst Du denn, Jenny? Und sprichst mit mir? Und das war nicht Dein Geist auf dem Felsensitz? – Bei diesen Worten schlich er furchtsam vorgebeugt näher und hatte jetzt das Fräulein fast erreicht. Miß Eton fühlte ihre[33] Kniee beben – sie übersah schnell, daß der, welcher diese Worte mit dem sanftesten, schwermüthigsten Tone der Stimme sprach, kein Räuber, aber eben so schrecklich, ein Wahnsinniger sei.«

»Ihr irrt Euch,« stammelte sie, den Stamm einer jungen Fichte umfassend, »ich heiße nicht Jenny! ich gehöre in das Schloß der Gräfin d'Aubaine, führt mich dahin, oder – ich bitte Euch – haltet meinen Weg nicht auf, die Gräfin erwartet mich.«

»Ach, warum sagst Du mir das Alles, was ich ja weiß! Wohl wird Dich die Gräfin erwarten – aber wo warst Du? – Du hast sie so lange schon warten lassen, daß sie Dich nicht mehr erwarten wird – aber mich? mich? warum hast Du denn auch mich warten lassen? so lange, so vergeblich?« Hier verzog ein konvulsivisches Weinen sein zum tiefsten Schmerze ausgeprägtes Angesicht.

»Armer Unglücklicher,« sprach Miß Eton, deren Rührung über ihre Angst zu siegen begann – »Du bist wohl recht traurig und leidest wohl großen Schmerz? Doch kann ich Dir Deinen Kummer nicht lindern, denn ich bin nicht, wofür Du mich hältst – aber ich bitte Dich, da Du unglücklich bist, habe Mitleid mit mir und laß' mich jetzt ungehindert weiter gehen!«

»Ich Dich gehen lassen?« rief der Jäger dagegen in wilder Hast, »ich soll Dich aufs Neue verlieren?« – Eine fürchterliche wilde Angst brach aus seinen Zügen und verwandelte die Todtenbleiche seiner Farbe in Purpurglut. »Niemals! Niemals!« rief er mit solcher Heftigkeit, daß Elmerice, die Besinnung verlierend, fast bewußtlos gegen den Abgrund zustürzte. Da fühlte sie sich mit einer Gewalt ergriffen, als ob eine Riesenhand sie umspannte, und sie sah sich nun gänzlich in die Macht des Wahnsinns gegeben. – »Willst Du wieder hinabstürzen, willst Du nicht warten, bis ich Dir den schönen ebenen Weg gezeigt, den ich ja für Dich schon fertig gemacht hatte, ehe[34] Du Dir selbst den steilen, rauhen hier suchtest. Ach, hättest Du noch einen Tag gewartet, so hätte ich ihn Dir gezeigt! – Sie sagen,« fuhr er fort, ganz zerstreut mit der Hand an seine Stirn fahrend, indem er die zitternde Elmerice aus seinen Armen ließ – »Du seist hinab gestürzt, als Du in der Finsterniß nach Ardoise zurück wolltest, hier unten hätten Deine blutigen Gebeine gelegen – da habe ich sie gesehen – da!« fuhr er fort und starrte vor sich hin – »ganz in Blut! Dein Köpfchen geknickt daneben, Deine lieben Arme zerrissen – warst Du das?« – Er fing still und bitterlich an zu weinen. – »Hätte ich Deinen Wunsch erfüllt und Dich den Tag vor unserer Hochzeit hinab geführt, dann könnte ich doch schlafen, wie Du, aber so, – wer konnte auch denken, Du würdest Wort halten und hinabsteigen!« Er schien Elmerice ganz vergessen zu haben, die Vergangenheit trat mit allen ihren schmerzenden Bildern ihm nah'; Miß Eton raffte aufs Neue ihren Muth zusammen und versuchte zurück zu kehren – da hörte er ihr Gewand rauschen, er blickte um, er sah sie und schrie krampfhaft auf. »Jenny, Jenny, Du willst doch fort?« rief er, sich ihr nachstürzend; – »nein, nein, geh' nicht, ich bitte Dich, geh' nicht! oder es geschieht, was die Leute sagen, und ich verliere den Verstand!«

Miß Eton blieb stehen, unfähig zu gehen, aber wohl fühlend, daß jeder Versuch, ihn zu verlassen, ihre Lage bedenklicher machte, rief sie schnell entschlossen: »Nun wohl, ich will Euch nicht verlassen – aber bringt mich selbst nach Ardoise zurück – ich bitte Euch, thut das!«

»Ja!« sagte er sanft und freundlich, »das will ich gewiß, aber erst muß ich Dir den schönen Waldweg zeigen, den ich für Dich gemacht, und von da aus führe ich Dich durch den Steinbruch einen Weg, den Niemand kennt, nach Ardoise; dort bei unserer Hütte, in der wir uns immer trafen – weißt Du noch, liebe, liebe Jenny? O, Du hast doch nichts vergessen?[35] Denn es ist lange her, wie sie Dich begruben – dazwischen war Winter – da hatten sie mich eingesperrt – nun ist die Zeit unserer Hochzeit wieder da! und nun kommst Du auch, und bist so schön, so schön! Du bist wohl noch schöner geworden, weil Du ein Engel geworden bist.«

Miß Eton hörte trotz ihrer Angst mit Rührung und Interesse die Klagen des Armen, dessen Schicksal sie aus seinen Andeutungen hinreichend errathen konnte, aber sie wußte ihm nichts mehr zu antworten; sie zitterte eben so sehr vor seiner Begleitung, als vor dem Zustande, worin ihn ihre Weigerung versetzte. – »Laßt uns ein anderes Mal diesen Weg versuchen,« sprach sie schüchtern, »ich bin heute ermüdet, kann so weit nicht mehr gehen.«

»Ermüdet bist Du? – da müssen wir uns erst ausruhen. O gehe nur wenige Schritte weiter, so will ich Dir einen schönen Moossitz zeigen, wo Du ausruhen kannst, und dann steigen wir hinab – oder ich trage Dich bis dahin.«

»Um Gottes Willen, nein!« rief Miß Eton und eilte, so schnell sie vermochte, voran – sie fühlte, daß ihr nichts übrig blieb, als sich ohne Widerstand in seine Gedanken zu fügen, sie hoffte ihn so sanft zu erhalten – vielleicht traf sie auf dem Wege einen Schutz, vielleicht leitete er sie selbst, in dem Wahne, die Geliebte zu führen, sicher nach Ardoise zurück.

»Nein,« rief er und schob sie sanft zurück, »Du mußt mich voran lassen! ich zeige Dir den Weg.« Dies war in der That nöthig, denn eben bog der Fußsteig, den sie bisher verfolgt, auf eine Art ab, die ihn fast verschwinden ließ. Abermals blieb Miß Eton schaudernd stehen, gewiß, er glaube nur in seinem Wahnsinn an einen hier vorhandenen Weg – aber nur noch wenige Schritte, und sie sah ihren Irrthum ein – eine kleine Wendung zeigte ihr den Moossitz, von dem aus eine mühsam behauene Treppe mit kleinem Holzgeländer nieder stieg. Er bat[36] sie nun, auszuruhen; geduldig nahm Miß Eton den Sitz ein, und hart zu ihren Füßen setzte sich der Unglückliche auf die Treppe vor ihr nieder.

Obgleich die Umstände, unter denen Elmerice hier ausruhen mußte, wenig geeignet waren, einen Antheil an Naturschönheit zuzulassen, mußte sie doch wahrnehmen, wie ausgezeichnet dieser Punkt gewählt war. Die Fichtenwand war hier von Oben nach Unten durchbrochen, und in diesem schmalen schwarzen Vorgrunde schloß sich, wie in einem Rahmen, die blaue Ferne ein, die in dem gebrochenen Lichte der in Nebel gehüllten Abendsonne wie ein unabsehbares Meer ausgebreitet lag, und das Auge nach den kolossalen Steinwänden zurückzog, die, halb mit Moos überwachsen, halb ihre eigenthümliche gelbrothe Farbe zeigend, den Mittelgrund bildeten, während unten das helle Grün des Thales mit dem silbernen Streifen des kleinen Baches heraufleuchtete. – Schweigend starrte der Unglückliche gleichfalls in die Gegend, und wie es schien, wirkte das Außerordentliche dieses Anblicks auf ihn: denn Stille, müde Ruhe verbreitete sich auf seinem Antlitz und schien ihn in ein glückliches Selbstvergessen einzuhüllen.

Miß Eton, immer den Gedanken verfolgend, ihn in Güte zu entfernen, und wahrhaft über den Weg in Sorge, den sie vor sich jäh in den Abgrund steigen sah, von dem nahenden Abend doppelt besorgt gemacht, erhob sich wieder und sagte, so ruhig sie vermochte: »Die Treppe ist zu steil für mich – ich will den Weg zurückgehen, den ich gekommen, und bitte Euch, daß Ihr mir folgt.«

Der Jäger sprang auf und schien Alles vergessen zu haben, seinen Wahn, seine Hoffnungen. »Laßt mich,« rief er ängstlich, »folgt mir nicht! Niemand soll diese Treppe betreten, als Jenny – und sie ist todt, längst todt! und Alles ist umsonst – Alles vergeblich! Ach, Alles! Alles!«[37]

Aufs Neue fühlte sich Miß Eton erschüttert von diesem Schmerzenstone, von dem Unglück des armen Wahnsinnigen gerührt – aber die Hoffnung, ihm jetzt vielleicht entschlüpfen zu können, überstieg doch jedes andere Gefühl. Sie eilte daher hinter ihm fort, den eben verlassenen Weg zurück. Der Jäger blieb noch einige Augenblicke in Gedanken stehen – als er, sich plötzlich umwendend, Miß Eton wieder erblickte. »Jenny, theure Jenny!« rief er, sich ihr nachstürzend – »jetzt, jetzt eile Dich! Es ist heut' unser Hochzeittag – Du weißt, wir müssen uns noch putzen, und dann nach Ardoise zur Gräfin gehen.«

»Ja,« sagte Miß Eton – »aber ich bitte Euch, laßt uns diesen Weg gehen!«

»Nein!« rief er mit ausbrechender Heftigkeit – »diesen sollst Du gehen – diesen will ich Dich führen, damit Du nicht wieder Deinen eigenen fürchterlichen Weg gehst, in den Abgrund hinein!« – Wild umfaßte er das Fräulein und riß sie gegen die Treppe.

Ein lauter Schrei entpreßte sich ihrem Munde – bebend, aber mit aller Kraft, die ihr noch blieb, entriß sie sich ihm, und nun überzeugt, nur williges Nachgeben könne sie retten, folgte sie, ihm ihre Hand überlassend, ein Paar Stufen in den Abgrund hinab. Aber was sie befürchtet, bestätigte sich nur zu sehr: nachdem sie wenige Stufen hinunter gegangen, sah sie, daß die Treppe etwas weiter plötzlich aufhörte und sich nur in einem schroffen jähen Abhange mit einzelnen weitliegenden Steinen fortsetzte. »Ihr wollt mich umbringen!« rief sie angstvoll – »die Treppe hört hier auf! O, um Gottes Willen erbarmt Euch und laßt mich umkehren – hier muß ich in den Abgrund stürzen – seht, gleich hören die Stufen auf, und dann bin ich verloren!«

»Nein!« sagte er heftig – »hier ist der Weg, den ich für Dich behauen habe, Keiner hat ihn seitdem betreten dürfen, er[38] muß noch haltbar sein! Habe ich darum die langen Nächte ihn bewacht und selbst dem Wilde mit dem Laufe dieser Flinte den Weg darüber gehindert, daß Du jetzt ihn verachten willst? Nein, Du mußt hinab! Ich werde Dir helfen.« – Er streckte wieder die Arme aus – Elmerice stieß abermals einen Angstschrei aus und drängte sich jetzt selbst in verzweifelter Hast einige Stufen herunter – doch jetzt hatte sie nur noch vier Stufen vor sich, jede wankte unter ihrem Fuße, und sie sah mit Entsetzen, wie er diese Schwierigkeit nicht bemerkte, nicht ahnete. – Sie blieb stehen und ihr Auge schweifte verzweifelnd umher. Da war es ihr, als sähe sie seitwärts, höher als sie selbst eben stand, eine männliche Gestalt gegen das Gebüsch sich bewegen. Augenblicklich lebte die Hoffnung in ihr auf – mit allem Muthe, den sie noch in sich trug, riß sie sich los, lief die Treppe zurück und rief mit größter Anstrengung nach Hülfe, während ihr Auge an der Steinwand hängen blieb, an der sich ihrem Rufe entgegen die Gestalt zu bewegen anfing und den Weg zu suchen schien, der hinüber führen könnte. Aber in demselben Augenblicke brach, durch den erfahrnen Widerstand gereizt, die volle Wuth des Wahnsinnigen hervor – er stürmte ihr nach, Verwünschungen brachen aus seinem Munde, er ergriff sie und versuchte sie die Treppe aufs Neue hinab zu ziehen, weil Miß Eton halb ohnmächtig vor Schreck sie nicht mehr zu steigen vermochte. Da hörte sie einen Schuß, einen wilden Schrei ihres Verfolgers, und fühlte, wie seine Arme nachließen und er, zur Erde sinkend, sie niederzog – noch ein Mal richtete sie sich mit der geringen Kraft, die ihr nach so vielen Erschütterungen geblieben war, empor und wehrte sich gegen das drohende Hinabstürzen, indem sie krampfhaft das kleine Geländer der Treppe ergriff. So mußte sie sich erhalten, bis sie einige Besinnung gesammelt. Ihre Lage hatte sich nur wenig gebessert – zu ihren Füßen war der Unglückliche niedergesunken, der, mit Blut bedeckt, zwar die[39] Kraft verloren hatte, sich mit ihr in den Abgrund zu stürzen, aber, auf ihren Füßen liegend, ihren Shawl krampfhaft zwischen seiner zusammengeballten Hand haltend, in den unruhigsten Bewegungen, mit dem Bestreben, sich aufzurichten, jeden Augenblick das schwankende, zitternde Fräulein in den Abgrund zu reißen vermochte. Der Schuß, der als schnell nöthiges Rettungsmittel von ihrem unbekannten und jetzt ganz verschwundenen Wohlthäter abgefeuert ward, das niederströmende Blut, von dem sie ihr weißes Gewand bald gefärbt sah, die entsetzliche Vorstellung, vielleicht den Tod dieses Unglücklichen veranlaßt zu haben, dies Alles machte ihr eine nöthige Fassung, um die Umstände zu ihrer Flucht zu benutzen, fast unmöglich. Entzog sie ihren Shawl seiner Hand oder wickelte sie sich selbst davon los, so verlor er seinen einzigen Anhalt und mußte ohne Rettung in den Abgrund stürzen, da sie ihm, wenn auch nur schwach, doch als Stützpunkt diente. Es war ihr unmöglich, eine andere Auskunft zu entdecken – und eben so unmöglich, ihre Rettung um solchen Preis zu bewirken. Da hörte sie ein fernes Anrufen – bald wieder, und näher schon – sie faßte Hoffnung, es konnte Hülfe nahen – sie rief zurück und erhielt eine schnelle Antwort, obwohl die Bewegungen ihres Peinigers durch dieses Rufen noch heftiger wurden, und ihre Lage mit jedem Augenblicke gefahrvoller. Jetzt glaubte sie das Gebüsch durchbrechen zu hören, und plötzlich stand eine hohe Männergestalt am Rande der Treppe, die, ihre entsetzliche Lage schnell übersehend, rasch und geschickt hinabstieg, und in demselben Augenblicke neben dem Fräulein stehend, auch den Arm des Unglücklichen ergriffen hatte und, indem er ihn empor riß, dem Fräulein Freiheit gab, sich zu bewegen. So wie sie die Last von ihren Füßen gehoben fühlte, versuchte sie die Stufen hinan zu steigen, aber ihre Kräfte ließen mit jedem Schritte mehr nach, und auf der obersten angelangt, sank sie willenlos auf den Boden nieder.[40]

Der Fremde hatte indessen den Verwundeten erfaßt und schleppte ihn sich nach, bei dem Anblicke des Fräuleins ihn auf sicheren Boden niederlegend und zu ihrer Hülfe herbeieilend. – Er hob sie vom Boden empor und lehnte sich in den Steinsitz, indem er ihr den Hut abnahm, um ihr Luft zu verschaffen. Das Fräulein schlug die Augen auf – Beide blickten sich an und fuhren mit dem lebhaftesten Ausdrucke der Ueberraschung zurück.

»Um Gottes Willen – Fräulein Eton!« rief der Fremde – »in welcher Lage finde ich Euch! welch' ein entsetzlicher Augenblick macht mich so glücklich, Euch nützlich sein zu können!«

Das Fräulein stand auf – die Gemüthsbewegung, die ihr der Anblick des Fremden sichtlich in anderer Richtung gegeben, schien ihre geschwächte Kraft zurück zu rufen. – »Ich bin Euch großen Dank schuldig,« sagte sie hastig – »erlaubt, daß ich jetzt die mir wohlbekannten Wege durch diesen Wald nach Ardoise eile, diesem Unglücklichen von dort aus Hülfe zu senden.«

»Das heißt so viel,« entgegnete der Fremde mit vorwurfsvollem Ton, »ich eile, mich Eurem Schutze, Eurer Hülfe so schnell, als möglich, zu entziehen. – Ja, Elmerice, ich ahnete, daß Ihr hier sein würdet – und der Freund, der, von seinem sehnsüchtigen Herzen getrieben, den Weg bis hieher fand, verdient er kein anderes Willkommen, als den Wunsch, seiner wieder los zu werden?«

»Ich habe nicht das Recht, Euch aufmerksam zu machen, ob Ihr diesen Weg finden durftet – Ihr werdet eben so wenig vergessen, was Ihr Euch schuldig seid, als es mir nicht entfiel, was mir zusteht. – Seid jedoch sicher,« setzte sie mit bebender Stimme hinzu, »ich werde es ewig dankbar bewahren, was ich Euch in dieser Stunde schuldig ward, mögen Eure übrigen Handlungen so bleiben, daß ich Euch dieses Gefühl ohne Beimischung erhalten kann.«[41]

»O, Elmerice,« rief hier der Fremde mit dem tiefsten Ausdrucke zärtlichen Schmerzes – »seid Ihr wirklich so hart, als Eure Worte? In das dürre Gebiet der Dankbarkeit verweist Ihr jedes Gefühl für mich, und auch dies stellt Ihr noch unter Bedingungen, die den Zweck haben, von mir das Einzige zu fordern, wogegen sich mein Herz mit allen seinen Kräften auflehnt! Denkt Ihr, es gäbe eine Gewalt, gegen die ausreichend, die aus einem wahrhaft liebenden Herzen dringt? O, Elmerice, wie wenig müßt Ihr die Gefühle kennen, von denen mein Herz durchdrungen ist, eine Rettung, eine Auskunft in der Trennung zu hoffen! Sie ist es, die uns lehrt, welchen Werth das übrige Leben behält, wenn uns das geraubt wird, wodurch wir erst zur Fähigkeit gelangten, es zu lieben.«

»Haltet ein;« rief Miß Eton, mit neuem Versuche, den Rückweg anzutreten – »vergeßt Euch nicht selbst! – vergeßt nicht, was Ihr mir schuldig seid, und wie wenig diese Sprache für uns gehört, ja, wie beleidigend ich sie finden müßte, wüßte ich nicht, daß Ihr dies nicht beabsichtigt. Aber laßt meine einfache dringende Bitte etwas gelten und schont meine Ruhe, indem Ihr zurückkehrt und Euch an den Gedanken zu gewöhnen sucht, daß ich Euch nur eine entfernt bleibende Freundin sein kann! Ich bitte Euch,« unterbrach sie ihn zitternd, als er ihr antworten wollte – »haltet mich jetzt nicht länger auf – wir dürfen den Unglücklichen nicht vergessen, der dort unserer Hülfe benöthigt ist – ich selbst,« fuhr sie fort, »bedarf der Ruhe, und meine Kleidung, die mit seinem Blute gefärbt ist, erfüllt mich mit Schauder.«

Dies entschied bei dem Fremden, der augenblicklich zurück trat; und Miß Eton eilte nun einige Schritte auf dem Fußpfade vor, der sie, an einem kleinen Vorsprunge vorüber, auf eine gesicherte Stelle führte.

»Lebt denn wohl!« sagte hinter ihr eine zitternde Stimme – Miß Eton blickte schüchtern um und gewahrte, wie der[42] Fremde ihr noch einige Schritte gefolgt, jetzt an einen Baum gelehnt, ihr nachblickte – sein Angesicht war todtenblaß, und der linke Arm hing wunderbar schlaff an ihm nieder. – Einen Augenblick schien das Fräulein den schmerzlichsten Kampf zu kämpfen, dann eilte sie, zurückgrüßend, so schnell es ihre Kräfte zuließen, den Weg nach Ardoise zurück.

Am Eingange des Waldes stieß sie auf die Leute der Gräfin d'Aubaine, welche diese, über ihr langes Ausbleiben höchlichst beunruhigt, ihr entgegen geschickt hatte. Der Anblick des Fräuleins, ihre in Blut getränkten Kleider, ihr blasses, erschöpftes Ansehn, erfüllte Alle mit Schrecken. In wenigen Worten erläuterte sie Ihnen das Vorgefallene, und jede Hülfe von sich ablehnend, bat sie vor Allem, zu dem Unglücklichen zu eilen, den sie nur mit dem tiefsten Entsetzen sterbend zu denken vermochte. Sie selbst eilte, sich so unbemerkt, als möglich, nach dem Schlosse zu schleichen, um durch ihren Anblick die gütige Freundin nicht zu erschrecken. Umgekleidet eilte sie alsdann zur Gräfin d'Aubaine, durch ihren Anblick die Mittheilungen zu mildern, die so viel Erschreckendes hatten.

»Aber, mein theures Kind,« fuhr die Gräfin fort, nachdem sie an ihre Freude über die glückliche Rettung ihres Lieblings manchen zärtlichen Vorwurf über die dreisten Wanderungen angeknüpft – »wären wir doch nur so glücklich, den Fremden wieder zu finden, der uns einen so unschätzbaren Dienst leistete! Du kanntest ihn also nicht?« fuhr sie fort, als das Fräulein schwieg – »aber vielleicht gehört er doch zu meinen Nachbarn, und wir können ihn ausforschen und unsere Dankbarkeit ihm bezeigen.«

»Ich glaube nicht« – sagte das Fräulein rasch und unruhig – »es war gewiß ein Fremder – ja, ich erinnere mich genau, daß es ein Fremder war – er wird abgereist sein – wir werden ihn nicht auffinden.«[43]

»Sagte er Dir dies?« fragte die Gräfin, das Gespannte und Aengstliche in diesen Worten fühlend.

»Ich glaube, ja!« – seufzte Miß Eton, »aber ich weiß es nicht genau zu sagen.«

»Ich aber,« sagte die Gräfin und erhob sich lächelnd – »weiß sehr genau, daß mein liebes Kind mich sogleich verlassen wird, und ihren Gehorsam mir zeigen, indem es sich niederlegt und so viel Schrecknisse durch Ruhe auszugleichen sucht.«

Miß Eton zeigte sehr gern den verlangten Gehorsam, und eilte, die Ruhe ihres Lagers zu suchen, wenn wir uns auch nicht dafür verbürgen wollen, daß sie dieselbe, nach so vielen Erschütterungen ihrer Seele, fand. –

Die Gräfin d'Aubaine empfing Miß Eton am andern Morgen, als die Frühstücksstunde die beiden Damen wieder zusammenführte, mit der Nachricht, daß sie gestern Briefe von ihrer Nichte, der Marquise d'Anville, aus Paris empfangen habe, welche deren Besuch ihr angemeldet, und äußerte ihre Freude, diese liebenswürdige Nichte mit Miß Eton bekannt machen zu können, da sie über das Wohlgefallen Beider an einander keinen Zweifel trug. »Meine Nichte wird fürs Erste ohne ihren Gemahl hier sein,« fuhr sie fort, »da derselbe Güter übernimmt, welche er seit längerer Zeit besitzt, ohne sie zu kennen; dann wird er uns auch auf einige Zeit seine liebe Gegenwart schenken, und später mit seiner Gemahlin das Hauptgut in Besitz nehmen, welches die Neugierde der jungen Frau zu reizen scheint.«

Miß Eton wünschte der Gräfin Glück zu dieser angenehmen Aussicht, und schien lebhaft von dem Gedanken dieser neuen Bekanntschaft erregt zu sein – dann bat sie die Gräfin um Auskunft über den Unglücklichen, der sie gestern in so große Gefahr gebracht, und um einige Nachrichten über sein Schicksal.[44]

»Fürs Erste,« erwiederte die Gräfin, »kann ich Dir die Versicherung geben, daß seine Wunde nicht tödtlich ist: die Kugel ist aus der Schulter herausgelöst, und der starke Blutverlust macht seinen ganzen Zustand selbst bei dem unvermeidlichen Wundfieber milde und ohne die sonst gewöhnliche Gemüthsstimmung. Sein Schicksal wirst Du zum Theil aus seinen wahnsinnigen Reden errathen haben – doch wenige Worte werden Dir noch sagen, wie er zu den besten und ausgezeichnetsten Jünglingen in Ardoise gehörte. Leider hatte ihm die Natur ein allzuweiches, feinfühlendes Herz gegeben, und so unterlag er dem ersten großen Schmerze seines Lebens, der allerdings durch eine schreckliche Katastrophe über ihn herbeigeführt ward.

Robert diente mir als Jäger im Schlosse – er war der Sohn des Kastellans. – Durch Tüchtigkeit und Brauchbarkeit erwarb er sich die zunächst aufgekommene Försterei von Ardoise, und entdeckte mir seine Liebe zu Jenny, einem sehr schönen jungen Mädchen, das unter der Aufsicht meiner guten Sulpice trefflich herangewachsen war. Da ihre Neigung gegenseitig, so freute ich mich der glücklichen Wahl, und als Robert die Försterei bezogen, setzte ich den Tag ihrer Hochzeit an.

Jenny hatte wahrscheinlich auf seine Bitten eingewilligt, ohne Wissen ihrer mütterlichen Freundin Sulpice, ihren Bräutigam öfter im Walde beim Steinbruche zu sehen, und war, sich verspätend, dann besorgt und eilend den gefährlichen Weg zurückgekehrt. Ihr Wunsch, in das Thal hinabzusteigen, war stets von Robert verweigert worden, der sie mit einem bequemen Wege zu überraschen vorhatte.

Dies sind alles nachher ausgeforschte Umstände, theils aus dem wahnsinnigen, sich um diese Punkte anklagenden Vorwürfen Roberts – theils aus nachher gemachten Entdeckungen anderer Dienstleute. Jenny versprach ihrem Geliebten den Tag vor der Hochzeit eine Zusammenkunft – Beide, durch Geschäfte[45] aufgehalten, trafen sich erst spät; Robert erwartete den Abend seine Aeltern in der Försterei, Jenny mußte zur bestimmten Stunde bei Sulpice sein. Sie trennten sich daher, ohne daß Robert, wie gewöhnlich, sie begleiten konnte. Es war schon dunkler, wie gewöhnlich, der Weg glatt von einem Gewitterregen – die näheren Umstände werden nie zu unserer Kenntniß gelangen – Jenny traf nicht ein – sie blieb auch die Nacht aus – und nun gerieth Alles in Unruhe. Man schickte nach dem Forsthause, sie aufzufinden, und da sie auch dort nicht war, wurden auf allen Wegen Nachsuchungen angestellt. Der unglückliche Jüngling, starr vor Angst und Besorgniß, gab endlich der entsetzlichen Ahnung nach, die ihn nach dem Steinbruche zog. Er hatte sich nicht geirrt; als man sich der schroffen Stelle näherte – sah man sie zerschmettert in der Tiefe des Thales liegen. Hier auf ihrer Leiche verlor der unglückliche Jüngling seinen Verstand. – Die erste Zeit brachte er in den gefährlichsten Zuständen der Raserei in unserm Krankenhause zu, später milderte sich das Leiden bis zur tiefsten Melankolie, die ihn aber unschädlich machte. – Man gab ihm, gewöhnt an seinen gefahrlosen Zustand, die Freiheit wieder, wonach er sich unablässig sehnte, und der Steinbruch ist nun sein Ruheplatz, von wo aus er des Nachts ruhig nach dem Krankenhause zurückkehrt. Ich bin übrigens durch ihn aufmerksam gemacht worden und kann nicht läugnen, daß der Unglückliche nicht ganz Unrecht hatte, Dich mit seiner schönen Jenny zu vergleichen, denn allerdings gleichst Du ihr in Größe, Gestalt und Farbe.«

Miß Eton war sehr bewegt von dieser Mittheilung, und beide Frauen machten an einander die Beobachtung, sich besonders traurig zu finden. Die Gräfin las noch ein Mal den Brief ihrer Nichte und versank dann in tiefes Nachdenken – Miß Eton lehnte mit großer Schüchternheit jeden Spaziergang,[46] auch unter der sichersten Begleitung, ab, und nicht, wie sonst, floß die Unterhaltung in ununterbrochenem Reichthume dahin.

Endlich hob die Gräfin lächelnd an: »So wirst Du denn den ältesten Sohn Deiner Freundin im Bilde kennen lernen – der Marquis d'Anville ist der Sohn dieser schönen Braut.«

Tief erröthend blickte Miß Eton vor sich nieder – kaum hörbar fragend, ob er ihr ähnlich sähe.

»Nein,« antwortete die Gräfin, – »er gleicht seinem Vater – ähnlich sieht ihr der zweite Sohn, der Graf Leonce, den sie vorzüglich liebte, und dieser wird seine Schwägerin auch hierher begleiten.«

Die Unterhaltung stockte wieder – und Miß Eton schien nicht bedacht, zu deren Wiederanknüpfung viel beitragen zu wollen, denn sie hatte ihre Knöpfel ergriffen und schien der entstehenden Spitzenweberei alle Aufmerksamkeit zu widmen.

»Ich halte diesen Besuch gerade jetzt für sehr willkommen, da Du, mein armes Mädchen, wahrlich einer Zerstreuung bedarst – das böse Ereigniß hat Dich mehr erschüttert, als Du Wort haben willst und meine eigene trübe Nähe gut zu machen vermöchte.«

»O, sagt das nicht!« rief Miß Eton, und die Arbeit entsank ihrer Hand, als wäre sie gänzlich erschöpft – »Eure theure Nähe wäre es allein, die mich mit mir selbst ins Gleichgewicht bringen könnte! – Doch, ich muß es eingestehen, daß mich ein Gefühl anderer Art bewegt – ich hatte einen Wunsch, eine Bitte, die ich zaghaft bin, vor Euch auszusprechen.«

»Und womit habe ich das verdient?« sprach die Gräfin fast wehmüthig, die Hand nach Elmerice hin über streckend.

Elmerice kniete in demselben Augenblicke auf dem kleinen Fußschemel der Gräfin, und zärtlich ihre Hand fassend, barg sie das bewegte Angesicht in ihren Schooß.

»Sprich,« sagte die Gräfin – »und sei der Gewährung im Voraus gewiß.«[47]

»Theure Gräfin,« hob Elmerice an, »die Ankunft so lieber Gäste, die Sicherheit, Euch damit so angenehm und erheiternd umgeben zu wissen, giebt mir Kraft, Euch gerade jetzt auf einige Zeit verlassen zu wollen, und somit ein Versprechen an meine geliebte selige Mutter zu erfüllen, dem ich mich vielleicht schon zu lange entzogen habe, da es mir so schwer ward, mich von Euch zu trennen.«

»Wie, Elmerice,« rief die Gräfin erstaunt, »Du willst mich verlassen?«

»Ihr werdet Euch der Jugendfreundin meiner Mutter erinnern,« fuhr Miß Eton fort, den Vorwurf der Gräfin nur mit einem zärtlichen Handkusse beantwortend – »Miß Gray, die meine Mutter damals auf ihrer Reise nach Frankreich begleitete und zurückblieb, ihre Verbindung mit Herrn St. Albans feiernd. Diese Freundin aufzusuchen, habe ich geloben müssen, und vor einiger Zeit Briefe erhalten, worin Madame St. Albans mich dringend auffordert, sie in der Abtei Tabor zu besuchen – dort lebt sie seit ihrer Verheirathung, da Herr Albans die Ländereien der großen Abtei in Pacht genommen hat.«

»Ich weiß dies, mein liebes Kind,« sagte die Gräfin, und ein wehmüthig ernster Blick schaute in die Ferne, in der Erinnerung die nie vergessenen Bilder aufsuchend – »aber laß' mich Dir gestehen, ich sehe diese Verpflichtung, die ich anerkennen muß, nicht ohne Besorgniß. Madame St. Albans ist eine brave, thätige Frau, die auf ihrem Platze alle Anerkennung verdient, aber sie ist kein Umgang für Dich, und ihr Haus kein Ort, wo Du Dich nur einigermaßen wohl fühlen wirst.«

»Und doch,« sagte Elmerice muthig, »habe ich ihr einen längeren Besuch zusagen müssen, und ihre große Liebe zu meiner geliebten Mutter hat mir früher dies Versprechen so leicht erscheinen lassen.«[48]

»Diese war unbezweifelt rührend,« antwortete die Gräfin, – »und so vollständig als schön; denn obwohl sie Herrn Albans liebte, schien ihr die Trennung von Deiner Mutter so unerträglich, daß sie fast ihrer Liebe entsagt hätte, dieser nach England folgen zu können.«

»Um so auffallender,« rief Elmerice, – »da, wenn ich nicht irre, Miß Gray hier ihre Mutter wieder fand, welche doch ein großes Band an Frankreich werden mußte!«

»Daß es dies nicht ward,« erwiederte die Gräfin, »will ich ihr nicht anrechnen, denn die alte Mistreß Gray hatte sich schon lange vor Ankunft ihrer Tochter von aller menschlichen Gesellschaft zurückgezogen; sie sah ihre Tochter nur selten und fast ungern; Miß Gray konnte keinen Anhalt an ihr haben. – Es ist nun lange her,« fuhr sie fort, »daß ich Madame St. Albans sah, die eine Reise benutzte, mich zu besuchen; sie ist brav und steht eben, wie ihr Gatte, im besten Rufe, aber – was Deine Mutter einst mit ihr bis zur Freundschaft verbinden konnte, lag wohl nur in der Jugend beider, in der zärtlichen Liebe der guten Miß Gray zu Deiner Mutter.«

»Laßt es mich dennoch versuchen,« rief Elmerice, »und gebt mir die Aufgabe, auch in Verhältnissen, die mir nicht zusagen, mich bewegen, mich Eurer würdig zeigen zu können – ich würde jetzt, ohne Madame St. Albans zu kränken, mein Wort nicht zurücknehmen können – und das möchte ich der Jugendfreundin meiner Mutter nicht zu Leide thun.«

»Und ich Dich nicht dazu veranlassen,« sagte freundlich lächelnd die Gräfin, »nur gebe ich gerade jetzt meine Einwilligung dazu fast ungern – ich sah Dich schon im Geiste mit der holden Lücile in Freundschaft verbunden, und freute mich gerade darauf, wie die lange trübe Einsamkeit Dir so angenehm unterbrochen werden sollte durch diese lieben Gäste! Auch willige ich nur ein, wenn Du mir versprichst, dort Deinen Besuch[49] abzukürzen, wo ich dann hoffen darf, Du triffst hier noch mit meiner Nichte und ihren Verwandten wieder zusammen.«

Mehr höflich, als aufrichtig legte Miß Eton die Bestimmung hierüber ganz in die Hände ihrer Wohlthäterin, und Beide wurden darüber einig, daß Miß Eton am andern Morgen ihre Reise unter dem Schutz ihrer Dienerschaft antreten sollte.


Am Abende des andern Tages bog der Wagen der Miß Eton, einen dichten, noch unbelaubten Buchenwald verlassend, in einen breiten Thalweg ein, der bald die fruchtbaren Felder und Wiesen von beiden Seiten zeigte, die, zur Abtei Tabor gehörend, eine lachende, heitere Ansicht gewährten.

Der höchstmögliche Standpunkt der Kultur war überall auffallend. Die Wege mit ihren Abzugsgräben, die wohlerhaltenen Verbindungsbrücken und Plankenzäune, die Felder in ihrer regelmäßigen Eintheilung, die Wiesengründe mit den schönsten Heerden, die schlanken, wohlgehegten Stämme junger Obstbäume, die mit ihren, schon in weißer Blütenpracht stehenden, runden Kronen wie Perlenschnüre als Saum sich überall zeigten, die kleinen Gehöfte, die, dazwischen zerstreut, in ihrer wohlhabenden Ausdehnung um sich her den Bedarf des Lebens sich geschaffen zu haben schienen, die kräftigen Gestalten der Männer und Frauen, die rothwangigen Kinder, die endlich diesem Gemälde als Staffage dienten – Alles zeigte das wohlthuendste Bild des Fleißes und der Wohlhabenheit. Miß Eton fühlte sich wunderbar dadurch erleichtert, und abgezogen von sich selbst, schien sie ihre schweren und melankolischen Gedanken in den düsteren Wegen der Wälder, die sie durchreist war, zurück lassen zu müssen. Sie fühlte, sie war hier in eine andere Sphäre versetzt, eine neue Auffassung des Lebens trat ihr entgegen;[50] und häufig ist dies allein schon hinreichend, uns selbst zu einer Thätigkeit zu wecken, die uns unserm gewohnten Ideenkreise klarer und ruhiger gegenüber stellt. Sie konnte mit Vergnügen an den mäßigen Lebensstandpunkt denken, dem sie entgegen ging, und ohne Furcht vor geistigen Entbehrungen, wollte sie gern das Leben von dieser leichten und materiellen Seite kennen lernen.

Doch konnte sie kaum ein Lächeln unterdrücken, als sie gewahrte, wie die Gegend fast immer schmuck-und geschmackloser in ihren Anlagen ward, je näher sie dem Wohnorte der Madame St. Albans kam. Ueberall war der Nutzen erstrebt und erreicht – aber keine Anlage, die neben dieser irgend eine andere Absicht errathen ließ.

Noch hoffte sie, die Abtei Tabor, die sich noch immer nicht zeigte, werde irgend eine schönere Ansicht gewähren, und Gartenanlagen sich damit verbinden, aber bald hörte sie auf ihre Anfrage, daß die Abtei mehrere Meilen von dem Wohnsitze des Herrn St. Albans entfernt wäre, und dieser nur ein Vorwerk gleichen Namens bewohne, welches mehr in dem Mittelpunkte der Länderein, die er von der Abtei in Pacht hatte, und daher seinen ökonomischen Zwecken passender läge.

Endlich verkündete eine Reihe steinerner Häuser, welche regellos neben einander gelagert waren, die Wohnung des Herrn St. Albans, und bald zeigte der größere Verkehr von Arbeitern und Wagen, daß man sich dem Mittelpunkte einer größeren Betriebsamkeit nahe. Es war noch ziemlich früh am Abend, und alle Vorübereilenden schienen mit dem Tageslichte zu geizen und, ganz in ihre Geschäfte vertieft, nur des bequemen, festen Weges sich bewußt zu sein, der, immer vortrefflicher werdend, den leichtesten Verkehr sicherte. Von diesem regen Leben umgeben, fuhr man endlich an einer langen Mauer entlang und bog dann durch ein offenes Thor in den Hof.[51]

Er war in einer großen Ausdehnung von sämmtlichen Scheunen, Ställen und Wirthschaftsgebänden des Amtes umgeben, und das Wohnhaus unterschied sich nur wenig an Höhe und Außenseite, und ward nur als solches durch eine steil nach der Eingangsthür hinauf führende Treppe und zwei Reihen niedriger Fenster bezeichnet.

Auf diesem großen Hofe zeigte sich kein Baum, kein Rasen, kein Zeichen der Vegetation. Ein Bassin, roh ummauert, diente dem Nutzen der Ställe, was seine trübe, mit Stroh und Heu bedeckte Oberfläche deutlich verrieth.

Niemand eilte der Miß Eton zum Willkommen entgegen, obwohl die Thür des Hauses von herauseilenden Mädchen und Knechten oft geöffnet ward. – Monsieur Lorint, der Kammerdiener, über die ihm ziemlich fremde Art dieser Hauseinrichtung nicht wenig erstaunt, nahte sich nun der Wagenthür und fragte, ob er die Ehre haben solle, das gnädige Fräulein zu melden.

»Laßt das,« sagte Miß Eton lachend – »ich will selbst aussteigen und mein Willkommen mir suchen, denn diese fleißigen Leute haben keine Zeit zu dergleichen.«

Leicht und von dem alten Diener gefolgt, der, im komischen Gegensatze zu diesem Naturzustande, fast noch förmlicher und devoter ward, seine eigene Würde schützend gegen den Andrang dieser Unkultur – eilte Miß Eton die schmale steinerne Treppe hinauf und flog bei'm Oeffnen der Thüre in die Arme eines jungen, heiter lachenden Landmädchens, das eben so schnell heraus, als Miß Eton hinein wollte.

»Ah, Madame,« rief die erschreckte Schöne, schnell zurückspringend – »ich bitte um Vergebung – ich war so eilig!«

»Und doch werde ich Dich aufhalten müssen, mein liebes Kind,« lächelte Miß Eton, »denn Du mußt mich durchaus bei Madame St. Albans melden, deren Gast ich zu werden denke.«[52]

Ein holdseliger Blitz von Freundlichkeit aus den dunkeln Augen des rothwangigen Kindes schien Elmerice ein recht anmuthiger Willkommgruß; und sie schritt nun mit ihrer jungen Begleiterin in den mittlern Raum des Hauses vor, der ein Speisesaal zu sein schien, die ganze Tiefe des Hauses durchmaß und seine Fenster nach der andern Seite hinaus hatte. Hier bat das junge Mädchen das Fräulein, zu warten – und flog nun leichten Sprunges durch eine der sechs Thüren, die sich in diesem großen Vorsaal öffneten. Miß Eton näherte sich indessen einem der Fenster und sah, daß sich hier gleichfalls kein Baum, keine Gartenanlage zeigte, sondern an einem frisch bestellten Gemüsegärtchen, mit Plankenzaun umhegt, sich ein ziemlich bedeutender Weideplatz anschloß, der aber nur dem kranken, von der entfernteren Weide zurückbleibenden Viehe zur Benutzung diente; seitwärts war eine kleine Anpflanzung von Nußbäumen, und auf diese richtete Elmerice, von den wenig befriedigenden Aussichten sich abwendend, mit einiger Hoffnung ihre Blicke.

Lautes, anordnendes Sprechen nahte indessen dem Salon, bald flog die mittlere Thüre auf, und eine starke, muntere Frau in tüchtiger häuslicher Kleidung, mit Schürze und rasselndem Schlüsselbunde trat mit geschäftiger Eile herein und nahte sich dem ihr gleichfalls entgegeneilenden Fräulein.

»Seid Ihr denn wirklich Miß Eton? meiner lieben Margarith Tochter?« rief sie mit lauter, klingender Stimme und drückte, innig davon überzeugt, zwei derbe Küsse auf Elmerice's Wange. – »Nun,« sagte sie, ohne die Antwort abzuwarten, und indem ihre Stimme plötzlich in Thränen brach, »so hat Gott meinen Wunsch erhört – denn seht, der Wunsch, sie selbst, oder ihr Kind, oder ihren Lieblingshund, oder ihre Katze, oder ihr Kleid, oder seht nur, so viel als ich auf diesem Nagel halten könnte, von ihr zu sehen – der hat mich nie verlassen obwohl ich wenig Zeit zu solchen Gedanken habe; denn seht,[53] hier ist ein großes lästiges Hauswesen, Alles geht durch mich, wo ich nicht bin, gelingt's nicht, was ich nicht thue, unterbleibt, wonach ich nicht frage, vergessen ist es in den andern Köpfen. Aber seht, mein Kind, dazu behielt ich Zeit, und war's während des Tischgebets – Gott sei mir gnädig! – oder zwischen Niederlegen und Einschlafen – nach Margarith mich zu sehnen, behielt ich immer Zeit!« Wieder kam ein kurzer Anfall von Weinen, den sie jedoch eben so schnell bekämpfte, und nun führte sie Elmerice in ein nach der Weide hinaus gehendes Zimmer. Hier setzte sie sich, zwei Stühle gegenüber rückend, schnell vor ihren jungen Gast, den sie auf einen derselben niedergezogen hatte, und blickte nun mit zwei großen unruhigen Augen das Fräulein an. – »Keinen Zug von Ihrer Mutter!« rief sie nach dieser scharfen Prüfung – »weiß Gott – fremd, liebes Kind, bis auf die Fingerspitzen! Großer Gott, hatte ich mich doch so gefreut, ein Ebenbild meiner Margarith zu sehen! Und doch seid Ihr Miß Eton, die Tochter meiner Margarith.«

»Gewiß,« sagte Elmerice, sanft und gerührt – »ich bin die Tochter der Freundin, der Ihr ein so ehrendes Andenken bewahrt, und ihr letzter Wille, der mich bestimmte, in Frankreich zu leben, schloß auch den Befehl ein, Euch aufzusuchen, Euch der innigen Liebe meiner Mutter zu versichern.«

»O Gott, Miß!« rief Madame St. Albans weinend, – »sagt, that sie das? Gedachte sie mein mit gleicher Liebe, hat sie mich nicht vergessen? Also Ihr solltet mir ihre Grüße bringen, ihr Kind unterrichtete sie von ihrer Liebe zu mir! – Ja, ja, darin erkenne ich sie wieder! – obwohl, Miß Elmerice, es mich schmerzte, als ich hörte, nicht mir, sondern ihrer vornehmeren Freundin, der Gräfin d'Aubaine, habe sie Euch vermacht.«

»Zürnt deshalb nicht, liebe Madame St. Albans – wohl kenne ich die Gründe zu dieser Bestimmung nicht, aber sicher beruhten sie nicht in verringerter Liebe gegen Euch!«[54]

»Ja, ja, ich will es glauben, gern glauben, liebes Kind! denn ich glaube gern an ihre Liebe. Die Gräfin ist eine Heilige – von hoher Geistesart – sehr erhaben über ihr ganzes Geschlecht. Da reiche ich armer Erdenwurm nicht heran – sie schmückt die Kirche – ich Haus und Hof. Seht, es läßt sich leicht der Heil'gen-Schein festhalten, und die feinen Ausdrücke, wenn man nichts weiter zu thun hat, als darauf zu passen, daß einem nichts Unebnes entschlüpft – aber hier, wo ich an Alles selbst Hand anlegen muß, mit lauter rohen, dummen Leuten verkehren, bei denen sich übler Wille und Faulheit zu Leichtsinn und Thorheit gesellen, da müssen die Worte breit aus dem Munde fließen, und man wird darum nicht schlechter in so großer Berufsthätigkeit, als solche erhabene Geister, die auf uns herab sehen.«

Etwas beschämt von der Rede ihrer neuen Bekannten, schlug Elmerice den Blick zur Erde nieder, um den seltsam heftigen Ausdruck in den sonst trüben Augen der Redenden zu vermeiden.

»Glaubt nicht, verehrte Frau,« sprach Elmerice – »daß die Gräfin d'Aubaine eingebildet auf ihre Vorzüge ist, sie schätzt Jeden nach seiner Weise, und die ihrige ist sehr still und zurückgezogen, denn sie ist wohl nie glücklich gewesen, und sehr kränklich und oft recht leidend.«

»Ist sie das?« rief Madame St. Albans. – »O seht, das beklage ich. Ja, das arme Ding! wahrlich, wenig Freude hat sie gehabt – Gott richte es! – und wohl ist sie zu bedauern, und es thut mir herzlich leid, wenn sie kränkelt. Sagt, ist es so? muß sie viel leiden?«

Elmerice fühlte sich ganz erquickt und erleichtert von der kindlichen Gutmüthigkeit, die in dieser Rede die Oberhand gewann, und war nur bemüht, ihr ein Bild der stillen Geduld zu entwerfen, mit der die Gräfin ihr Leben ertrüge.[55]

Mehrere Male wischte sich Madame St. Albans die Augen und sagte dann ganz kläglich: »Gottlob, daß meine gute Margarith, Deine Mutter, sie so leidend nicht mehr sah – denn wahrlich, das hätte ihr das Herz gebrochen. – Aber sieh', mein Kind, immer und immer habe ich es Deiner Mutter gesagt: wir beide werden glücklich in der Welt werden, die Franziska aber nie – das geht Allen so, die von Jugend auf immer über den Wolken schweben, und überspannt sind und voll thörichter Schwärmereien; die machen nicht glücklich und werden nicht glücklich, das ist eine ausgemachte Sache!«

»Gewiß,« erwiederte Elmerice schüchtern – »finden reich begabte Wesen, mit einem höheren und vielseitigeren Bedürfnisse, schwerer den Standpunkt, wo sie sich in ihrem ganzen Reichthum entfalten können, aber es ist ihnen doch nicht als Vorwurf anzurechnen, wenn wir sie selten zu ihrer vollen Wirksamkeit entwickelt sehen; wo sie sie erreichten, sehen wir sie allen Pflichten gewachsen, sie Alle anerkennend.«

Ein sonderbar aufmerksamer Blick streifte hier das Fräulein; in dem Augenblicke faßte Madame St. Albans den Verdacht, daß ihr junger Gast wohl ebenfalls zu dieser Kaste gehören möchte, und sie stand, sichtlich davon gestört, auf, und indem sie Elmerice bei der Hand faßte, um sie wegzuführen, sagte sie mit dem Tone völlig abgeschlossener Ansichten: »Ja, ja, ich kenne das, mein Schatz! solche Reden hörte ich oft, aber ich sah auch die zahllos unglücklichen Ehen, die solche Mädchen erlebten, die ewige Hinfälligkeit von Leib und Seele, und weiß, was es eigentlich für Frauenzimmer auf der Welt zu thun giebt, statt so schwierige Forderungen sich anzukünsteln.«

Elmerice fühlte sich, hierauf zu erwiedern, nicht geneigt; noch übersah sie den Charakter dieser Frau nicht, ihre Bescheidenheit und die Furcht, ihr anmaßend zu erscheinen, ließ sie lieber schweigen, da es ihr überdies schien, daß sie beide von[56] ganz verschiedenen Dingen gesprochen hatten, die neben einander jedes wohl ihr gutes Recht behalten konnten, aber einander doch so unähnlich waren, daß an eine Ausgleichung nicht zu denken war.

»Ich will Euch jetzt Euer Zimmer anweisen und für Euer Gepäck sorgen,« sagte Madame St. Albans – »denn seht, liebe Miß, ich muß überall selbst die Augen haben, auf die Leute ist kein Verlaß. Doch fürchte ich,« fuhr sie fort, indem ein empfindlicher Ausdruck von Mißtrauen auf ihrem Gesichte erschien, »Ihr werdet großen Abstand finden. Das schöne Schloß von Ardoise findet Ihr hier nicht; wir sind stille, bescheidene Leute, die auch so Haus und Hof eingerichtet haben;« und nun suchte sie durch vermehrte Höflichkeit sich selbst über die Unsicherheit zu täuschen, die ihr die Gesinnungen der jungen Dame eingeflößt.

Elmerice konnte dies nur zu leicht wahrnehmen, und bemühte sich, fast auf Kosten ihres sonst so ruhigen und natürlichen Wesens, ihre Anerkennung und ihr Vergnügen über Alles, wie sie es vorfand, an den Tag zu legen; auch war zum Mißfallen nirgends Veranlassung. Eine kleine Treppe, die gleichfalls hinter einer der sechs Saalthüren lag, führte in die obere Etage, und hier fand Elmerice ein so hübsch eingerichtetes Zimmer, in so glänzender Reinlichkeit strahlend, daß es ihr nicht schwer ward, Vergnügen darüber zu bezeigen. – Doch hörte Madame St. Albans nicht auf, Alles entschuldigend und selbst herabsetzend zu besprechen, unter dem oft wiederholten Zusatze: »Aber wir sind stille, bescheidene Leute,« ohne Ahnung, wie die Beilegung zweier solcher Tugenden wenigstens das Prädikat der Bescheidenheit verdächtigte. Bald aber verließ sie ihren Gast, um sich den Anordnungen zur Abendmahlzeit zu unterziehen, und Elmerice fühlte einen Anflug von Erschöpfung und Abspannung, wie er uns am häufigsten kömmt, wenn wir[57] uns einer fremden, in ihrer Art und Weise sicher gewordenen Natur gegenüber fühlen, die wir nicht durch das Hervortreten unserer abweichenden Gesinnungen zu verletzen wünschen, weil wir fühlen, daß wir ihre Eigenthümlichkeit wohl verstehen und achten können, aber überzeugt sind, die unsrige unverstanden und gemißbilligt zu wissen.

Elmerice hatte mehr Worte, mehr Höflichkeit in der kurzen Zeit verbraucht, als ihr sonst irgend zu Gebote war. Die leicht hervortretende Heftigkeit der guten Frau hatte sie erschreckt und nur daran denken lassen, sie in milder Stimmung zu erhalten; sie fühlte im Augenblicke des Alleinseins, daß sie sich angestrengt habe, und sie wußte nicht, ob sie zufrieden oder unzufrieden mit sich sein sollte. Doch bestrebt, mit sich ins Klare zu kommen, hielt sie die Erinnerung an den Zügen von Gutmüthigkeit fest, die ihr unverkennbar aus dem Gespräche mit Madame St. Albans hervorgetreten waren, und beschloß nichts Anderes, als diese, sehen und hören zu wollen.

Zur Ruhe gekommen durch diesen Beschluß, richtete sie sich jetzt in ihrem neuen Zimmer ein, und schrieb einige Zeilen an ihre Wohlthäterin, da die Equipage und die Diener anderen Tages nach Ardoise zurückkehren sollten. Diese Zeilen hatten sie in eine größere Gemüthsbewegung versetzt, als anscheinend Grund dazu vorhanden war, und dies wohl fühlend, eilte sie ihre trähnenden Augen an dem geöffneten Fenster zu kühlen. Sie überblickte von hier aus in weiterer Ausdehnung die Gegend und gewahrte bald, daß der Benutzung des Bodens zum Erwerbe jede Annehmlichkeit aufgeopfert war; nirgend zeigte sich eine Baumanlage, ausgenommen einige dürftige Kastanienstämmchen, die auch den Zweck haben mußten, krankes Vieh darunter zu bergen, denn sie sah ein Pferd, an einen Pfahl gebunden, auf dem Boden liegen. Ordnung, Fleiß und Wohlhabenheit war dagegen der unverkennbare Stempel, der allen Gegenständen[58] aufgedrückt war, und ganz dazu geschaffen, Elmerice angenehm und achtend gegen ihre neuen Freunde zu stimmen. Sie bestärkte sich daher darin, dieser zärtlichen Freundin ihrer Mutter achtend und freundlich entgegen zu treten, und beeilte sich, da die Stunde herangekommen war, zum Abendessen hinunter zu steigen.

Der große Saal, oder vielmehr der Hausflur, da er zugleich der Eingang vom Hofe aus war und mit seinen sechs Thüren fast zu allen Räumen des Hauses führte, war mit Fliesen getäfelt, die Wände weißgetüncht und mit einigen Versuchen von Stuckatur versehen. – In der Nähe der Fenster stand ein großer eichener Eßtisch, mit eben so massiven, hochlehnigen Stühlen umstellt, auf deren Sitze Madame St. Albans eben beschäftigt war, rothe damastene Kissen zu legen, offenbar ihrem Gaste zu Ehren, denn Marylone, die junge Magd, die Miß Eton zuerst begrüßt hatte, stand damit bis unter das Kinn bepackt, und wurde nur durch das hastige Zugreifen ihrer Gebieterin nach und nach von ihrer Last befreit.

»Ah, seht doch, da seid Ihr schon, Miß Eton;« sagte Madame St. Albans, offenbar von dem zu frühen Erscheinen derselben gestört – »nun, Ihr seid nicht ungesellig, wie ich sehe, und das freut mich, obwohl meine Zeit mir wenig eigentliche Ruhe gönnt.«

»Wenn ich mich wohl in Eurem Hause fühlen soll,« sagte Elmerice, »müßt Ihr, liebe Madame St. Albans, vor allen Dinge nie auf mich Rücksicht nehmen. Ich hoffe, daß Ihr mir gestatten werdet, Euch durch Haus und Hof zu begleiten, um Eure vortreffliche Haushaltung kennen zu lernen – so werde ich in Eurer Gesellschaft sein, ohne Euch hinderlich zu werden.«

Diese wohlgemeinte Rede verfehlte jedoch ganz ihren Zweck. Madame St. Albans war von Natur mißtrauisch und hatte immer Furcht, man wolle ihre Art und Weise tadeln, oder sie[59] lächerlich machen; gegen Miß Eton hatte sie den Verdacht einer höheren Geistesrichtung gefaßt, und wie ihr unbegreiflich war, wie sich damit das Interesse für Häuslichkeit und wirthschaftliche Thätigkeit vereinigen könne, so schien ihr die Rede des Fräuleins reine Verstellung, hochmüthige Herablassung oder Spott sogar.

Sie lachte daher ziemlich höhnisch auf und sagte dann, wie sie hoffte, ihre Meinung verständlich machend: »Behüte mich Gott, daß ich ein so zartes, hochgebildetes Fräulein so beleidigen sollte, sie mit Wirthschaftssachen zu belästigen! Nein, mein gutes Kind, so viel Bildung haben wir gerade auch noch, um zu wissen, wie solche feine Dämchen behandelt werden müssen. Ihr gehört mit Euren zarten Händchen und feinem Gesichtchen in die Stube; ich aber habe in meinem Berufe weder Gesicht, noch Hände schonen können, sie sind jetzt nichts Anderes mehr werth, als weiter fort zu schaffen, was sie nicht ohne Erfolg, wie ich hoffe, bis jetzt geleistet haben.«

»Wollt Ihr mich denn glauben machen,« erwiederte freundlich nahend Elmerice, diese Antwort verschmerzend, »daß Bildung so heilige Interessen, als das Wohl des Hauses für eine Frau sein muß, ausschließe? Ich dachte gerade, Bildung lehre uns erst recht, den Werth und den Genuß solcher Pflichten verstehen, und dies muß auch gewiß Eure Meinung sein.«

»Was so eine gewöhnliche Frau denkt, wie ich, Miß Eton, darauf kömmt wenig an, ich habe nur so meinen schlichten Menschenverstand, mein Bischen gesunde Vernunft, von hoher Bildung aber weiß ich nichts – das müßt Ihr verzeihen, wenn ich Euch damit nicht dienen kann.« –

Während dessen waren die Stühle alle mit festgebundenen Polstern versehen, und jetzt flogen sie auf einen Wink der selbst angreifenden Hausfrau aus einander, und mit Hülfe der pfeilschnellen, kräftigen Marylone breitete sich ein schöner kleiner[60] Teppich darunter aus, welches Alles dem Gaste zu Ehren geschah, und allerdings das Plätzchen um Vieles wohnlicher und ansprechender machte.

Als dies zur Zufriedenheit der Madame St. Albans beendigt war, ordnete sie nun mit Marylone das Decken des Tisches selbst an, indem sie fast immer in dem Augenblicke, als das geschickte und flinke Mädchen die Geschirre auf ihren bestimmten Platz stellen wollte, ihr dieselben aus der Hand riß und mit den Worten: »Sieh' Dich doch vor, hierher kömmt das!« es selbst an seinen Platz setzte. Zwischen dieser Thätigkeit war sie noch von einer andern Unruhe, über das lange Ausbleiben ihres Mannes, geplagt. Alle fünf Minuten eilte sie nach der Hausthüre, riß sie auf und kehrte getäuscht mit den Worten zurück: »Unbegreiflich, wie Herr St. Albans sich heute so verspätet.« Dies Ausbleiben nahm endlich alle ihre Gedanken ein, der Tisch war gedeckt, Marylone entfernt, und ihr blieb nichts übrig, als sich in ruhiger Erwartung, ihrem Gaste gegenüber, an den gedeckten Tisch zu setzen; aber dadurch steigerte sich ihre Unruhe um dies Ausbleiben bis zur übeln Laune und gelegentlichen Ausbrüchen von Heftigkeit, die Elmerice nicht zu nähren wünschte, und die sie endlich verstummen ließen.

Da schlugen alle Hunde zugleich bellend im Hofe an, und augenblicklich sprang Madame St. Albans von ihrem Sitze auf und lief nach der Thür, sie in dem Momente öffnend, als ihr Gemahl ihr darin entgegen trat. Beide begrüßten sich mit ungemeiner Herzlichkeit, die aber dies Mal von Seiten der lebhaften Frau unterbrochen ward, indem sie ihn vorführte, ihn vor Elmerice hinstellte und mit vollkommen wiedergekehrter guter Laune ihn frug: ob er ahne, wer dies sei?

Herr St. Albans richtete seine freundlichen Augen auf die Vorgestellte, und verneigte sich dann mit auffallend gutem Anstande: »Ich zweifle nicht, unser sehnlicher Wunsch ist in Erfüllung[61] gegangen und wir genießen das Glück, Miß Eton unsern Gast zu nennen.«

»Errathen!« rief die kleine Frau, lebhaft in die Hände schlagend – »meiner Margarith einzige, liebe Tochter!«

»Glaubt, Miß Eton,« sprach St. Albans, »meine gute Frau weiß Euch keinen höhern und liebern Rang beizulegen, als den eben genannten. Erlaubt mir auch meinerseits das herzlichste Willkommen.«

»Da hast Du recht, mein lieber Mann,« sagte Madame St. Albans, »Alles, was sich auf meine Margarith bezieht, ist mir heilig.«

Tief gerührt dankte Miß Eton beiden Eheleuten, und konnte nicht ohne einiges Erstaunen die ungemein vortheilhafte Persönlichkeit des Hausherrn betrachten. Seine Frau überschüttete ihn mit Fragen und Aufmerksamkeiten jeder Art, und er hatte eine immer freundlich anerkennende Höflichkeit für ihre sich selbst genugthuende Dienstlichkeit, und doch behielt er eine Ruhe und Aufmerksamkeit für seine Umgebungen, die von wahrer Herzensgüte und einer höheren Geistesrichtung zeigte.

In seiner Gegenwart fühlte Elmerice zuerst sich etwas aus dem gespannten Zustande erlöst, den sie beim Alleinsein mit Madame St. Albans empfunden hatte; sie durfte wagen, sich ihrer eigenen Stimmung hinzugeben, denn in der Gegenwart ihres Mannes blieb jeder Andere für diese zärtliche Frau ziemlich unbeachtet, und sie hing nur an seinem Munde, um sich für ihre eigenen Gedanken Auskunft zu verschaffen. Auch hierbei blieb sie sich völlig gleich; ihre unverkennbare Zärtlichkeit ging doch sogleich in empfindliche oder mißlaunige Aeußerungen über, wenn die des Herrn St. Albans im Geringsten von den ihrigen abzuweichen schienen, und sie legte auch gegen ihn ein gewisses mißtrauisches und heftiges Wesen nicht ab. Dessen ungeachtet war ihr ganzer Zustand jetzt freier und leichter, und die feine[62] Haltung ihres Mannes wußte immer geschickt sie selbst zu einem feinen Betragen zurückzuführen, was sie anzunehmen allerdings ganz wohl verstand. Einige Unterverwalter nahmen die übrigen leeren Plätze bei Tische ein, und es herrschte bald eine ziemlich ruhige, unbefangene Unterhaltung, die Herr St. Albans mit vielem Geschick auch für seinen jungen Gast zugänglich zu machen wußte, während seine Frau in unruhiger Thätigkeit mit dem Vorlegen und Anbieten der übrigens vortrefflich zubereiteten Speisen beschäftigt war.


Es würde schwer sein, in dem Verlauf einer Woche, die wir nach dem erwähnten Abend als beendigt erklären müssen, eine bedeutende Mannigfaltigkeit in dem Leben auf der Abtei Tabor angeben zu können. Miß Eton hatte nach einigen mißglückten Versuchen, aus sich heraus in die Ansichten der reizbaren Hausfrau übergehen zu wollen, sich mehr auf sich selbst zurückgezogen – ihre Zeit nach der Ordnung des Hauses eingetheilt und sich Spaziergänge gesucht, die freilich bei ihrer Einförmigkeit und der ganz allein auf den Nutzen gerichteten Einrichtung des ganzen Gutes nur sehr wenig Genuß gewähren konnten. Doch das Frühjahr schritt vor, das Wetter ward warm, der Himmel heiter und blau, die Felder und Wiesen grünten in seltener Ueppigkeit, und es fehlte nicht an Veranlassung, ein unbefangenes Gemüth zu erfreuen. Und doch sehen wir Miß Eton oft stundenlang mit gesenktem Haupte und tief athmender Brust in einer Theilnahmlosigkeit daher wandeln, daß uns scheinen möchte, ihr Geist sei abwärts in trübem Schmerze verloren.

Ihre Wohlthäterin versäumte nicht, ihr nach einiger Zeit die Nachricht von der Ankunft ihrer Gäste in Ardoise zu melden, mit dem Zusatze, wie lebhaft sie jetzt in dieser Freude ihren[63] Liebling vermisse, wie sie sich sehne, daß er bald zu ihr zurückkehren möge.

»Und doch,« rief Elmerice nach Lesung dieses Briefes, »wirst Du mich in diesem schönen Kreise nicht willkommen heißen, dennoch verbannt mich mein Geschick von dem Aufenthalte, der allein jetzt auf der Welt noch Reiz für mich hatte!« Ein Strom von Thränen erleichterte ein Herz, was von den bittersten Schmerzen der Jugend belastet war, und mit einer Ergebung, aber auch mit einer Trostlosigkeit, die nur ein Schmerz, wie Elmerice ihn fühlte, zu geben vermag, wiederholte sie sich das schwere Gelübde, den Gästen auf Ardoise um jeden Preis zu entfliehen.

Ein heftiges Gewitter hielt Miß Eton auf ihrem Zimmer fest, so sehr sie sich sehnte, im Freien der beklommenen Brust neue Kraft einzusammeln. Der Regen, mit Schlossen vermischt, stürzte verfinsternd herab, und der Sturm peitschte die Regenströme im Wirbel gegen die klirrenden Fenster. Elmerice blickte ruhig, ja, mit einer Art von Genuß in diesen wilden Aufruhr der Natur. Wer tiefe Seelenangst empfindet, den lebenstödtenden Kummer, der die Schönheit der Erde uns wie einen Vorwurf fühlen läßt, da wir uns nicht theilnehmend daran zu erfreuen vermögen, der wird fast getröstet von einem Zustande der Natur, der keine Anforderungen an unser Gefühl macht oder in seiner wilden Aufregung zu überbieten scheint, was an Qual und Unruhe unsere Seele verletzt.

Heftig stürzte jedoch, dies schmerzliche Nachdenken unterbrechend, Jemand die Treppe herauf, und Marylone flog blaß wie der Tod auf Miß Eton zu. »Helft! helft, Miß Eton! um Gotteswillen, helft! sie stirbt uns unter den Händen! wir wissen uns nicht zu helfen, nicht zu retten!« –

»Um Gotteswillen, was hast Du?« rief Miß Eton – »was ist geschehen?« –[64]

»Kommt, kommt! unsere Frau stirbt! – Madame St. Albans! o kommt uns zu Hülfe!« –

Schon flog Elmerice die Treppe hinab und über den Saal dem kläglichen Angstgeschrei entgegen, das ihr aus einem der untern Zimmer zu Ohren drang.

Der erste Augenblick raubte ihr jedoch fast selbst die Fassung, denn sie sah hier Madame St. Albans wie eine Leiche auf der Erde liegen; das Gesicht war verzogen und blau – die Hände, Füße, der ganze Körper krampfhaft zusammen gepreßt.

In bangem Geschrei, aber ohne alle Hülfleistung lagen die Mädchen des Hauses um sie her, und Elmerice wußte freilich für den Augenblick auch nichts Anderes zu thun, als sich neben der Sterbenden oder Todten nieder zu werfen; aber hier entdeckte sie bei flüchtiger Berührung, daß die unglückliche Frau in völlig durchnäßten Kleidern da liege, und auf ihre schnellen Fragen erfuhr sie nun, daß Madame St. Albans das heftige Gewitter im Freien überrascht, und dies einem großen häuslichen Ungewitter gefolgt war, welches sie noch in der größten Aufregung und Erhitzung hinausgetrieben hatte. Jetzt war der Zustand allerdings erklärt, aber nicht weniger bedenklich; doch Elmerice hatte ihre ganze Besonnenheit wieder erlangt und ließ aufs Schnellste die unglückliche Frau nach ihrem Schlafgemach tragen, wo sie bald in trockene Wäsche und in ihr Bett eingehüllt, und unter Elmerice's Anleitung mit warmen Tüchern gerieben ward, während ein Bote abgesandt wurde, Herrn St. Albans zu suchen, und ein anderer nach der eigentlichen Abtei Tabor, den Arzt der Mönche herbei zu rufen.

Bis tief in die Nacht blieben die vereinigten Bemühungen der Herbeigerufenen fast erfolglos, es zeigte sich kein Zeichen des Lebens, und schon sank den Bemühten der Muth, als plötzlich ein Ausbruch von Konvulsionen erfolgte, der dem wiederkehrenden Leben voranging und endlich die Augen der Leidenden[65] öffnete. Doch war ihr Zustand noch höchst gefährlich, und der ehrwürdige Pater Ambrosius, der Arzt der Abtei Tabor, konnte den angstvollen Fragen des Herrn Albans nur die einzige Thatsache zusichern, daß sie für den Augenblick lebe.

Der Schmerz des unglücklichen Gatten hatte alles Rührende einer wahrhaften Empfindung, doch behielt er zu jeder Antwort, jeder Anordnung, Besonnenheit und Ruhe.

Elmerice und die treue, geschickte Marylone theilten alle nöthigen Dienstleistungen, und nachdem 24 Stunden ohne Wiederholung des gefürchteten Schlagflusses vorüber waren, gab Pater Ambrosius Hoffnung zu ihrer Wiederherstellung. Doch war ihre Ermattung so groß, daß sie nur unklar zu denken schien und noch undeutlicher zu sprechen vermochte. Doch sie lebte, und alles Uebrige schien Herrn St. Albans erträglich, unbedeutend sogar. Er hatte jedes Geschäft außer dem Hause aufgegeben. Nach einer kurzen Besprechung an jedem Morgen mit seinen Verwaltern schien er auf der Welt nichts zu thun zu haben, als die Athemzüge, den Puls seiner Gattin zu zählen, ihr freie Luft und Licht zu nehmen oder zu gewähren, Kissen und Decken zu ordnen, wie es ihr Erleichterung verschaffen konnte. Die Besinnung der Leidenden schien auch zuerst bei diesen zarten Liebesbeweisen sich zu ordnen, die Erschöpfung machte sie sanft, und Elmerice fand sie liebenswürdiger, als sie ihr je erschienen war, denn sie lächelte, ohne das Rollen ihrer sonst unruhigen Augen, Jeden sanft an, schien jeden Dienst zu kennen und lohnen zu wollen, und ihre einzelnen Worte bezeichneten immer irgend ein wohlwollendes Gefühl. Pater Ambrosius sprach nun immer bestimmter die Hoffnung ihrer Genesung aus; und nach einer ruhig durchschlafenen Nacht redete sie Elmerice und ihren Mann mit klarer und ruhiger Stimme an, und ihr volles Bewußtsein und der Gebrauch ihrer Sprache versetzte Beide in die freudigste Stimmung.[66]

Nach einigen Erörterungen über ihr Befinden kehrte auch augenblicklich ihre alte Art und Weise zurück. »Aber, St. Albans,« sagte sie, »was wird aus unserer Wirthschaft werden? Du bist den ganzen Tag hier im Zimmer gewesen, und wie wird draußen in meinem Haushalte Alles verwildert sein! O mein Gott,« seufzte sie schwer, »welch' ein Unglück, wenn eine Hausfrau erkrankt!«

»Beruhige Dich, meine liebe Frau,« sagte Herr St. Albans, »meine Geschäfte haben nicht darunter gelitten, meine Verwalter und alle meine Leute haben mir ihre Theilnahme an meinem Kummer durch vermehrten Fleiß und Thätigkeit bezeigt.« –

»Nun wahrlich,« unterbrach ihn die Frau rasch, »da bist Du glücklicher, als ich – doch sieh' nur erst selbst nach. Du wirst wohl finden, wenn Du erst suchen wirst, und nun Du – ja, Dein Geschäft hat freilich nicht so die tägliche Aufsicht nöthig, wie das meinige, mir wird es desto schlimmer ergangen sein, wenn ich nur erst wieder umher blicken kann.«

»Auch dieser Kummer, meine Liebe,« erwiederte ihr Mann, »wird Dir erspart sein, denn Miß Eton hat jeden Morgen um zwei Stunden ihren Schlaf abgekürzt, Dein Haus in Ordnung zu erhalten, und Du wirst sehr überrascht sein, Alles in so vortrefflichem Zustande zu finden!«

»Miß Eton!« rief die Kranke – »Miß Eton meine Wirthschaft geführt? Nun, das muß ich sagen, überrascht mich – es ist aber recht viel guter Wille, und ich danke, danke recht sehr, liebe Miß! Die Leute haben doch nicht Alles verwahrlosen können; nicht wahr, liebe Miß, verschlossen hieltet Ihr das Meiste? da werdet Ihr auch haben kennen lernen, wie unachtsam die Leute sind, wie wenig man sich auf sie verlassen kann, wenn Ihr auch in zwei Stunden täglich nicht viel Erfahrungen machen konntet – nun, ich danke sehr für den guten Willen.«[67]

»Damit müßt Ihr allerdings Euch genügen lassen,« erwiederte Miß Eton lächelnd – »doch auch ich muß lobend Eurer Leute gedenken, die sich Mühe gaben, mich zu unterstützen, und von denen ich leicht und pünktlich Alles erhielt, was ich anzuordnen für nöthig fand.«

»Nun, nun,« sprach Madame St. Albans lachend, »Ihr werdet es wohl gnädig gemacht haben, denn die wirthschaftlichen Anordnungen einer so jungen Dame werden wohl leicht zu erfüllen sein; das stößt noch nicht um, mein Kind, wenn ich behaupte, man findet bei sorgsamer Führung der Haushaltung wenig Unterstützung bei den Domestiken, und wenn ich täglich nur zwei Stunden dran setzte – wo denkst Du wohl, lieber Mann, daß Haus und Hof schon hin sein würden?«

»Gewiß, meine Liebe,« erwiederte Herr St. Albans etwas schnell – »widmest Du Deiner Haushaltung mehr Zeit, Du hast aber auch nicht die großmüthige Pflicht dabei übernommen, mit aufopfernder Sorgfalt eine todtkranke Freundin zu pflegen, wie es Miß Eton that; und vielleicht, wenn Du erst kennen lernst, wie musterhaft selbst in dieser kurzen Zeit alle Geschäfte gethan wurden, findest Du selbst später, daß man sich mehr Muße gönnen kann, und doch nichts zu versäumen braucht.«

»Wirklich, Herr St. Albans?« sagte die leicht aufgereizte Frau, mit großer Empfindlichkeit, »nun Ihr scheint außerordentlich mit Eurer neuen Wirthschafterin zufrieden zu sein, da Ihr meint, ich, die lang' erfahrene Frau Eures Hauses, solle in die Lehre gehen bei der jungen Miß! Da werde ich wohl ganz verzagt sein müssen, mein Amt wieder anzutreten.«

»Ich bitte Euch, liebe, theure Frau, beschämt mich nicht so durch Euren Spott,« rief Elmerice, ängstlich bittend sich zu ihr wendend. »Nur zu wahr wird es sein, daß Alles, was ich that, Euch nicht genügen kann – Herr St. Albans will sich blos gütig gegen meine gute Absicht zeigen.«[68]

Herr St. Albans bedauerte gewiß sehr, die heftige und eifersüchtige Frau gereizt zu haben aber er hatte diesmal nicht die Stimmung, den unangenehmen Ausbruch durch seine dann immer eintretenden kleinen Schmeicheleien zu dämpfen, sondern er stand schnell auf, und gegen Miß Eton sich verneigend, sagte er ernst und ruhig: »Seid gewiß, Miß Eton, ich empfinde aufs Tiefste, welche Stütze Ihr in dieser Schmerzenszeit uns Allen gewesen, und zweifelt nicht, meine gute Frau wird Euch auch später diese Anerkennung nicht versagen.«

Etwas erschrocken über die feste Haltung ihres Mannes, rief Madame St. Albans halb weinerlich: »Aber um Gotteswillen, Herr St. Albans, Sie sind ja so heftig, wie ich Sie noch nie gesehen! Wie könnt Ihr denn denken, ich werde undankbar sein gegen Miß Eton? – wenn könnte man mir das nachsagen – habt Ihr aber wohl Recht, gegen mich arme kranke Frau so heftig zu sein?«

»Wenn ich das war,« sagte Herr St. Albans in milderem Tone, »hatte ich allerdings Unrecht – doch war dies weder meine Absicht, noch mein Gefühl; ich wünschte mir nur eine Gelegenheit, Miß Eton die volle Anerkennung zu gewähren, die ihre große Güte und Umsicht mir einflößte. Jetzt will ich einmal selbst meinen Geschäften nachgehen, von denen Du fürchtest, ich habe sie vernachlässigt.« – Er erhob sich, umarmte stumm und freundlich seine Gattin, grüßte ehrfurchtsvoll Miß Eton und verließ mit ruhigem Anstande das Zimmer.

Elmerice blieb nun in ängstlicher Spannung mit der Kranken allein. Sie wünschte die Zürnende anzureden, aber sie fühlte sich völlig unsicher über den Gegenstand, den sie zur Unterredung wählen sollte. Endlich fing sie von den verschiedenen Domestiken und deren Verhalten zu sprechen an, und frug, wie um Belehrung, nach mehreren wirthschaftlichen Gegenständen – aber alles wirkte nicht. »Ihr werdet das besser wissen,[69] als ich, Miß Eton, wie ich so eben erfahren habe,« sagte sie mißlaunig, »ich fand die Tugenden nicht an den Leuten, die Ihr rühmt, aber ich sehe auch die Dinge, wie sie sind, mich können sie auch nicht betrüben. Laßt Eure Schmeicheleien, ich bin eine einfache Frau, für mich paßt das nicht; da Ihr Alles besser wißt, braucht Ihr mich nicht um Rath zu fragen – mir ist auch Alles ganz gleich – mag Alles gehen, wie es will, ich mache mir gar nichts daraus.«

Dies waren ungefähr die höchst übellaunigen Reden, die Elmerice zur Antwort bekam, und die ihr endlich ein ruhiges Schweigen auferlegten. Doch plötzlich rief Madame St. Albans, nachdem sie einzelne Worte ausgestoßen hatte: »Wer hätte denken sollen, daß Herr St. Albans mich so heftig behandeln könnte!«

Erschrocken näherte sich Miß Eton sogleich dem Lager der Kranken, und bat sie herzlich und dringend, sich doch die Aeußerungen ihres Mannes nicht so zu Herzen zu nehmen. »Gewiß war sein Lob nur das Bemühen, Euch über Eure häuslichen Sorgen zu beruhigen, und vielleicht« – setzte sie schüchtern hinzu – »glaubte er selbst keinen Vorwurf verdient zu haben, da, wenn er seine Geschäfte vernachlässigt hat, dies aus Liebe und Sorgfalt zu Euch geschehen ist.«

»Ja, ja,« sagte die heftige und verzogene Frau, »so ist es Recht: er vertheidigt Euch, Ihr vertheidigt ihn, das kann nicht anders sein. Ihr habt Euch beide sehr genau kennen lernen!«

Miß Eton fühlte hier etwas sich ihr aus den Worten der Madame St. Albans aufdrängen, dem sie nicht mehr ihre gewöhnliche Langmuth entgegenstellen konnte. »Wir haben sicher beide nicht geahnet, uns über unser bisheriges Verhalten gegen Euch vertheidigen zu müssen; liebe Madame St. Albans,« erwiederte Elmerice mit Ernst, »erlaubt, daß ich Marylone in[70] Eure Nähe rufe – ich bin für den Augenblick, fürchte ich, Euch lästig, ich will daher einen lang verschobenen Brief an die Gräfin d'Aubaine schreiben.« Ohne von Madame St. Albans verhindert zu werden, entfernte sich Miß Eton – aber nachdem sie das gute Mädchen zu ihrer Herrschaft gesandt hatte, eilte sie, das Zimmer zu verlassen, da sie den hervorbrechenden Thränen nicht mehr zu wehren vermochte. Um so unangenehmer ward sie überrascht, als ihr auf dem Vorsaale, den sie durchschreiten mußte, um in ihr Zimmer zu gelangen, Herr St. Albans entgegen trat. Er sah mit einem Blicke die Stimmung des edlen Mädchen, das er so hoch zu verehren gelernt hatte, und auch auf seinem Angesichte ruhte ein wehmüthiger Ernst.

»Ich darf Euch nicht lassen, Miß Eton,« sagte er, der schnell grüßend Vorübereilenden in den Weg tretend – »ich muß Euch um Euren Rath bitten – versagt mir ihn nicht,« setzte er tief bewegt hinzu, »wenn Euch auch, wie ich fürchte, Eure neuesten Erfahrungen in meinem Hause gelehrt haben, wie unwürdig wir noch Alle sind, einen solchen Schatz, wie Miß Eton, zu beherbergen.«

»Ich bitte Euch, Herr St. Albans,« stammelte Elmerice – »treibt Eure Güte gegen mich nicht so weit, daß sie uns alle verlegen macht – und rechnet mir ganz einfache Handlungen nicht als Verdienst an, da sie so leicht zu vollführen waren, und durch Ueberschätzung auch ihren geringen Werth ganz verlieren müssen. Madame St. Albans wird sich freuen, Euch so schnell zurückgekehrt zu wissen; besucht sie jetzt, es wird ihr wohl thun.« –

»Nein, vergebt, Miß Eton, jetzt nicht! Ich muß Euch jetzt allein sprechen, und ehe ich meine arme Frau wieder sehe, denn ihr steht eine neue Erschütterung bevor.« –

In diesem Interesse aufgefordert und selbst beunruhigt durch die Stimmung des Herrn St. Albans, eilte Elmerice zu einem der eichenen Stühle im Salon, sich niederzulassen.[71]

»Ich weiß Euch Eure großmüthige Nachgiebigkeit nicht genug zu danken, Miß Eton,« sprach Herr St. Albans bewegt, Elmerice's Hand an seine Lippen drückend; »aber urtheilt von meiner Unruhe, als ich so eben diesen Brief von dem Schlosse Ste. Roche erhalte, der mir die tödtliche Krankheit der Mistreß Gray, meiner Schwiegermutter, anzeigt. – Vielleicht habt Ihr von dieser unglücklichen und menschenscheuen Frau schon Einiges gehört; doch ist ihr Leben so über allen Ausdruck von der gewöhnlichen Form aller anderen Menschen abweichend, daß man sie selbst und ihre ganze Existenz als ein Geheimniß ansehen muß. Sie hat sich, das Schicksal ihrer Gebieterin zu theilen, mit der sie, ihre Tochter, meine Frau verlassend, aus England nach Frankreich kam, in das Schloß von Ste. Roche vergraben. – Wie das Verhältniß dieser ihrer Gebieterin war, welch' ein Recht sie an den Grafen von Crecy hatte, dem früher diese Besitzung gehörte, bleibt ihr Geheimniß; aber nach dem Tode derselben, die wenigstens lange als Herrin des Schlosses betrachtet ward, gab sich Mistreß Gray dem finstersten Menschenhasse hin und verschloß sich in dem Theile des Schlosses, den sie mit jener unglücklichen Frau bewohnt hatte, um von da an keinen Menschen mehr zu sehen, als zuweilen meinen Vater, den Kastellan des Schlosses, der ihre kleinen Bedürfnisse nach Außen besorgte. – Seit seinem Tode ist sie noch mehr abgeschlossen. – Die Kinder der Nachbaren, denen sie einzig und allein Eingang gestattet, sorgen jetzt für ihre Bedürfnisse, aber keiner der Aeltern dieser Kleinen darf wagen, ihr zu nahen. Was der Graf Crecy für Gründe gehabt haben mag, meine Schwiegermutter als unanrührbar anzusehen, weiß ich nicht. Gewiß ist es, daß sie eine große Pension bezieht, daß bei seinen Lebzeiten die strengsten Befehle ergingen, Mistreß Gray in nichts zu beunruhigen, genau sich ihren Anordnungen zu fügen, und daß seinen Erben dies auch noch im Testament als unerläßliche Pflicht vorgeschrieben[72] ist. Meine Frau, welche in der Familie des Herrn Lester erzogen ward, begleitete damals Eure Mutter, Miß Lester, nach Frankreich. Hier sah ich Miß Gray zuerst, als sie ihre Mutter in Ste. Roche besuchte; aber das arme Kind fand an der düstern, strengen Frau keine Mutter, und hat sie nie an ihr gefunden. Dessen ungeachtet ließ meine gute Frau nie ab, kindliche Pflichten gegen sie zu erfüllen, so viel ihr dies erlaubt war; denn Mistreß Gray verläugnete es gar nicht, daß selbst die Nähe ihrer Tochter ihr lästig sei, und trostlos, sie so allein und verlassen in ihrem hohen Alter zu wissen, nahm diese dem Arzte von Ste. Roche das Versprechen ab, bei eintretendem Erkranken ihrer Mutter, sie sogleich davon zu benachrichtigen. Dieser Augenblick ist gerade jetzt gekommen. Der Arzt schreibt mir, daß er erst jetzt nach mehreren Tagen, da der Zustand schon höchst bedenklich scheine, ihre Krankheit erfahren habe, und treibt meine Frau zur Eile, wenn sie die letzten kindlichen Pflichten an ihr erfüllen wolle. – Denkt nun selbst, liebe Miß Eton, in welcher bösen Lage ich bin! Wie darf ich diese Nachricht meiner Frau bei ihrer Reizbarkeit mittheilen, ohne eine neue Gefahr über sie zu bringen, und wie darf ich es ihr verschweigen, da sie mir, wenn der Tod ihrer unglücklichen Mutter eintreten sollte, diese Schonung zum ewigen Vorwurf machen, und sich in ihrer kindlichen Liebe aufs Tiefste verwundet fühlen würde.«

Miß Eton war sehr erschüttert von dieser Mittheilung und, gleich dem besorgten Gatten, sehr beunruhigt um die Wirkung dieser Nachricht, die zu verschweigen eben so gefährlich war, als sie mitzutheilen.

Eben hatten Beide verabredet, den Pater Ambrosius in Rath zu nehmen, und waren in Begriff, sich zu trennen, als die Thüre aufging und zu Beider großer Ueberraschung Madame St. Albans, auf den Arm Marylone's gestützt und völlig gekleidet, obwohl noch schwankend und blaß, in den Saal trat.[73]

Das Erstaunen war gegenseitig; Madame St. Albans, die ihren Mann im Felde glaubte, Miß Eton auf ihrem Zimmer, schien am Boden gewurzelt, als sie Beide in eifriger, traulicher Unterredung vor sich sah.

Gewiß war das Gefühl der beiden so Ueberraschten, nach dem, was sie so eben mit dieser argwöhnischen Frau erlebt, nicht minder verwirrend, da ihnen einleuchtete, daß sie die Ursache dieses Beisammenseins noch nicht im Stande waren, auszusprechen. Daher war ein Augenblick, der Alle zur Freude berechtigte, jetzt nur gekommen, sie unsanft zu berühren.

Herr St. Albans empfand jedoch zu aufrichtig die Freude, die in diesem Erscheinen seiner Frau als Zeichen der Genesung lag, als daß nicht bald alles Andere in seiner Seele davor gewichen wäre. »O, meine Liebe,« rief er, ihr entgegen eilend, »wie überraschest Du mich – wie glücklich fühle ich mich, Dich so begrüßen zu können!«

Doch Madame St. Albans wies seine Hand ziemlich unsanft zurück, und indem sie Marylone befahl, das Zimmer zu verlassen, ging sie, sich von ihrem Manne abwendend, mit schwankenden Schritten auf Miß Eton zu. »Ich beklage, Miß Eton,« sagte sie bebend vor Zorn, »daß meine zu frühe Genesung, wie es scheint, die traulichen Zusammenkünfte mit meinem Manne nunmehr unterbrechen wird – jedoch ist es mir immer lieb, daß ich Gelegenheit bekam, die treue Sorgfalt kennen und würdigen zu lernen, die Ihr meinen häuslichen Angelegenheiten schenktet; daß sie sich bis auf das Herz meines Gemahls ausdehnen würde, habe ich freilich der Tochter meiner Margarith nicht zugetraut.«

»Halt' ein, unglückliche Frau!« – rief hier Herr St. Albans in der schmerzlichsten Heftigkeit, und schloß die zürnende Frau fast mit Gewalt in seine Arme. – »O versündige Dich nicht so grausam an diesem reinen Engel! denke, daß Du Dich an der Tochter Deiner Magarith versündigst!«[74]

»Versündigen! versündigen!« rief Madame St. Albans, ihren Mann zurückstoßend, – »mir scheint, Du hättest dies bereits gethan, und nicht mir wäre dieser Vorwurf zu machen. – Ich habe mit Dir über diese Angelegenheit nichts zu sprechen. nur Miß Eton wird sicher vorziehen, zu ihrer erhabenen Beschützerin zurück zu kehren, die vielleicht in ihrer hohen Bildung gleichgültiger gegen solche Handlungen ist, als ich, die schlichte, ehrliche Hausfrau, die nichts als ihren einfachen Menschenverstand und etwas gesunde Vernunft hat. Auch meine Wirthschaft« – fuhr sie lachend fort, »hoffe ich ohne das Vorbild der durch sie eingeführten neuen Ordnung, wie bisher, und allein leiten zu können.«

»Ich bitte Euch, Miß Eton, entfernt Euch!« rief hier Herr St. Albans – »ich kann Euch nicht so hart in meinem Hause beleidigen hören, und kann nicht anders, als mit Mitleiden an die Beschämung meiner unglücklichen Frau denken, wenn sie erkennen wird, wie grausam sie Euch eben beleidigte; daß dies geschehen wird, seid gewiß, und wenn Ihr dies Haus, wie ich fürchte, nun als ein unwürdiges fliehen werdet, wird Euch doch die größte Hochachtung von uns Allen folgen.«

Miß Eton hatte sich während dieser ganzen Scene bleich, und von den grausam über sie ausgeschütteten Beleidigungen erstarrt, an ihren Stuhl gelehnt, sie fühlte sich außer Stande zu antworten, war wie zum Tode verwundet von den wild rollenden Augen dieser Frau, und sich als den Gegenstand ihres Zornes zu fühlen, war der größte Schrecken, den sie je empfunden. Sie ließ es daher geschehen, als Herr St. Albans ihre zitternde Hand ergriff, sie nach der Treppenthüre führte, die er ihr öffnete, und sie dann entließ, obwohl er deutlich sah, wie sie kaum die Kraft hatte, die Stufen zu ersteigen.

Wir übergehen das etwas lebhafte, und zwischen Verlieren und Gewinnen schwankende Gespräch der beiden Ehegatten,[75] überzeugt, daß nach den Angaben, in welchen wir bisher versucht haben, den Karakter Beider zu schildern, dies billig verdeckt bleiben kann.

Madame St. Albans hatte bei der Rückkehr ihres Mannes sich in einen Sitz niedergelassen, in ihrem geträumten guten Rechte durch die feste und zürnende Haltung desselben etwas erschüttert. Herr St. Albans aber fühlte im Verlauf der Unterredung, daß hauptsächlich die Eitelkeit seiner Frau verletzt sei durch das etwas warme Lob, das er dem wirthschaftlichen Talente der Miß Eton gezollt. Wie alle beschränkten Frauen, die all ihren Verstand nöthig haben, um ihrem Haushalte vorzustehen, hielt sie diese Pflichten für unverträglich mit höherer Bildung und deren Beschäftigungen, und tröstete sich sehr dünkelvoll mit der Ueberzeugung, solche Frauen könnten ihre Pflichten nie vollständig erfüllen. Sie hatte sich längst gewöhnt, mit ironischem Stolze darauf hinzublicken, wobei sie nie unterließ, mit dem unbescheidensten Selbstgefühl ihre eigene Sphäre klein und unbedeutend zu schelten, indem sie sich aber Prädikate beilegte, die wirklich zu besitzen, nur das Streben und das Resultat der höchsten Vervollkommnung sein kann. Sie hatte sich mit lobenswerthem Eifer den Pflichten unterzogen, die die große Haushaltung ihres Mannes ihr überlieferte, aber unfähig, Plan und regelmäßige Ordnung in ihre und der Domestiken Geschäfte zu bringen, hielt sie stetes Selbstarbeiten für das Geheimniß aller guten Ordnung.

Ganz anders war die Erziehung, die Miß Eton durch das Beispiel ihrer Mutter erhalten hatte. Sie verstand vollkommen, die Geschäfte ihrer Haushaltung dem eigentlichen Leben unterzuordnen. Die strengste Ordnung war gerade nöthig, um dies geräuschlose Dasein des nothwendigen Betriebes möglich zu machen. Sie erzog ihre Leute zum Selbstdenken, und indem sie ihnen die Form vorschrieb, in die ihr Geschäft einpassen[76] mußte, gönnte sie ihnen in dieser Grenze die Willkür eigner Bewegung. Das ganze Räderwerk dieses Treibens war in eine Art Geheimniß gehüllt, niemals gewahrte man queer einlaufend, unregelmäßige Thätigkeit, nie das Stören oder Aufhören des häuslichen, geselligen Beisammenseins. Mistreß Eton legte den höchsten Werth auf die Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, aber sie hatte Geist und Bildung, um den Gegenstand zu durchdringen, sie schienen ihr immer nur die Mittel zum Zweck, nie der Zweck selbst. Diesen Zweck, das Wohlbehagen Aller, die ihr anvertraut waren, zu bewirken, erreichte Mistreß Eton vollständig, dies schien ihr der Lohn, den sie beabsichtigte, und sie trachtete nie durch in die Augen fallende Abmühung die Aufmerksamkeit oder den Dank ihres Mannes zu fesseln.

In diesem Sinne hatte Miß Eton die ihr hier durch die Umstände auferlegten Pflichten geleistet. Leicht fanden sich die Domestiken in die ruhigen, klaren Anordnungen, die plötzlich diese, von den ewig auf sie niederströmenden Worten ihrer Hausfrau zu Maschinen gewordenen Leute zu einer Art von Freiheit erhob, die ihnen doch genauer, als früher, ihre Pflichten bezeichnete. Worin der ewige häusliche Embarras ihrer Wirthin lag, hatte Miß Eton lange erkannt; aber es war ihr nur eine wiederholte Erfahrung, daß, wo die Kraft des Geistes fehlt, einen Gegenstand in seinem Wesen aufzufassen, eine regellose Thätigkeit eintritt, die bei ihrer nothwendigen Belästigung das Individuum zu Dünkel und Anmaßung führt, die es mißtrauisch und tadelnd jeder andern Weise entgegen stellt.

Es läßt sich kaum sagen, in welchem Grade Madame St. Albans von der Mittheilung ihres Mannes über Miß Eton's wirthschaftliches Verhalten überrascht war, und mit welchem Zorne sie der Gedanke erfüllte, ihr Mann könne darin irgend einem Wesen der Erde den Vorzug geben. Sie hatte nicht ohne eine gewisse Koketterie darnach getrachtet, ihm die höchste[77] Meinung von ihrer Thätigkeit, Umsicht und der großen Last zu geben, welche sie trüge. Ganz erschöpft von diesen Sorgen sich darzustellen, und damit ihre eigenthümliche, oft mürrische und übellaunige Art zu entschuldigen, war immer das Mittel, womit sie ihren unendlich sanften und zu jeder Anerkennung stets bereiten Mann an sich zu fesseln suchte, und ihn über die Lücken täuschte, die der höher gebildete Mann erkannte, und doch gegen die so in Anspruch genommene Frau zu rügen, ihm ein Unrecht schien. – Herr St. Albans wußte daher auch mit der Art, die ihm dieser reizbaren Frau gegenüber zur Gewohnheit geworden war, diesen Feind in ihr durch seine Schmeicheleien zu beschwören – und als er sie nur erst ruhiger sah, gelang es ihm bald, sie zur Anerkennung ihres Unrechts gegen Miß Eton zu bringen.

Sei es nun, daß die heftige Gemüthsbewegung die letzte Schwäche der Krankheit von Madame St. Albans genommen hatte – sei es, daß der Augenblick ihrer Genesung wirklich gekommen war – genug, im Laufe des Gesprächs fühlte ihr Gemahl sich ganz ermuthigt, ihr die Lage der Dinge auf Ste. Roche mitzutheilen und damit auch sein letztes Beisammensein mit Miß Eton zu erklären.

Die arme Frau fühlte sich durch diese Mittheilungen mehr in ihrem Geiste, als körperlich überwältigt; aber wir dürfen zu ihrer Ehre es nicht unerwähnt lassen, daß ihr das Unrecht, das sie Miß Eton gethan, sehr zu Herzen ging und sie durchaus selbst zu ihr hinaufsteigen wollte, ihr Abbitte zu thun. –

Die Stimmung der armen Elmerice war keinesweges so ruhig, als wir es ihrem unschuldigen Herzen zutrauen würden. Die Beschuldigung selbst hatte sie verwundet, aber ob sie gerechtfertigt werde oder nicht, es blieb gleich für sie; das Haus, wo sie dies erfahren, mußte sie jedenfalls verlassen. Aber hierin lag eine Fülle von Sorgen für sie, deren Grund uns noch entzogen[78] bleibt: denn eben so unmöglich schien es ihr, jetzt zu ihrer Wohlthäterin zurückzukehren. So fühlte sie denn zuerst, daß ihr eine Heimat fehle, eine immer für sie bereitete schützende Stätte, wie das älterliche Haus in so jungen Jahren das einzig wahrhaft ausreichende Asyl bleibt, und eine Fülle heißer Thränen floß dem Andenken dieser so schön, so vollständig besessenen und nun für immer entschwundenen Zuflucht. »O meine Aeltern,« sprach sie – »sähet Ihr Euer armes Kind in solcher Lage, könntet Ihr mir noch die Arme öffnen, die mich so lange schützend umschlossen!« – Da kam ein stiller, süßer Friede in ihr Herz, wie der Segenskuß dieser ehrwürdigen Beschützer, und auf ihre Kniee sinkend, konnte sie innig beten – beten um die Kraft, das Rechte zu thun.

Leise hatte Madame St. Albans die kleine Treppe erstiegen und trat jetzt laut weinend in Elmerice's Gemach. – »O, Tochter meiner Margarith, wirst Du mir vergeben?« sprach sie laut schluchzend, indem sie an der Thüre stehen blieb. Und Elmerice? – Elmerice stand auf und empfing die Reuige, wie man es thut, wenn man gebetet hat, und Gottes Frieden unser Herz erquickt. Sie war ohne Thränen, ruhig, ernst, aber weich und wohlthuend in jedem Laut, in jeder Bewegung, und Madame St. Albans fühlte unwillkürlich eine Art Ehrfurcht vor dem reinen, hohen Geiste, der ihr so ohne Absicht, ohne Anmaßung entgegen trat.

»O, mein Kind, wie danke ich Dir, daß Du durch Deine schnelle Vergebung diese eine große Last von meiner Seele genommen, da, was mich außerdem niederbeugt, schon hinreichend ist – mein guter Mann hat mir den Brief aus Ste. Roche mitgetheilt.«

»O, mein Gott!« rief Elmerice erschrocken, »wie viel stürmt auf Euch ein, arme, unglückliche Frau! Faßt Euch doch nur, und sagt mir, ob ich Euch helfen, ob ich Euch dienen kann!«[79]

»Ach, Elmerice,« sagte Madame St. Albans weinend – »versprich mir nur zuerst, daß Du mich nicht verlassen willst; denke, wenn Du so zu Deiner Gräfin zurückkehrtest und ihr sagtest, ich hätte Dir das Haus verboten!«

»Denkt daran fürs Erste nicht,« erwiederte Elmerice, »wir haben Wichtigeres zu überlegen; sagt mir, was Ihr beschlossen habt in Bezug auf jene Nachrichten.«

»Was ich beschlossen habe?« rief Madame St. Albans mit ihrer gewohnten Energie – »nun, was Anderes, mein Kind, als hinzureisen zu dieser armen verlassenen Mutter.«

»Aber jetzt, in diesem Zustande von Schwäche,« entgegnete Elmerice – »wie werdet Ihr das aushalten, welchen Gefahren setzt Ihr Euch aus!« –

»Das ist Alles wahr, meine liebe Elmerice, aber darum kann ich doch nicht bleiben. Ich habe zwar Herrn St. Albans nicht abgehalten, zu dem guten Pater Ambrosius zu gehen und ihn in Rath zu nehmen, aber ich habe das nur zugelassen zu seiner Beruhigung – mein Entschluß steht fest, und kein Herr St. Albans, kein Pater Ambrosius wird mich abhalten, meine kindlichen Pflichten zu erfüllen.« –

»So wird Euch doch wohl Herr St. Albans begleiten?« fragte Elmerice gespannt. –

»Herr St. Albans, mein Kind, kann mich nicht begleiten; unsere Wirthschaft darf nicht ganz zu Grunde gehen – nein, nein, ich würde dies niemals leiden!«

»Nun, so nehmt mich denn mit,« rief Elmerice entschlossen – »ich will für Euch sorgen, ich will Euch pflegen und, so weit ich es vermag, unterstützen; denn niemals kann ich zugeben, daß Ihr in diesem gefährlichen Zustande ohne andere Begleitung, als die eines Mädchens, reist.«

Madame St. Albans schwieg einen Augenblick, dann breitete sie die Arme gegen Elmerice aus, und mit kurzem, heftigem[80] Schluchzen sprach sie: »Komm' her! komm' an meine Brust! Du bist, weiß Gott, meiner Margarith echtes Kind! So war sie auch – nie nachtragend, schnell versöhnt und dann zu jedem Liebesdienste bereit. Doch mitnehmen kann ich Dich leider nicht – wo ich hingehe, das ist ein höchst wunderlicher Ort, und für Dich kein Obdach zu finden – weiß ich doch kaum, ob meine arme, menschenscheue Mutter mich, die eigene Tochter, bei sich aufnehmen wird; eine Fremde darf ihre Schwelle nie mehr betreten.«

»Gut,« erwiederte Elmerice – »so werde ich in Eurer Nähe ein Obdach finden. – Es liegt ein Dorf bei dem Schlosse, es lebt ein Geistlicher dort – irgend wo, vielleicht selbst in einem andern Theile des Schlosses werde ich ein bescheidenes Unterkommen finden, und dann die Beruhigung genießen, mit Euch die am meisten zu fürchtende Hinreise gemacht zu haben und in Eurer Nähe zu sein, solltet Ihr, was Gott verhüte, Hülfe bedürfen.« –

»Ach, mein Kind, das sind alles Opfer, denen Du nicht gewachsen bist! Da könntest Du in Lagen kommen, aus denen ich Dich nicht einmal erlösen könnte, wärest Du erst einmal da.« –

»O streitet nicht länger mit mir,« erwiederte Elmerice dringend – »ich bin eben so entschlossen, als Ihr selbst, und weiß, daß ich meinen Kräften besser vertrauen darf, als Ihr es annehmen wollt; darum laßt uns jetzt an nichts denken, als wie wir so leicht und gut, wie möglich, diese nothwendige Reise einrichten wollen.« –

»Da sei Gott für, daß ich Dich eben jetzt wieder beleidigen möchte, und an Deinem guten Willen zweifeln – ich bin ganz davon durchdrungen und füge mich, wenn Du darauf bestehst, in Deinen Beschluß.«

»Nun, so laßt uns nicht säumen, genießt jetzt etwas der Ruhe, liebe Madame St. Albans, und laßt mich sorgen, daß ich Alles zur Abreise vorbereite.«[81]

»Ja, und zwar auf morgen früh,« sagte Madame St. Albans entschieden, »denn schwere, schwere Ahnungen beängstigen mich – ich will nicht zu spät kommen, was an mir liegt.« –

Elmerice führte Madame St. Albans nach ihrem Schlafzimmer, und als sie für ihre Ruhe gesorgt, eilte sie, mit Marylone die nöthigen Anstalten zu verabreden.

Herr St. Albans kehrte gegen Mittag mit Pater Ambrosius zurück, und Beiden blieb, dem energischen Willen der Kranken gegenüber, kein Mittel, als in ihre Abreise einzuwilligen. Dabei hob Madame St. Albans mit großem Lobe das Anerbieten der Miß Eton hervor, und so sehr Herr St. Albans auch vor der Größe dieses Opfers erschrak, fühlte er doch, welche Wohlthat es war; erst von da an fügte er sich mit einiger Ruhe in diese bedrohende Reise.

Obwohl das erste Zusammentreffen mit ihm und Miß Eton nicht ohne Verlegenheit blieb, traten dennoch die zunächst liegenden, so wichtigen Umstände bald so dringend hervor, um nicht jede andere Empfindung in den Hintergrund zu stellen. Es war keine kleine Arbeit, Madame St. Albans reisefertig zu machen, und alle ihre häuslichen Befürchtungen und Zweifel zu beseitigen. Es gehörte die immer gleiche ernste Ruhe und Geduld der Miß Eton dazu, um nicht an so viel Widerstand und Peinlichkeit den Muth zu verlieren. Doch gelang es ihr endlich, das Haus bestellt und den Reisewagen gepackt zu sehen, und sie zog sich auf ihr Zimmer zurück, die wenigen Stunden der Nacht bis zur Zeit der Abreise sich selbst zu leben.

Fast betäubt von den Eindrücken des Tages, rang ihr Geist, sich zur Klarheit empor zu arbeiten, und so weh und gebeugt sie sich fühlte, mußte sie diese ängstliche, traurige Reise doch als eine Wohlthat erkennen, da ein längerer Aufenthalt in diesem Hause ihr jetzt fast unerträglich geschienen hätte, und ihr doch keine andere Zuflucht übrig blieb.[82]

Es giebt Augenblicke im Leben, die in uns bis auf das letzte Fünkchen alle leise gehegten Hoffnungen auslöschen, indem sie uns eine Klarheit der Seele leihen, durch die wir alle Illusionen selbst vernichten und von Allem zurückgetrieben, was wir festzuhalten trachteten, nichts übrig behalten, als die Sehnsucht, vor der wir uns vergeblich zu flüchten suchen, die immer wieder den kaum haftenden Verband von unsern Wunden nimmt und sie bluten läßt – ach, nur so viel, um die Kraft der Jugend, den Muth zum Leben zu entkräften, nicht bis zur süßen Todesruhe!

So fühlte Elmerice – sie sah ihre Lage klar und deutlich, sie wendete sich ab von jeder Hoffnung – aber die Sehnsucht schwellte ihr junges Herz, und sie fühlte eine tiefe Ermüdung, wenn sie an das dachte, was ihr noch übrig blieb nach dem, was sie hatte aufgeben müssen.

Gegen Morgen schrieb sie ihrer Wohlthäterin noch einige Zeilen, ihre längere Abwesenheit durch die Krankheit der Madame St. Albans entschuldigend; ihre Reise verschwieg sie dagegen, fürchtend, dadurch die zärtliche mütterliche Freundin zu beunruhigen.


Die Wälder von Ste. Roche waren berühmt. – Auch glichen sie mit ihren kolossalen Stämmen, ihren gewaltigen, in die Luft in einander geflochtenen Kronen den Bildern, die uns ein fremder Welttheil von den Urwäldern gegeben hat, in denen die Axt niemals erklungen und der Vegetation ihr eigenes despotisches Walten gestattet ist. Mit Ranken, Moos und Schlinggewächsen jeder Art überwuchert, sehen wir das zum kräftigen Widerstand unfähige Stämmchen am Boden sich hinschmiegen, dem mächtigen Stamme weichend, der sich mit dieser Unterdrückung doppelt Platz gewann und, zu säulenartiger Pracht[83] emporstrebend, das heitere Gewölbe seiner hundertfältigen Zweige leicht gen Himmel trägt. Die Sonne bahnte sich hier nur selten den Weg – nur in einzelnen glänzenden Lichtstreifen erreichte sie den Boden, der in der üppigsten Abwechselung bald das kurze, saftige Moos der Laubwälder, bald die lustig durch einander geschlungene Vegetation der mannigfachsten Ranken, Blüten und Waldbeeren zeigte. – Der Weg, den die Reisenden passiren mußten, schlang sich wie ein Geheimniß durch hin, bald ganz verschwindend, bald nur in leichten Andeutungen wahrzunehmen. – Das eigene majestätische Gespräch der hohen Laubkronen mit der oberen Luft, die sie erreichten, ward allein unterbrochen durch das Geschwätz der kleinen lustigen Waldbäche, die zwischen hohen bemoosten Felsstücken sich ihr grünes Bettchen ausgehölt hatten, und nun sorglos, wie Kinder zu den Füßen der Aeltern, spielten, während das niedere Gebüsch eine lockende Wiege für die junge Brut zahlloser Vögel war, die mit ihren Nestchen unter den jungen Zweigen hockten. Dazwischen gingen die schlanken Bewohner des Waldes mit ihren glänzenden, vielzweigigen Geweihen in großen Gesellschaften in ihrem weiten Palaste umher, und sahen mit stolzer Ruhe den lustigen Hasen nach, wie sie in ewiger, unnützer Eile vorüber jagten und die Eichhörnchen in die Luft schreckten, die mit klaren Augen von der hohen Wohnung argwöhnisch auf die verschiedenen Gesellschaften niederblickten.

Leicht war aus dem Leben dieser Wälder das Schicksal der Besitzungen von Ste. Roche zu erkennen. Sie waren von den Menschen vergessen, weder zum Nutzen, noch Vergnügen mehr bestimmt, ihrem inneren Bedürfnisse zur freien Entwickelung überlassen, und wahrlich ein höchst eigenthümliches Bild stolzen Naturlebens!

Am Abend des Reisetages sahen sich die Damen in dem Theile des Waldes, der unmittelbar an das Schloß Ste. Roche[84] grenzte. Sie hatten am Mittag aus dem Kloster Tabor einen Führer mitgenommen, durch dessen Weisung es ihnen allein gelang, auf dem rechten Wege zu bleiben; jetzt verkündigte er ihnen die Nähe von Ste. Roche, und beide Frauen hörten diese Mittheilung mit großer Bewegung an.

»Miß Eton, es ist wahr« – hob Madame St. Albans an – »daß ich mich niemals diesem alten Wohnsitze meiner Mutter nahe, ohne eine Art Herzklopfen zu fühlen. Aber gewiß ist es auch, daß schwerlich ein zweiter Ort gefunden werden soll, an dem so viele und unerhörte Histörchen haften, als an diesem alten Schlosse. Wenn Ihr es sehen werdet, so wird es Euch möglich scheinen, daß hier alles Abenteuerliche Raum fand, was davon erzählt wird – seht, ich bin keine leichtgläubige Thörin, aber ich selbst könnte denken, es sei hier nicht, wie sonst in der Welt, zugegangen, und obwohl der neue Besitzer Alles thut, den Verfall zu hindern, geschieht doch auf ausdrücklichen Befehl und nach testamentarischer Verordnung des verstorbenen Grafen Crecy nichts, um dies wunderbare Aeußere zu verändern. – Ach, Elmerice,« hob sie nach einiger Zeit an, »wie werde ich Alles dort finden! eine Leiche oder eine Sterbende?«

Hierauf ließ sich schwer antworten, und Miß Eton frug daher: ob Mistreß Gray viel gekränkelt habe? –

»Ach, seht, das ist, wie man es nimmt – gesund war sie nie recht, wenigstens seit ich sie kenne – aber selten, selten, daß sie dem nachgab – ehe sie nicht niederfiel, in ihr Bett getragen werden mußte, gab sie keiner Krankheit nach, ja, auch dann hatte sie noch tausend Eigenheiten und widerstrebte immer in den Anordnungen zu ihrer Pflege; und des Nachts, wo jeder Mensch schon bei gesunden Tagen Gott danken würde, dort Jemand um sich zu haben, schließt sie sich ein, und Niemand darf bei ihr bleiben.« –[85]

»Welche wunderbare Frau muß Eure Mutter sein!« rief Elmerice unwillkürlich, »und welch' Verlangen hege ich, sie zu sehen!«

»Ja,« sagte Madame St. Albans – »so wunderbar, wie ihr altes Schloß; aber Ihr werdet von Beiden wenig zu sehen bekommen. Denkt Ihr, daß ich schon je weiter kam, als in den großen Vorsaal, den meine Mutter bewohnt? Seht, der liegt wie ein Riegel vor den weitläufigen Gemächern, die einst die Gebieterin meiner Mutter bewohnte, und seit ihr Sarg daraus weggetragen ward, haben sie sich nie wieder einem menschlichen Fußtritte geöffnet, als dem meiner Mutter. Aber sie hält ihre Andacht dort, sie lebt hier ein verzehrendes Leben der gramvollsten Erinnerung, sie – ach, Gott vergebe mir! – sie, glaube ich, schwört hier immer aufs Neue allen Menschen Haß. Seht, das sind Dinge, die an dem gesunden Menschenverstande meiner Mutter verzweifeln lassen, gäbe sie nicht sonst Proben, daß er ihr sehr gegenwärtig ist.«

»Aber was sagt man denn so Unerhörtes von diesem Schlosse?« frug Elmerice weiter; denn sie konnte ihr lebhaft erregtes Interesse nicht mehr verbergen.

»Ach, seht, Miß, so lange es steht, hat es wenig guten Ruf. – Es war zuerst ein königliches Jagdschloß, und man sagt, Heinrich der Zweite habe hier eine schöne Freundin verloren, die seine Gemahlin, Katharina von Medicis, habe ermorden lassen. In einem Thurme, der damals das kleine Schloß begrenzte, zeigt man ein Zimmer, das noch in schönen geschnitzten Holzwänden von dereinstiger Pracht zeugt; da soll Heinrich die schöne Eudoxia Nemours gefunden haben, wie sie ihm nur noch die blutende Wunde zeigen konnte und dann verschied. Seitdem heißt er Eudoxien-Thurm, und Alle wollen darauf sterben, Eudoxia sitze noch zuweilen in ihren weißen Gewändern auf dem kleinen Altan und sehe in den Wald hinein,[86] wo sie sonst den König daher kommen sah. – Solche Geschichten haben nun wenig Reiz für mich; auch sah ich sie nie, und muß sie wandern und vergebens warten, geschieht ihr Recht: solche Frauenzimmer bereiten sich ihr Loos selber; – aber seht, freilich später, sagt man man, sei nie viel Anderes, als Unglück hier geschehen und geschmiedet worden. Katharina von Medicis baute das Schlößchen oder den Flügel rechts daran, und die großen Wälder umher ließen hier prächtige Jagdpartieen zu; aber immer geschah ein Unglück – es verschwand Jemand oder ward offen wo ermordet, und man sprach schon damals, daß die böse Königin den Ruf des Schlosses benutze, die heimliche Rache, die sie an Einem oder dem Andern ausüben wolle, auf den abergläubischen Spuk des Schlosses zu wälzen. So, sagt man, habe man sich gefragt, wenn die Gäste sich auf ihren despotischen Ruf hier versammelten, wer wohl das bezeichnete Opfer sein werde – ich aber sage: die Narren, daß sie gingen! – mich hätte sie einladen können, so viel sie Lust gehabt hätte, ich wäre doch nicht gekommen.«

»Die damalige Zeit,« erwiederte Elmerice, »hat freilich manchen Zwang auferlegt, der wenigstens jetzt nicht mehr in so offener Gewalt hervortritt, obwohl noch manches sehr Harte unter Ludwig dem Vierzehnten und selbst unter seinem Nachfolger, dem jetzigen Könige, möglich sein soll.«

»Ach, seht mein Kind, das sprengen die Hofleute nur so aus, damit man sie nicht auslachen soll, wenn sie immer über die Last seufzen, bei Hofe erscheinen zu müssen, da sie sich doch hindrängen, so viel sie können. Das habe ich damals für mein ganzes Leben lang heraus bekommen, als wir, ich und Deine Mutter, zu Gaste waren in dem großen Hause d'Aubaine, bei den Eltern Deiner Gräfin. Sieh', Kind, da hieß es immer von dem Hofzwange – aber hoftoll waren sie; denn gab es ein Fest, so waren sie alle in Fieberangst, ob sie auch eingeladen würden,[87] ob auch zur rechten Zeit, nicht später, als sie berechnet hatten, daß es ihnen zukäme – und erschien der Tag, so waren sie so wichtig, so gehoben und mitleidig gegen uns arme bürgerliche Mädchen, daß ich sie alle auslachte, wenn sie den Rücken wendeten, denn nicht wie zum Fest zogen sie hin, sondern wie zu einem Leichenbegängnisse, so ernst und beklommen. Aber das war lauter Hochmuth, Furcht vor Demüthigungen, da sie doch, wie sehr sie sich auch erhoben, immer wieder Einen ausspürten, der sich über sie erheben wollte; und da nahmen sie denn ihre Strafe damit hin, denn jeder tolle Hochmuth straft sich selbst.«

»Seit wie lange gehörten diese Besitzungen denn dem Grafen von Crecy?« unterbrach Elmerice die sich erhitzende Madame St. Albans. –

»Katharina von Medicis schenkte sie einem Grafen von Crecy, der ihr manchen erlaubten und unerlaubten Dienst geleistet haben soll, aber das Unglück hatte sich nicht mit dem neuen Besitzer verändert – es ging so fort. – Man sagt, diese Besitzungen waren einem Landsmanne der Königin, einem Marquis Spinola, zugesagt. Da verlor der Herr Graf Crecy durch unordentliche Wirthschaft sein ganzes Vermögen, und bestand nun bei der Königin darauf, sie solle ihm helfen; aber Geld war da oft rar – genug, sie hatte nichts, aber den Grafen gebrauchte sie, der Spinola nutzte ihr nicht mehr – da soll denn hier wieder eine Jagdpartie veranstaltet worden sein, und Spinola und Crecy, die wie gereizte Tieger gegen einander waren, sollen Streit gehabt haben, den die Königin anfachte. – In dem Schlafzimmer Spinola's hörte man später in der Nacht Geschrei und Waffengeklirre, man hatte nach einigen Augenblicken der Ruhe den Grafen Crecy daraus entfliehen sehen – was da geschah, ist nie entdeckt worden; als aber die Kammerfrauen auf ihr Geschrei zur Königin gingen, lag die Leiche Spinola's, mit vielen Dolchstichen durchbohrt, vor ihrem Bette. Die Blutspur[88] war zu sehen von seinem Zimmer bis dahin, wo er starb – man sagt, mit einem Fluche gegen die Königin und das Geschlecht der Crecy, das hier seinen Untergang finden solle. – Am andern Morgen floh die Königin und der ganze Hof, wie von Geistern gejagt, und nie betrat ein königlicher Fuß wieder dieses verwünschte Schloß. Der Herr Graf Crecy nahmen die Besitzungen, diesem Fluche zum Trotz, in Beschlag, zogen die großen Revenüen, bauten den dritten Flügel, wie das Uebrige prachtvoll aus, und lebten hier oft in Saus und Braus. – Aber endlich ist doch erfüllt worden, was der arme Marquis in seiner Todesangst verheißen hat: das Geschlecht der Crecy ist hier erloschen, und sein Ende ward auch durch grausame Verbrechen herbei geführt – doch das erlaßt mir zu berichten, das ist zu neu noch; seht, da lebte ich schon in dieser Gegend, das kann ich nicht erzählen, ohne all' die Angst wieder zu fühlen, die ich damals mit durchmachte, und als ich zuerst wieder hieher zu meiner armen Mutter mußte, dachte ich, ich könnte es nicht mehr überleben. –«

Elmerice fühlte sich ebenfalls von dem Gehörten zu sehr erschüttert, um auf weitere Nachrichten nicht gern verzichten zu mögen, und bat daher ihre Begleiterin, sich die nöthige Ruhe zu gönnen. Dies war aber durch die Eindrücke, die ihr der nun immer bekannter werdende Weg aufnöthigte, nicht möglich – sie begleitete alles sich Darbietende mit Bemerkungen, und forderte Elmerice zu immerwährender Aufmerksamkeit auf. Diese fand sich jedoch leicht, wo die Gegenstände so anziehend und bedeutend sich zeigten.

Die Waldgegend, die sie jetzt passirten, war unter der Hand der Kultur zu einem Garten gelichtet, der sich von dem übrigen Theile durch die kostbarsten, mit Gräben geschützten Gitter absonderte; und seine breiten Wege und die uralten gepflanzten Alleen führten endlich die Reisenden dem Schlosse[89] Ste. Roche entgegen, das Beide mit Herzklopfen zu sehen erwarteten.

»O seht, seht, da ist es!« – rief plötzlich Madame St. Albans mit einem Erblassen und einem Sinken der Stimme, als fiele sie in Ohnmacht; und auch Elmerice fühlte ihre Nerven durchzuckt von einem ihr unbekannten Gefühle, was zwischen Furcht und Rührung schwankte, als sie plötzlich den wunderbar großartigen Bau des Schlosses Ste. Roche vor sich ausgebreitet sah. Waren es die eben vernommenen Erzählungen, die sich dem Anblicke desselben zugesellten, und es so schauerlich und drohend erscheinen ließen, war es die ernste, imposante Ruhe, die es durch seine Lage inmitten dieser großartigen Wälder, erhielt – genug, Elmerice glaubte, es könne nichts Aehnliches mehr auf der Welt geben, und drückte, wie verzagt, die Hand auf ihre Augen, und als habe es ihr jetzt schon ein tiefgehendes Leid angethan, fühlte sie sich von dem Gedanken, ihm näher zu rücken, wie erdrückt.

»Ja, ja, meine Liebe, da wirst Du wohl erkennen, daß ich nicht ganz Unrecht hatte, Dich hier nicht herführen zu mögen« – sagte Madame St. Albans zu der tief erschütterten Elmerice, die, über sich selbst eben so erstaunt, wie über den Gegenstand ihrer Gefühle, unfähig war, einen Thränenstrom zurück zu drängen, und nach diesem unfreiwilligen Ergusse erst Muth faßte, wieder darauf hinzublicken. – »Ich gestehe,« sagte sie schüchtern, »ich erhielt noch nie solchen Eindruck! Verzeiht mir, ich werde mich gleich gefaßt haben; bereut es nicht, mich hieher geführt zu haben, diese Schwäche soll Euch nicht lästig fallen.«

Madame St. Albans war zu sehr mit sich beschäftigt, um nicht leicht ihre Aufmerksamkeit von Elmerice abziehen zu können, und diese gewann nun Zeit, sich zu ermuthigen und sich näher mit dem bekannt zu machen, was sie so tief erschütterte. Der Wald war nach der Vorderseite des Schlosses gelichtet, wenigstens[90] so weit, um es auf einer kleinen Erhöhung ganz den Blicken auszusetzen; doch im Hintergrunde schlossen sich die in dem jungen, gelbgrünen Lichte des Frühjahrs leuchtenden, weitläufigen Wälder dicht daran an. Vor dem großen Schloßhofe, dem sie jetzt in einiger Entfernung gegenüber waren, ließ Madame St. Albans halten, um Elmerice in der Mitte dieses Hofes unter dem riesenhaften Dome dicht im Kranze gepflanzter Ulmen, ein hohes Grabmal von weißem Marmor zu zeigen, unter dem man den ersten Besitzer der Familie Crecy begraben hielt. Das Schloß sah darauf hin, wie ein drohender Geist, seine Thürme, Erker, schwer verzierten und phantastisch von Außen ansteigenden steinernen Treppen, die hohen, thürartigen Fenster, und wieder die Schießscharten ähnlichen Zuglöcher der Thürme und Gallerien, die endlich völlig einfarbig gewordene, nebelartig graue Färbung des ganzen Baues, gaben ihm ein so geisterartiges, der Mitwelt entrücktes Ansehen, daß Elmerice nicht mehr in Erstaunen gewesen wäre, wenn es vor ihren Augen in Nebel zerstoben wäre, als seine wirkliche Existenz ihr verursachte.

Madame St. Albans wunderte sich dagegen über den besseren Zustand des Ganzen. Seit zwei Jahren war sie nicht hier gewesen, und es glich damals einer Ruine; jetzt aber war Alles in brauchbarem Stande, und die Erhaltung des Schlosses offenbar beabsichtigt, wie Wege und Einfahrten aufgeräumt und zugänglich gemacht. Der Wagen umfuhr das Schloß in einem Halbkreise, und Madame St. Albans zeigte Elmerice den Flügel, der ihrer Mutter angehörte. – Mit dicken eichenen Bohlen waren alle Fenster verwahrt, kein Zeichen des Lebens ließ sich sehen, und Alles schien verödet und ausgestorben. Dagegen blickte man durch geöffnete Fenster in den sogenannten neuern Flügel, und obwohl der düstere Karakter aller dieser großen Gemächer jeden Raum als Paradezimmer eines Leichenbegängnisses erscheinen ließ, leuchtete doch die schwere Vergoldung[91] zwischen den düstern Tapeten überall durch, und zeigte von erhaltener oder hergestellter Pracht.

Zunächst der Wohnung der Mistreß Gray lag am Ende einer dichten Allee das kleine Dorf Ste. Roche, und an die alte gothische Kirche lehnte sich die freundliche Wohnung des Vikars, an deren Schwelle die Reisenden ihren Wagen verließen.

Der Hausflur, in den sie eintraten, zeigte, dem Eingange gegenüber, durch eine Hinterthür auf ein schön umlaubtes Gärtchen, an dessen frischen Rasenplätzen sorgsam bepflanzte Blumenbeete, unter dem Schutze hoher Kastanien- und Ahorn-Bäume, ihre Entwickelung erwarteten. Schon beim ersten Schritte in diesen Flur, der mit seinem hohen Kamine und seinen eichenen Holzwänden zugleich den Salon bildete, fühlte man sich von dem Geiste des Friedens angeweht, und ein Blick umher, mit dem man die einfachen Beschäftigungen der Hausbewohner übersehen konnte, gab die Gewißheit, hier den Anklang eines höheren geistigen Lebens zu finden. An der Thür in einem eichenen Lehnstuhle saß eine kleine weibliche Figur hinter einem Rädchen, das über das Andachtsbuch in ihren welken Händen vergessen schien. Als die Fremden eintraten, erhob sie sich jedoch sogleich und ging rascher, als ihr Alter vermuthen ließ, den Ankommenden entgegen.

»Nun, liebe Mademoiselle Veronika, darf ich hoffen, noch von Ihnen erkannt zu werden?« rief Madame St. Albans, auf sie zueilend.

»Erkannt und erwartet jede Stunde,« sagte Veronika sanft und freundlich, »denn daß eine so gute Tochter nicht ausbleiben würde, konnten wir leicht denken. Seid demnach willkommen und zugleich getrost, denn noch lebt die arme Leidende; ja, es sind sogar Zeichen der Besserung eingetreten.«

»So sei Gott gelobt!« rief Madame St. Albaus mit ihrem schnell hervorbrechenden Schluchzen, und eilte dann, Miß Eton[92] der alten Dame vorzustellen: »Miß Eton wollte mich nicht allein reisen lassen, denn ich war am Tode, als Eures Bruders Brief eintraf, und da müßt Ihr schon verzeihen, wenn ich Euch bitte, der jungen Miß ein Obdach zu gönnen, denn Ihr wißt wohl, aufs Schloß kann ich sie nicht mitnehmen; wer weiß, ob ich selbst Obdach dort finde.«

Veronika hatte während dem ihre kleinen klugen Augen nicht von Elmerice gewendet, und schien die ganze Rede der Madame St. Albans überhört zu haben, denn sie wiederholte den Namen Eton und frug nach dem schon Vernommenen: »Also aus England seid Ihr, liebe Miß? – Nun, seid willkommen,« fuhr sie dann gesammelt fort; »dies kleine Haus hat immer Raum für Einen, der einfache Sitte nicht verschmäht und das Mangelhafte durch ein freundlich Gesicht vergüten läßt. – Der Vikar wird bald zurück kommen von St. Flêche, wo er die Kranken besucht; dann läuten wir Ave Maria, und bis dahin wollen wir uns hier einrichten.« Sie öffnete demnächst ein kleines Zimmerchen, das ebenfalls nach dem Garten zu ging, und das sie den beiden Frauen als das ihrige anwies, und zog sich sodann ohne lästige Dienstlichkeit zurück. Die klösterlichste Einfachheit war hier mit einer gewissen geschmackvollen Zierlichkeit vereinigt, und zwischen den beiden weißen Himmelbetten stand ein kleines Betpult vor einem mit frischen Blumen geschmückten Krucifixe.

»O, wie schön ist es hier!« rief Elmerice, sich in einen harten Holzstuhl am Fenster niedersetzend, »wie wohl ist mir hier!«

Madame St. Albans sah sie mit ungläubigem Lächeln an, und sagte dann kopfschüttelnd: »Nun, nun, für Euch wird es schwerlich sein – Ihr seid doch wohl zu sehr verwöhnt.«

»Nein, nein!« rief Elmerice, aufs Neue ihrer seltsamen Wehmuth unterliegend, und die niederfallenden Thränen aus dem niedrigen Fenster in das Spalier der zartknospenden Weinreben[93] senkend – »hier ist Frieden! hier ist mir wohl! O, wie danke ich Euch, daß Ihr mich hieher geführt habt!«

Was Madame St. Albans nicht verstand, glaubte sie unbedenklich tadeln zu können, und so wandte sie sich achselzuckend von Elmerice ab und kramte unter ihrem Gepäcke, das Veronika indessen durch eine eben so stille, nonnenhafte Magd von dem Wagen hatte abräumen und in das Zimmer der Frauen schaffen lassen.

Der tiefe Ton der Abendglocken zeigte jetzt an, daß das Ave Maria begonnen. Veronika trat in das Zimmer, die Frauen abzuholen, und verkündigte, der Vikar, wie sie ihren Bruder nannte, habe sich, ohne zu Hause anzusprechen, sogleich nach der Kirche begeben. »Und Ihr, Miß Eton,« frug sie sanft, »Ihr, als Engländerin, gehört wohl nicht unserer Kirche an, darum legt Euch keinen Zwang auf – Ihr habt das mit uns nicht nöthig.«

»Erlaubt, daß ich Euch begleite,« sagte Elmerice, mit Ehrfurcht ihr näher tretend, »ich bin in dem Glauben meines Vaters erzogen, der Katholik war.«

»Nun dann, willkommen!« sagte Veronika, sichtlich erfreut, »so wollen wir denn Gott gemeinschaftlich danken für Eure glückliche Reise.«

Durch den anmuthigen Garten, der mit dem Kirchhofe zusammen hing, gelangte man nach der kleinen, aber schön und reich gebauten Kapellenkirche, welche im Innern und Aeußern zeigte, daß Fürsten aus dem stolzen Hause Valois hier ihre Gebete verrichtet hatten. Die großen Thüren standen weit geöffnet, und es war ein unbeschreiblich erquickender und friedlicher Anblick, von dem Hochaltar aus, wo die Andächtigen sich knieend versammelten, in die grüne Nacht des Frühlings zu schauen, der eben, wie die Menschen, seine letzte Andacht vor den Strahlen der sinkenden Sonne zu feiern schien. Doch vor Allem zog[94] Elmerice der Anblick des Geistlichen an. Dieser ehrwürdige Greis, mit seiner milden, hellen Stirn und den klaren blauen Augen, die unter der Decke der weißen Brauen so tief leuchtend hervorblickten – welch' ein Bild geistlicher Reinheit, über die Erde hinausreichenden Friedens! – Elmerice blickte, sich ganz darin verlierend, in sein Angesicht, als forsche sie darin dem erhabenen Geheimnisse nach, die Welt liebevoll im Arm zu behalten und von ihr nicht mehr gekränkt, nicht mehr verletzt zu werden. – Sehnsucht nach diesem Zustande, Schmerz um den unvollendeten Kampf darnach, ließen sie endlich die Thränen finden, die uns nicht banger, sondern leichter machen.

Eben so anziehend blieb dieser Greis in seinem Hause, wo er bald nachher seine Gäste bewillkommte; ja, Elmerice hatte das wohlthuende Gefühl, daß sie das Interesse der beiden ehrwürdigen Geschwister auf sich zog, und konnte nicht ohne den innigsten Dank daran denken, in diesem Augenblicke, nach so viel widerstrebenden Gefühlen, die sie erlebt, in diese stille klösterliche Atmosphäre versetzt zu sein.

Mit der Bevorrechtung des Alters und des Standes forschte er Elmerice über Aeltern, Geburtsort, Erziehung und Grund ihrer Herreise aus; dabei lag aber offenbar ein näheres Interesse, als das der Neugierde, diesen Fragen zum Grunde, so daß Elmerice sich in nichts verletzt fühlte.


Madame St. Albans hatte eingewilligt, sich erst am andern Morgen ihrer Mutter zu nahen, da sie dann den alten Arzt des Schlosses, der jeden Morgen beim Vikar vorkam, sprechen, und durch ihn den Eintritt bei ihrer Mutter vorbereiten und erbitten lassen konnte. Elmerice sah erst jetzt, mit welcher Sorge und Angst der Gedanke an die Aufnahme dieser wunderlichen[95] Mutter Madame St. Albans erfüllte, und die Ueberzeugung, wie viel sie gewiß in diesem unnatürlichen Verhältnisse schon habe leiden müssen, erfüllte sie mit Mitleid und mit erhöhter Achtung gegen dies dennoch nicht einen Augenblick dadurch gehinderte Pflichtgefühl der Tochter.

Die Nachtruhe der noch immer angegriffenen und reizbaren Frau war daher auch ganz gestört, und Elmerice sah mit Sorge, wie blaß und leidend ihr Ansehen am andern Morgen war. Der erwartete alte Arzt erschien schon an der Thüre auf seinem bequemen Maulthiere, als man noch um das einfache Frühstück versammelt war.

Auf die Ankunft der Madame St. Albans vorbereitet, war er doch, gleich den Uebrigen, gar nicht über ihren Empfang sicher. »Ja,« sagte er, »ein Paar Tage früher, wo sie kein Bewußtsein mehr hatte, da hättet Ihr eintreten können, und sie pflegen, so viel Ihr gewollt hättet; jetzt aber, da wird sie sich, wie gewöhnlich, weigern – denn geändert hat sie sich nicht,« setzte er lachend hinzu – »halb mit Gewalt, oft daß wir beide uns im Zorn überbieten, setze ich das Nöthige durch – und doch, und doch, wollt Ihr es glauben, noch nie erreichte ich es, daß sie des Nachts Jemand bei sich behielt. Asta, das arme Ding, die bei Tage wohl einschlüpfen darf, muß ebenfalls zur Nacht sie verlassen, und halb besinnungslos, ja, weiß Gott, halb sterbend, verrammelt sie noch die Thüren hinter uns. So kann sie einmal des Nachts verscheiden, ohne daß wer darum weiß, und wenn wir oft des Morgens lange an die Thür hämmern müssen, um Einlaß zu erlangen, so denke ich, die Hand zum Oeffnen sei da drinnen nunmehr erstarrt. Doch ich will zu ihr, liebe Frau,« fuhr er fort, sich zu Madame St. Albans wendend, »und sehen, was ich thun kann, denn wahrlich, Pflege hat sie nöthig, und solch' Ding von zwölf Jahren, so gut die Asta ist, das hilft doch nicht viel.«[96]

Elmerice, die sich aus Bescheidenheit bei Ankunft des Arztes entfernt hatte, trat in dem Augenblicke ein, als der kleine lebhafte Mann sich entfernen wollte.

Es war unverkennbar, daß er bei ihrem Anblick erstaunte, überrascht stehen blieb und seine großen runden Augen mit einem so forschend-fragenden Blick auf der Eintretenden hafteten, daß Elmerice, davon verlegen werdend, nicht wußte, wo sie die ihrigen hinwenden sollte.

Veronika und ihr Bruder warfen sich Blicke des Einverständnisses zu, und der Vikar trat dem alten Arzte näher. – »Nicht wahr, verehrter Freund, auch Euch trifft bei dem Anblicke des Fräuleins eine Erinnerung, wie uns Beide?«

»Weiß Gott,« rief der Arzt, »so viel Aehnlichkeit sah ich noch nie! – gewiß, wir meinen dieselbe.«

»Wen denn? wen denn? Was meint Ihr denn?« – rief Madame St. Albans in ungeduldiger Neugierde, »mit wem hat Miß Eton Aehnlichkeit?«

»Lassen wir das,« erwiederte ernst der alte Arzt, »wozu die Todten wecken? – Vergebt, liebes junges Fräulein, das unhöfliche Erstaunen eines alten Mannes! Gott hat Euch mit hoher Schönheit gesegnet, und aus Euren Augen blickt etwas, was die Seele verbürgt, die in Euch wohnt – und so möge Euch denn Gott behüten, daß Euer Schicksal glücklicher sei, als das derjenigen, der Ihr gleich sehet, als ob Ihr ihre Tochter wäret – wenn Eure Jugend das nicht unmöglich machte.«

Es lag etwas so Feierliches, so ernst und tief Gerührtes in diesen Worten und in dem Ausdrucke des Greises, daß Elmerice, davon erschüttert, aufs Neue die Ahnung eines ihr näher rückenden Verhängnisses empfand; und blaß und melankolisch zu ihm aufblickend, sagte sie bang: »Ich werde meinem Schicksale nicht entgehen, es erwartet mich schon auf dem Wege, den ich so eben betreten.«[97]

Der Arzt hörte sie nicht mehr – sein Aufbruch ließ diese schweren Worte auch von den Andern überhören, und so war es Elmerice allein, die davon ergriffen ward, als habe nicht sie, sondern ein Anderer aus ihr hervor, die Bestimmung ihrer Zukunft ausgesprochen.

So schneiden oft Worte tief ein, die wir in seltenen Augenblicken des Lebens aussprechen, an uns selbst zum Propheten werdend und uns der Stellung entgegen treibend, die uns nah gerückt ist, wenn auch noch verhüllt. Das wohlthätige Geheimniß, worin die Zukunft verschleiert liegt, scheint dann von der ihr entgegen greifenden geistigen Kraft in uns für Momente aufgedeckt zu werden. Wir fühlen mit untrüglicher Wahrheit Menschen, Verhältnisse, Orte, die noch beziehungslos zu uns erscheinen, als einschreitend in die wichtigsten Verhältnisse unseres Lebens; und deckt der nächste Augenblick auch oft so helles Erkennen wieder zu, wir wissen doch in dem schwellenden Herzen, es sei ein neuer Lebensabschnitt gekommen, und ahnungsvolles Erwarten erfüllt unsere Seele. So sehen wir Elmerice. – Still nach ihrem kleinen Zimmer zurückgekehrt, finden wir sie in tiefem Nachdenken noch lange an dem freundlich umgrünten Fenster ruhen, das sie mit seinen im leichten Spiele der Luft nickenden Ranken festzuhalten, und ihr mit dem ruhigen Hintergrunde des kleinen, zellenartigen Zimmers Frieden und unschuldige Ruhe zu sichern scheint.

Ziemlich unsanft unterbrach Madame St. Albans dies sanfter werdende Nachdenken, indem sie heftig eintrat und sogleich, auf Elmerice unruhig blickend, ausrief: »Was das nur für eine Aehnlichkeit ist, von der sie Alle fabeln – ich wüßte nicht, mit wem – und warum sie so geheimnißvoll thun, da die Person todt sein muß! – Aber diese alten Leute, die haben immer so was gehabt, immer nur halbe Worte, und die noch in Frage gestellt, und dann noch besorgt, es werde verrathen[98] werden, was kein Mensch aus solchen Reden errathen könnte – ja wahrlich, alte Jungfern, alte Junggesellen bleiben immer dieselben, sie müssen immer wichtig thun und sich ein Ansehn geben, wohinter nichts ist!«

Elmerice war verlegen, ihr zu antworten; sie sah wohl, daß die Erzürnte mit ihren Nachforschungen abgewiesen worden war, und wußte sie doch nicht zu beruhigen. »Ihr kennt das ehrwürdige Geschwisterpaar wohl lange schon?« hob sie daher schüchtern an.

»Ja, ja, lange genug! seit ich hier überhaupt bekannt bin, kenne ich sie auch,« erwiederte Madame St. Albans, sich niedersetzend, aber noch immer in höchst mißmuthigem Tone. – »Es sind brave, gute Leute, das läugne ich nicht! sehr gute Leute, wohlthätig und fromm, wie es ihr Stand nur wünschen läßt, und traurig genug, daß meine arme Mutter auch sie nicht zu sehen begehrt; da hätte sie doch einen menschlichen Umgang – aber so – seht, das thut keinem Menschen gut, so für sich zu sein; ich habe das auch über Eure Gräfin gesagt, die wird auch mit der Zeit menschenfeindlich werden.«

»Dazu ist vorerst bei ihr noch wenig Anlage,« erwiederte Elmerice, »sie sucht das Geräusch der Welt nicht, aber sie ist Jedem zugänglich geblieben, dem Unglücklichen, wie dem Glücklichen.«

Mißmuthig schwieg Madame St. Albans, als plötzlich ein allerliebster Kinderkopf in das niedrige Fenster hineinsah und mit leiser Stimme frug: ob hier die fremden Damen wohnten?

»Bist Du Asta?« rief Madame St. Albans – »und kömmst Du vom Schlosse?«

»Ja, Madame,« sagte das schöne zwölfjährige Kind – »Ihr sollt Euch eilen, mir zu folgen – Mistreß Gray ist sehr krank.«[99]

»Ach, großer Gott,« schrie Madame St. Albans todtenbleich, »so stirbt sie doch wohl!«

»Seid doch nur ruhig!« rief Asta – »sie wird ja nicht gleich sterben – so habe ich sie schon oft gesehen.«

Doch Madame St. Albans war so erschüttert von der Nachricht, daß sie beim Aufstehen zu schwanken begann und Elmerice sie in ihren Armen unterstützen mußte.

»Ich werde Euch führen,« sagte Elmerice, nach ihrem Hute greifend, »und so weit mitgehen, als mir vergönnt sein wird.«

Schweigend genehmigte Madame St. Albans dieses Anerbieten, und beide gingen, von Asta geführt und von den Segenswünschen der guten Geschwister begleitet, den schweren Weg.

Von den großen Alleen, welche zu den verschiedenen Eingängen des Schlosses führten, leitete Asta ihre Begleiterinnen seitwärts in ein kleines wildes Gehölz, womit eine eben so grade und regelmäßig gepflanzte Allee verwachsen war. Der Fußsteig war hier schmal und uneben, kaum für zwei Personen gangbar, und erlaubte nur einige Schritte weit um sich zu sehen. – So standen sie plötzlich an einer verfallenen Treppe – Asta winkte Elmerice geheimnißvoll zu, und Madame St. Albans, die den Ort erkannte, machte seufzend ihren Arm von ihrer jungen Führerin los. – »Geht nun mit Gott zurück und betet für mich, Elmerice, mein liebes Kind! Wann ich Euch wiedersehe, weiß ich freilich nicht, Nachricht werdet Ihr wohl von mir hören.« – Tief gerührt nahm Elmerice nun Abschied und beschwor sie, ihr jede Möglichkeit anzugeben, wodurch sie ihr dienen und zur Pflege ihrer Gesundheit beitragen könne.

Aber kaum wußte Elmerice, ob die arme Frau ihre Rede verstanden habe; denn bleich und in trübes, tiefes Nachdenken versenkt, wandte sie sich ab und stieg an Astas Hand die Stufen hinan, die in eine Art Thoreingang führten und jetzt Beide den Blicken der besorgt Nachschauenden entzog.[100]

Längst waren sie verschwunden, kein Geräusch, keine Bewegung ließ die Ahnung aufkommen, daß hier menschliche Wesen existirten; aber Elmerice blieb wie gefesselt auf der Stelle stehen, als müsse sie ihnen nach, als könne sie nicht zurückbleiben. Das Gefühl, das sie seit gestern empfand, trat hier noch mächtiger hervor. – Wie zu einer nothwendigen Leistung trieb es sie dem geisterhaften Schlosse zu, und mit nie gekanntem Entsetzen, mit dem tiefsten, bangsten Schmerz schien es sie wieder zu verjagen. Sie blickte nach einem Ausweg, der sie in anderer Richtung führen könnte, sie wollte, sich selbst überlassen, einen Eindruck, der so mit seiner Unklarheit sie quälte, verstärken oder mildern durch einen ungestörten Anblick des Schlosses. Sie arbeitete sich durch das Gestrüpp bis zu den Stämmen der Bäume und befand sich bald auf einem freieren Standpunkte, von wo sie eine neue Ansicht des Schlosses gewann, von dem sie jetzt durch einen niedrigen Wall und ein dahinter laufendes Wasser getrennt war. Auf einer festungsartigen Uebermauerung zeigte sich hier die älteste Seite des Schlosses, die fast nur aus aneinandergereihten Thürmen in den verschiedensten Höhen und Dimensionen, mit sehr beschränkten Verbindungsmauern versehen, bestand. Der graue Schieferstein des Unterbaues, die spitzen, niederhängenden Thurmdächer mit gleicher Schieferdeckung, die schwärzlich überzogenen Mauern und Wände der erhaltenen oder schon eingesunkenen Räume gaben auch von hier aus nur eine Bestätigung des empfangenen Eindrucks, den sie sich nicht anders klar zu machen wußte, als indem sie sich eingestand, nicht einem Bauwerke gleiche dies wunderbare Schloß, sondern aneinander gedrängten Geistern, die in den abweichendsten Verkappungen sich verbunden hielten, hier ihre Herrschaft zu behaupten. – »Ihr widersprecht durch Euer Ansehen nicht den grauenvollen Berichten, die an Euren Namen haften und die Phantasie der Menschen mit Schauer erfüllen« – seufzte[101] Elmerice, »und wer weiß, was die Zukunft noch für mich in Euren Mauern birgt!« – Sie versuchte der Richtung, die der Wall und das schmale Wasser gaben, zu folgen, und es gelang ihr, so einen Theil des Schlosses zu umkreisen, das an der erwähnten Seite nur die Spitze, vielleicht das kleine Jagdschloß, welches zuerst hier erbaut ward, zeigte, und sich beim Weitergehen vor Elmerice in seiner späteren bedeutenderen Ausdehnung entwickelte – aber dieser spätere Theil, der schon unter Heinrich dem Zweiten entstand, war doch in seiner Architektur, wenn auch fürstliche Pracht beabsichtigend, düster und überladen, und der jetzt durch die Zeit entstandene Verfall desselben nicht minder schwermüthig und unheimlich. – Vor Allem aber bewegte sie der Anblick des düsteren Eingangthores; in drei Terrassen, welche durch Gräben von einander getrennt waren, worüber Brücken führten, stieg das Terrain bis zu dem größeren Hofe empor, der mit eisernen Gittern verschlossen war. Um diesen Hof schienen die Hauptzimmer des Schlosses zu liegen; aber wie düster mußte ihr Inneres sein, da hier das Grabmal des ersten Besitzers aus dem Hause Crecy, von hohen Ulmenbäumen umgeben, stand, welche ihrem eigenen Triebe überlassen, ihre weiten Zweige beschattend über den ganzen Raum verbreiteten.

Elmerice hatte wie eine Träumende die Terrassen erstiegen und stand gegen die Stäbe des Gitters gelehnt, und schaute in den Hof und fühlte nicht, daß ihre Kniee bebten, ihr Mund den kurzen, gepreßten Athem nur noch hervorseufzte. Sie starrte hinein, als müsse sie jetzt sehen oder erfahren, was ihr Aufschluß gäbe über das, was ihre Brust in gleichem Maaße hier anzog und zurückstieß. Aber es ward ihr kein Aufschluß – Todtenstille herrschte in dem schauerlichen Raume, und alle Zeichen der Verödung drängten sich ihr auf. Das Grabmal selbst schien eingesunken, und seine äußeren Trophäen durcheinander gefallen; zwischen dem weißen und schwarzen Marmorpflaster[102] des Hofes drängte sich der Rasen, die Freitreppen, die an den Zimmern emporstiegen, waren von der überall sich anbauenden Vegetation der Moose und Schlinggewächse überzogen, oder lagen mit zerbrochenen Stufen und Geländern halb verfallen auf dem Pflaster – und der vorrückende Abend sowohl, wie der Schatten der Bäume, verhinderte den Blick in die Gemächer, zu denen sie führten, und die wie weite Grabgewölbe dahinter lagen. Längst war Schloß und Riegel an dem Thore verwittert; sie sah, daß es nur von ihr abhing, in den Hof zu treten, aber die Scheu, die sich ihrer bemächtigt hielt, war stärker, als der Trieb der Neugierde oder romantischer Sehnsucht, der sie so weit geführt hatte.

Langsam, mit gepreßtem Herzen wandte sie sich ab und verfolgte den Fahrweg unten am Schlosse, der sie der Wohnung des Vikars entgegenführte.

Aber hier, wo kein Schrecken Raum oder Nahrung fand, verließ sie die krampfhafte Anspannung, unter der sie sich aufrecht erhalten hatte, und sie konnte den zärtlich besorgten Fragen der gütigen Geschwister nur durch Thränen antworten.

In großer Unruhe hatten die ehrwürdigen Alten ihr langes Ausbleiben bemerkt, da der Arzt bei seiner Rückkehr versicherte, die junge Dame nirgends gesehen zu haben. So klar und ruhig sie auch in ihrer Weise dem Leben gegenüberstanden, so ganz konnte wenigstens Veronika nicht siegen, um nicht an die schrecklichen Gerüchte über das Schloß von Ste. Roche eine allgemeine Befürchtung, ein unerklärtes Grauen zu knüpfen, das seine Nahrung fand in Thatsachen, welche in ihre Zeit fielen.

Elmerice ward nicht mit unbescheidenen Fragen belästigt, aber man nöthigte die ganz Erschöpfte, etwas Nahrung zu sich zu nehmen; und Veronika führte sie dann nach ihrem Zimmer und ruhte nicht eher, bis sie sich entkleidet und in erquickender[103] Ruhe hinter den weißen Vorhängen ihres kleinen Bettes niedergelegt hatte. Veronika nahm an dem offenen Fenster mit ihrem Andachtsbuche Platz, und Elmerice, die durch die Vorhänge die balsamische Frühlingsluft fühlte, wie sie, über die Blumen und Blüten des Gartens ziehend, in diese stille Zelle eindrang, genoß den ganzen Zauber der Ruhe, und lenkte ihre Gedanken nur noch auf das liebliche Gesumme der Bienen und den leise verhallenden Abendgesang der kleinen gefiederten Welt. Bald lag das Erlebte, so fremd der friedlichen Gegenwart, wie ein böser Traum hinter ihr – und als Ave Maria geläutet ward, fand sie sich vollkommen gerüstet, die gute Veronika nach der Kirche zu begleiten.

In der erquickenden Abendluft, zwischen den ruhig klaren Gestalten dieser kindlichen Menschen nahm sie später das einfache Abendbrod ein, und theilte ihnen dann den seltsamen Eindruck mit, von dem sie sich belastet fühlte, in ihrer längeren Erfahrung Auskunft suchend für dies räthselhafte Gefühl.

Vielleicht erwartete sie, Beide würden ihr Vertrauen mit der Mißbilligung aufnehmen, die alte Leute geneigt sind den ungewöhnlichen Gefühlen der Jugend entgegen zu setzen, und Elmerice, die sich sehnte, von dem Eindrucke, den sie erfahren hatte, erlöst zu werden, hoffte vielleicht auf eine Auskunft in der Erwiederung ihrer ehrwürdigen Wirthe; aber sie irrte sich. – Schweigend, nur mit einzelnen theilnehmenden Aeußerungen, hörten Veronika und der Vikar bis zu Ende – und dann bemächtigte sich die Erstere ihrer Hand, und ihre Augen standen voll Thränen, indessen der Vikar in seiner natürlichen Weise sie sanft zu trösten suchte.

»Ich muß es herzlich beklagen, daß Ihr so bald von dem Schrecken erreicht wurdet« – fuhr er liebreich fort – »den das alte Schloß fast in der ganzen Gegend verbreitet – obwohl ich Euch tadeln muß, so ohne Veranlassung Euch dahin begeben zu[104] haben, weil wohl manches Bedenken dabei sein möchte, da Alles ohne Aufsicht steht und leicht zur Wohnung von Menschen dienen kann, denen der Verruf des Ortes willkommen wäre. Viel Trauriges und wahrhaft Entsetzliches ist in diesen Mauern geschehen, und die Zimmer, denen Ihr am Gitter gegenüber standet, und die Ihr wahrscheinlich, von den Bäumen gedeckt, nicht sehen konntet, sind bezeichnet durch den schrecklichen Tod des letzten Grafen von Crecy, der hier sein Leben verlor, obwohl darüber ein Geheimniß ruhet, das nie ganz aufgedeckt ward, da der Prozeß, nachdem er über das Lebensglück vieler Menschen entschieden, unterdrückt und der verfolgte Thäter den Gerichten entzogen ward. Seitdem der unglückliche Prozeß hier die Richter zur Anschauung des Ortes, wo die That geschah, nothgedrungen zusammen führte, ist das Schloß geflohen worden, als ob Jeder dort sein Leben wage, und wenige Arbeiter sind zu bewegen, die von dem neuen Verwalter nöthig befundenen Ausbesserungen oder Reinigungen vorzunehmen.«

»Also wirklich,« rief Elmerice mit unbeschreiblicher Bewegung und todtenbleich – »wirklich, hier starb der letzte Graf von Crecy, und so ging der Todesruf des armer Marquis Spinola in Erfüllung?«

»Ich merke,« lächelte der Greis – »Ihr seid schon gut bekannt mit unsern schlimmen Sagen, und kann nun begreifen, wie Ihr so schnell trachtetet, Euch selbst zu unterrichten – nur erstaune ich, so viel Muth und Furchtlosigkeit in Euch zu entdecken.«

»Vielleicht nicht mehr, ehrwürdiger Herr, als ich selbst« – sprach Elmerice mit erröthenden Wangen – »aber ich möchte dies ein Zauberschloß nennen, wenn ich des Eindrucks gedenke, den es auf mich gemacht hat. – Ich fühle das tiefste Grauen davor, zugleich einen Schmerz, eine Wehmuth, wie um einen unglücklichen Menschen! ich möchte es nie gesehen haben, und werde davon angezogen, wie von magnetischer Gewalt!« –[105]

»O, o, mein armes Kind!« – rief hier fast erschrocken Veronika – »laßt uns beten! Eure Seele ist wohl nicht ganz bei Gott! – verzeiht,« setzte sie zärtlich hinzu, hinter Elmerice tretend und sie mütterlich besorgt anblickend – »wenn so eine irdische Qual uns ganz einnehmen will, dürfen wir immer fürchten, daß wir Gott nicht ernstlich genug suchten, und müssen uns durch treues Gebet und den Beistand betender Freunde bestreben, so harte Versuchung abzuwenden.«

»Ach, ja,« rief Elmerice sanft erweicht und drückte Veronika's zitternde welke Hand an ihre Lippen – »es ist viel eigner Wille in mir, und eine verlockende Sehnsucht nach dem Glücke dieser Erde; zu lebhaft fühle ich mich ergriffen von Schmerz und Kümmerniß, um immer recht fromm sein zu können – die rechte Demuth fehlt mir.«

»Nun, nun,« – sagte mild und begütigend Veronika – »warum solltet Ihr in so zarter Jungend auch schon dahin gekommen sein; wonach wir bis in unser höchstes Alter streben, aufrichtige Erkenntniß dessen, was uns gebricht vor Gott, läßt nicht zu, daß wir abwärts wandeln in leidiger Selbstzufriedenheit.« –

»Das Maaß,« sagte der Vikar, »ist in allen geistigen Dingen die wahre Demnth! Weder Ueber- noch Unterschätzung unseres Werthes. Freude haben an dem Fortschreiten des Guten in uns und es erkennen wollen an dem Zusammenhange mit Gott, das arbeitet dem Bösen besser entgegen, als eine Zerknirschung über unsere Fehler, die uns bange und verwirrt macht, und den Frieden der Seele stört, ohne den wir nie gottgefällig sein können. Wahre Demuth, gutes Kind, erträgt eben die Erkenntniß der mangelhaften Natur in sich, ohne in Unruhe und verderbliche Ungeduld zu gerathen – sie glaubt eben auf eine Seligkeit fehlerfreier Existenz gar nicht Anspruch machen zu können, und trägt die kranke Seele und hofft voll[106] Vertrauen auf den Arzt, der sie langsam ausheilen hilft. Unsere Schwachheiten zu vergrößern, daß wir uns davor entsetzen, ist auch eine gefährliche Richtung der Seele, weil sie uns das Gefühl von Unwürdigkeit giebt, was uns von Gott entfernt, indem wir in solcher Stimmung nicht zu ihm aufzusehen wagen, und das ist dann der gewisseste Rückschritt.«

»Ach,« rief Elmerice, »welche große Wahrheit geht so gelinde aus Eurem Munde! O, verschmäht es nicht, mir Eure Weisheit mitzutheilen, da Gott mich zu Euch geführt hat. – Ich will es nicht leugnen, mein Herz schlägt muthlos und bang, und ich bin zweifelhaft, ob mich meine eigenen Fehler quälen oder die Ahnung eines nahen größeren Unglücks.«

»Ich sah Euch bald diese Stimmung an,« erwiederte freundlich ernst der Vikar, »und wußte nicht, ob überstandene Leiden oder irgend ein fortnagendes Gefühl Euch diesen Stempel muthloser Traurigkeit aufgedrückt hatten. – Es wirkt wohl, denke ich, Beides in Euch!« fuhr er fort, da Elmerice ihren Kopf senkte und einzelne Thränen in ihren Schooß fielen, »und aus diesen gesteigerten Empfindungen entsteht eine willige und harte Selbstanklage, wie Ihr sie eben gegen Veronika aussprachet. Nicht Vorwürfe will ich Euch machen, denn meine lange Erfahrung hat mich gelehrt, daß die, welche geistige Hülfe geben sollen, sich sehr bedenken müssen, ein Gemüth zu zerknirschen. Der Tadel, den wir zu dem vorhandenen aufgeregten Zustande hinzufügen, kann das Entgegengesetzte bewirken. Ist das Gemüth sanft und zart, wird es in ihm die Furcht erregen, daß es sich nie wieder mit Gott versöhnen könne – und nicht oft genug kann ich wiederholten, dies für die gefährlichste Furcht zu halten, da sie in Wahrheit gottlos wird. – Ist aber das Gemüth stolz und hart, wird es wieder unsere Pflicht sein, ihm seine Fehler leicht zu machen, das heißt, sie ihm zu erklären, ihr Entstehen betrachtend mit ihm durchgehen, dasselbe nicht mit dem scharfen[107] Worte, wovor die ungewohnte Seele erschrecken würde, auf Gott zu verweisen, aber es zu leiten, daß es ihn selbst endlich entdecke, daß er aus ihm hervorträte, selbst geboren durch den freieren Zustand der Seele. Blinder Eifer verfehlt immer das Ziel – und wehe, wehe, wenn wir erst dem eitlen Verstande gelehrt haben, durch Streit und Widerstreit den schwachen Punkt des kranken Innern zu vertheidigen! – Lange bleibt ein so durch unsere Schuld gereiztes Wesen wohlgefällig verschanzt hinter diesem dürftigen Bollwerke seiner Eitelkeit und glaubt, der Feind, von dem es sich immer tiefer verwundet fühlt, komme von ganz anderer Seite her. Bitter und krankhaft, kleinlich und schwach hängen sich solche Geister oft an die äußere Gestaltung des Lebens, und sie verlieren zuletzt ganz die Krast der Seele, die nöthig wäre, ihr schwächliches Treiben zu durchschauen und das Unzureichende ihrer Schlüsse zu erkennen. – In dieser Ueberzeugung beruht auch meine Ansicht über die unglückliche Mistreß Gray, die durch ihre ganze Lebensweise so viel Furcht und Schrecken erregt. – Daß sie Herbes erlitten, ohne den Zusammenhang mit Gott finden zu können, da ihre Seele schwach und hochmüthig zugleich war, ist mir, der ich zu lange hier bin, um nicht Manches von ihrem Schicksale zu wissen, sehr klar geworden – daß sie eigentlich böse sei, wie mindestens ihr zuerkannt wird, widerlegt ihr Vertrauen zu Kindern, die Liebe derselben zu ihr, und daß ich die, die sie auswählte und um sich behielt, zu den besten Kindern, Mädchen und Frauen meines Kirchspiels rechnen muß, obwohl es mir schwer werden würde, dies anders zu erklären, als daß sie früher ernst wurden, ihr Nachdenken geschärft und erweckt ward, und sich bei ihnen eine Abneigung gegen alle Rohheiten vorwaltend zeigte. Dir, meine Tochter, rathe ich übrigens, das Schloß zu vermeiden, und hier in unserer stillen Klause – in der Gesellschaft meiner frommen Schwester Veronika Deinen Geist und Dein Herz zu beruhigen.«[108]

Voll Dank und Ehrfurcht trennte sich Elmerice von den würdigen Geschwistern, die sie freundlich segnend zur Nachtruhe entließen.

Elmerice hielt Wort und bekämpfte ihr unruhiges Treiben, sich der Stille hingebend, die sie aus dieser einfach ruhigen Häuslichkeit anwehte. Geräuschlos und ohne alle anscheinende Betriebsamkeit ging hier Alles einen so wohl überlegten regelmäßigen Gang, daß die Wirthschaft vergessen war durch ihre stille Ordnung, und ein viel höherer Endzweck des Beisammenseins unbefangen von selbst hervortrat. – Der Vikar war viel außer dem Hause beschäftigt, da er thätig und sorgsam, wie ein Vater, für alle seine Anbefohlenen sorgte; aber man sah ihm an, er kehrte gern dahin zurück, und hatte stets für die fromme Veronika alle Aufmerksamkeit einer auf hohe Achtung begründeten Liebe.

Sie sah dagegen zu ihm auf, wie ein Kind zu seinem Vater – ihre Liebe und Verehrung zu ihm war der Inbegriff ihrer ganzen Empfindung, und obwohl sie fest und ruhig ihren Standpunkt übersah, hatte doch ihre ganze Betriebsamkeit ihn, sein Wohl, seine Ansichten, seinen Willen zum Endzweck. – Dieser wohlthuenden Häuslichkeit wußte Elmerice leicht ihre Beschäftigungen anzupassen, die außer ihren Handarbeiten in der Führung eines regelmäßigen Tagebuches für ihre englischen Freunde bestand. Zwar waren diese Blätter an Maria Duncan gerichtet, aber Veranlassung dazu war der alte, sie zärtlich liebende Lord Duncan-Leitmorin, dem sie hatte angeloben müssen, hierin die Wahrheit nieder zu legen, damit er stets zu ihrem Schutz und ihrer Hülfe herbei eilen könnte, im Fall sich dies nöthig zeigen sollte.

Von Madame St. Albans bekam sie nur Nachrichten durch Asta oder den alten Arzt, die aber kurz und einsilbig Mistreß Gray als sterbend, Madame St. Albans als kränkelnd darstellten.[109] Elmerice hatte ihre ganze Ueberzeugung nöthig, weder einschreiten zu können, noch zu dürfen, um die Unruhe zu beherrschen, die sie bei dem Gedanken bewegte, die arme kränkelnde Frau ohne Unterstützung als Pflegerin einer Todtkranken zu wissen. Oft machte sie mit Veronika Pläne, wie sie ihr nützlich werden könnte, ohne die wunderliche Alte zu beunruhigen; aber trugen sie solch' einen Plan dem alten Arzte vor, wies er jeden ohne Weiteres zurück, immer mit denselben Worten! »Das geht nicht!«

Nach acht Tagen liefen Briefe von Herrn St. Albans ein, und Elmerice empfing eine Einlage von der Gräfin d'Aubaine. Mit mütterlicher Liebe bedauerte sie die lange Trennung und deren Veranlassung, und fügte dann hinzu: »Der Aufenthalt meiner lieben Gäste wird indessen durch ein unerwartetes Ereigniß verlängert. Meine liebe Lücile ging mit ihrem Gemahl erst nach einem andern Theile der neuen Besitzungen, und der junge Graf Leonce, der sie zu mir begleiten wollte, schlug es aus, ihnen dorthin zu folgen, Ardoise und die Nähe einer Garnison in Rocheville, wobei er Freunde zählt, vorziehend. – Als meine Nichte hier ankömmt, hört sie voll Erstaunen, daß ich Leonce noch nicht gesehen habe. Wir schicken nach Rocheville, und dort weiß ebenfalls Niemand etwas von ihm. – Höchst besorgt erwarten wir d'Anville, welcher Lücile vorangeschickt hatte. Dieser ist sogleich entschlossen, Nachforschungen in weiterer Ausdehnung anzustellen, als ihn am Abend desselben Tages noch der Diener des Grafen Leonce zu sprechen verlangt. Gleich darauf bittet mich d'Anville um meinen bequemsten Wagen und entdeckt mir, daß Leonce schon seit einigen Wochen an einem höchst gefährlichen Armbruche in dem Waldhause von Ardoise darnieder liege.«

Veronika hörte in dem Zimmer ihrer jungen Freundin einen lauten Schrei – so schnell sie vermochte, eilte sie es zu[110] erreichen, und sah hier zu ihrer schmerzlichen Ueberraschung Elmerice, von ihrem Fenstersitze herabgesunken, ohnmächtig am Boden liegen. Der offene Brief in ihrer Hand ließ auf eine empfangene Gemüthsbewegung schließen, und die ehrwürdige Veronika bemühte sich daher, ihren jungen Gast zu beleben, ohne ihren Zustand der weiteren Aufmerksamkeit preis zu geben. Auch bestätigte das erste Bewußtsein, was bei der Erschütterten eintrat, diese Voraussetzung, denn unter bangem Ringen der Hände brach sie in einen endlosen Thränenstrom aus. – »Fasse Dich, mein armes Kind!« sprach Veronika sanft, als sie dem trostlosen Blicke der Leidenden begegnete – »ich brauche Deinen Kummer nicht zu kennen; für allen, der vorhanden, paßt das Eine: daß wir Gott vertrauen müssen und unsere Seele still erhalten sollen vor allem zu heftigen Antheil an irdischer Noth.«

»Ich will mich fassen,« sagte Elmerice, »ich fühle, was Ihr sagen wollt. – Ach, theure, ehrwürdige Frau, wie wenig war ich auf so tiefes Weh vorbereitet, als mir jetzt geworden ist! o, vergebt dem schwachen Mädchen!«

»Mein süßes Kind!« rief Veronika zärtlich – »wie kannst Du mich so beschämen, was hätte ich Dir zu vergeben – Du Arme! die Du so schwere Leiden dulden mußt, wie ich vielleicht sie niemals kannte – und bist doch sanft und nachgiebig gegen meinen unvollkommenen Zuspruch! – Jetzt gehe ich aber lieber: Dir ist wohl besser mit Dir allein; nur falle mir nicht wieder – sondern ruhe Dich lieber auf Deinem Lager aus.«

Wie oftmals noch die Augen getrocknet wurden, ehe Elmerice die Schriftzüge ihrer ehrwürdigen Freundin wieder zu erkennen vermochte, wollen wir nicht belauschen – endlich las sie weiter: »Noch an demselben Abend brachte d'Anville den theuren Kranken hieher, und er giebt uns bei der sorgfältigsten Pflege jetzt die Hoffnung der Genesung. Du würdest diesem ausgezeichneten jungen Manne Dein Interesse nicht versagen,«[111] fuhr der Brief fort – »und obwohl ich mit Bedauern sehe, wie seine sonst glänzende Heiterkeit ganz von ihm gewichen ist, bleibt ihm doch eine Tiefe des Geistes und eine Fülle des Gemüths, wie ich sie selten vereinigt sah. Seinen Unfall kleidet er stets scherzhaft ein – er behauptet, er habe mich, wie ein irrender Ritter, mit der Flinte im Arm überfallen wollen, sei in die Felsen des Ardoiser Waldes gerathen, und von den Geistern gelockt, sei er in einen Abgrund gestürzt, wobei er sich den Arm gebrochen habe. D'Anville schüttelt jedes Mal den Kopf bei dieser Erzählung und wir Frauen haben daher aufgegeben, den Scherz zu verfolgen, den anfänglich Lücile mit ihrer unerschöpflichen guten Laune in allen Nüancen ausspann. Vielleicht erleben wir einen günstigen Einfluß durch ein schönes, junges Mädchen, meine Nichte, die Tochter meines Bruders, welche Lücile bei ihrem Besuche den Aeltern abgeschwätzt hat, um mir eine Freude zu machen und auf ihrer weiteren Reise sie mit sich zu führen, vielleicht Leonce eine Aussicht des Lebens zu eröffnen, die allerdings wohl die mildeste Kurart für ihn werden möchte.«

Da versiegten die Thränen, welche Elmerice so zahllos vergossen; sie war plötzlich still – sie dachte – ruhig.

Sehr überrascht waren die Bewohner des Pfarrhauses zu Ste. Roche, als der alte Arzt am Abend noch ein Mal an der Thüre still hielt und Asta zeigte, die weinend hinter ihm auf dem alten Maulthiere saß. – »Es steht nicht gut,« sagte er trübe, ohne abzusteigen – »Asta hat mich gerufen – Beide sollen sich verschlimmert haben.« –

»Mein Gott!« rief Elmerice erschrocken, »und ohne Pflege! Ich bitte Euch,« fuhr sie fort, sich dringend gegen den Arzt wendend, »nehmt mich mit, laßt mich zu der armen Madame St. Albans – sie kann nicht ohne Unterstützung bleiben!«

Der alte Mann lehnte dies Mal nicht so entschieden, wie früher, diese Bitten ab – er heftete nachdenkend seine Augen[112] auf Elmerice und schien besorgt alle Umstände zu prüfen. »Es ist ein böses Ding damit,« hob er dann an – »ich sehe wohl ein, daß Ihr Recht habt, daß Hülfe nöthig ist, aber wie Ihr es anstellen wollt, sie zu leisten, das sehe ich nicht ein – doch ich will hin« – unterbrach er sich – »und ist die Noth groß, so komme ich und hole Euch!« Damit trabte er sogleich auf seinem ruhigen Paßgänger den Baumgang entlang.

Veronika schmiegte sich mit dem wehmüthigsten Gesichte an ihren jungen Gast, und theilte ihr zögernd und fast beschämt ihre Furcht mit für das, was ihr vielleicht bevorstehe: »Gott wird Dir zwar gewiß die Kraft geben, die Du nöthig hast; aber, mein Kind, es sind viele Geheimnisse in der Natur – Gott muß Deinen Geist vor Schrecken bewahren, und Dein frommes Gebet Dir beistehen – dazu gebe er Dir seinen Segen!« fuhr sie fort, die Hände andächtig faltend und in frommer Andacht verstummend.

Ein Gewitter zog herauf. Schwer und mit der schwülen Stille, die sich in die Pulse der Menschen einschleicht, schien die ganze Natur unter dem gewaltigen Drucke der Atmosphäre zu seufzen. Angstvoll die Luft durchschneidend, suchten nur noch einzelne Vögel in der niedrigsten Luftschicht bei den Ahnungen einer nahenden Gefahr in irgend einer Baumhöhlung oder in den Spalten eines Mauerwerks sich zu bergen. Das frische Grün des Laubes, der mannigfache Farbenglanz der ganzen Vegetation, die Gesichter der Menschen selbst, erbleichten in dem fahlen Lichte des schwefelfarbig bedeckten Himmels.

Man hoffte auf den Augenblick, der in seiner heftigen Entwickelung einen leichteren Stand der Dinge herstellen sollte, und zitterte doch für eine nie verbürgte gewaltige Naturerscheinung.

Beide Frauen fühlten doppelt das Drückende dieses Zustandes, da in ihrem Innern sich eine Erwartung von Dingen[113] hinzugesellte, deren Ausgang bei ihren düsteren Anzeichen nicht minder unverbürgt war.

»Wäre nur der Vikar zurück,« sagte leise Veronika, »er würde uns sicher das Rechte rathen, und sein Zuspruch würde Euch stärken und aufrichten!«

»Fürchtet nicht für mich,« erwiederte Elmerice – »bekomme ich die Aufforderung dahin, so gehe ich getrost – so schwach Ihr mich gesehen – es kömmt mir der Muth, wo es gilt – ich erprobte es schon einige Mal.«

»Ach!« rief Veronika zusammenschreckend, denn eben erhob sich in einzelnen Stößen der Sturm, und wehte zugleich die feuerfarbenen Bänder von dem schwarzen Mützchen, das Asta zu tragen pflegte, in die noch geöffnete Hausthür.

Sogleich stand Elmerice auf – das Kind flog ihr mit einem neuen Sturmstoß in die Arme. »Soll ich kommen?« rief Elmerice und bezwang das leise Beben, das sie mit dem Gefühle einer großen wichtigen Begebenheit erfaßte, welche ihr nahe trat.

»Ja, Madame,« stammelte Asta – »Ihr sollt! Aber wie werdet Ihr durch das Unwetter kommen? Ach, es ist fürchterlich da draußen!«

»Gott wird es uns zeigen, Asta,« sagte Elmerice ruhig; »ich hole meinen Mantel und auch für Dich ein Regentuch – dann laß uns ungesäumt gehen.« –

Sie kam gerüstet zurück, und sah jetzt mit Rührung und Dank die tiefe Bewegung, worin Veronika durch den Gedanken versetzt war, ihren jungen Gast zu entlassen. Elmerice kniete zärtlich vor der ehrwürdigen blassen Gestalt nieder, die sich nicht zu erheben vermocht hatte, und bat sie um ihren Segen.

»Ja,« rief Veronika, »den Segen des Himmels will ich auf Dich herab flehen, und mein Gebet soll Stunde für Stunde Dich begleiten. Dich weiter zu schützen, Dir zu helfen, vermag ich nicht, aber Gott wird Dich nicht verlassen!«[114]

»So wird es sein!« sprach Elmerice – »und in diesem Glauben gehe ich getrost von hier.«

Ein frommer Muth gehörte dazu, um dem bangen Berufe unter diesen Umständen entgegen zu gehen. Der Sturm hatte sich mit Alles überwältigender Heftigkeit entwickelt, sein wildes Geheul durchschnitt die hohen Baumgänge und beugte die Gipfel der uralten Bäume, und schleuderte von ihnen nieder, was nicht mehr in voller Kraft Widerstand zu leisten vermochte. Die schweren schwarzen Wolken senkten sich, frühe Nacht verbreitend, und nur der fahle Glanz der unablässig zuckenden Blitze erhellte den Weg, auf dem ein schwaches Kind und die zarte Jungfrau muthig fort schritten. Zuweilen blieben sie an einander geschmiegt stehen, und kämpften so einen Augenblick mit besserem Glücke gegen das Ungestüm des Wetters, dann strebten sie wieder vorwärts, wenn auch in jedem Nerv erschüttert von den Donnerschlägen, die den Boden unter ihren Füßen beben ließen und in dem schreienden Tumulte der ganzen Natur sich die Obergewalt anmaßten. Durch kein Wort, keinen Seufzer konnten sie sich einander mittheilen, und doch fühlten Beide den Trost eines verwandten Lebens, in diesem nur wild für sich streitenden Naturaufruhre.

Elmerice hatte Asta mit in ihren Mantel gezogen und trug das weinende Kind fast in ihren Armen; nur als sie sich dem abwärts führenden Wege nahten, ließ sie sie aus ihrem Verstecke hervor, und hier, in dem schmalen Wege zwischen dem hohen dichten Gebüsche, wo der Sturm nicht so einzudringen vermochte, sammelten Beide wieder etwas Kraft.

Jetzt standen sie vor der kleinen, halb verfallenen Treppe, die von außen gegen einen runden Thurm anlief, der diesen Flügel zu schließen schien. Das Gesträuch hatte sie fast unzugänglich gemacht, und mit der größten Ueppigkeit wölbten sich Zweige und Ranken um das breite Vordach, und zeigten nur wenig von der schwerfälligen Stuckatur, womit es verziert war.[115]

Wenig zu Beobachtungen geneigt, folgte Miß Eton ihrer voranfliegenden Führerin in den kleinen Raum, in den der Untertheil des Thurmes eingetheilt war, und der nur wenige Stufen zeigte, die gegen eine große, breite eichene Thür anliefen. Asta blieb hier horchend stehen, und als sich kein menschlicher Laut vernehmen ließ, wagte sie leise zu klopfen. Es blieb lange unbemerkt, und erst nach dem erneuerten Klopfen der furchtsamen Asta that sich auf einen Moment die Thür auf. – Es war der alte Arzt, aber nachdem er sich von ihrer Gegenwart überzeugt hatte, machte er blos ein Zeichen, daß sie warten müßten, und schloß dann eilig wieder die Thür.


An dem Abend desselben Tages wurde der Theil des Schlosses Ste. Roche, der seit längerer Zeit durch die Sorgfalt des Verwalters allmählig wieder hergestellt worden war, durch mehrere sich darin versammelnde Herren und Damen belebt, die, ihre schwerfälligen Reisewagen verlassend, nun in der muntersten Laune und unter den anmuthigsten Neckereien die so lang verlassenen Räume durchzogen, und von einem Trosse geschäftiger Diener und Dienerinnen gefolgt, eine Eintheilung der Zimmer versuchten, stets gehindert durch absichtliche oder zufällige Mißverständnisse, welche nur die gute Laune der Betheiligten zu vermehren schien.

Am meisten zeichnete sich eine schöne junge Frau durch ihre erfinderische Laune, Alles durch einander zu wirren, und durch vorgegebene Schrecknisse und Andeutungen von Gespensterfurcht Alles in Bewegung zu erhalten, vor den Uebrigen aus. Wir finden in ihr die junge Marquise d'Anville, welche, gar anmuthig in seidene Reisekaputzen gehüllt, die Aufmerksamkeit ihres jungen Gemahls zu fesseln weiß, der sie bald aus einem[116] Winkelchen, wohin sie sich aus Furcht vorgiebt, verborgen zu haben, hervorholen, bald ihr im Fluge nacheilen muß, weil sie sich verfolgt hält von den Gobelingestalten der Wände, oder den geharnischten Thürstehern, welche, in Nischen gestellt, mit Lanze oder Schwerdt die Eingänge zu bewachen scheinen, und, eine große Zierde früherer Zeit, eben so an ihrem Platze blieben, wie die übrigen Möbel des vergangenen Jahrhunderts.

»O, Margot,« ruft sie ihrer jungen Cousine, der Gräfin d'Aubaine, zu – »glaubst Du, daß Tante Franciska Dir Erlaubniß gegeben hätte, uns hieher zu begleiten, wenn sie einen Blick in diesen feierlichen Paradesarg gethan hätte?«

»Ja,« rief die sechzehnjährige Margot, »bereite Dich vor, Lücile, hier alle gewohnten Sitten und Gebräuche hinter Dir zu lassen; denn sieh Dich um, auf welche Weise für unsere Geselligkeit gesorgt ist – an den Wänden herum laufen schwerfällige Bänke, oder eigentlich polirte Holzkisten – o Gott, sei mir gnädig! die Sitze sind Deckel, die sich emporheben lassen.«

»Weiß Gott,« rief die Marquise, »unsere Vorfahren waren bequeme Leute, sie saßen auf ihren Wäsch-und Kleiderkoffern, und hatten so Geld und Kleinodien, Silber- und Tafelgeräth im sichersten Verwahrsam.«

»Und diese Lehnen!« – lachte Margot – »wer gewagt hätte, sich an diesen geschnittenen Ungeheuern zu stützen, hätte sogleich mit blauen Flecken büssen müssen.«

»Hier, Leonce,« rief die junge Marquise, »soll Ihr Gesellschaftszimmer sein; dies ist für Ihre angenehme Laune wie geschaffen. – Jeder von uns nimmt natürlich dem Andern gegenüber, wie Sie es lieben, fein und sittlich Platz, Sie auf jener Wand, ich hier, Margot links, Armand rechts – da liegen zwischen Jedem einige vierzig Fuß, und wir werden uns, ohne Nachtheil für unsere Gehörsnerven, überzeugt halten – Leonce habe uns aufs Anmuthigste unterhalten.«[117]

»Scherzen Sie nur, liebe Lücile,« entgegnete Leonce, »Sie werden hier an Ihrem Zöglinge Wunder erleben – mir sagt diese uralte Ausstattung gerade vollkommen zu, und ich fühle mich, seit wir hier sind, in vollständig guter Lanne! Ich habe Ihnen immer gesagt, daß ich um ein Jahrhundert zu spät gekommen bin, jetzt wäre ich also an der rechten Stelle.«

»Aber wir, mein Herr,« rief Margot – »wir gehören vollständig zu der bordirten, gepufften, bequasteten Perückenzeit von weiland Louis le Grand, und immer also bleiben wir um ein Jahrhundert auseinander, und während Ihr Eure Jugend feiert, wandeln wir vor Euren klugen Augen, wie die Ahnungen der Zukunft, und Ihr werdet fliehen vor unsern Erscheinungen, um nicht zu früh alt zu werden.«

»Du hast Recht,« sagte Lücile, »es ist eine neue Kriegslist von Leonce, sich uns zu entziehen, aber sie soll ihm zu nichts helfen. Morgen am Tage lasse ich meine Koffer öffnen, und vor diesem alten Bilde soll Susanne meine Roben und Ballkleider verschneiden, um uns in Costüme zu setzen, dieser Mauern würdig, und unserm langweiligen Vetter Leonce zum Trotze.«

»Sie werden in jeder Gestalt reizend sein, meine Damen,« sagte Leonce lächelnd; »aber gestehen Sie, dies Gemälde ist kein übles Vorbild zu Ihren Toiletten-Vorsätzen, denn es ist in Wahrheit eine Schönheit, zu der Lücile die blonden Locken, Margot die dunkeln Augen geschenkt zu haben scheint.« –

»Sie haben Recht, Leonce, das Bild ist schön! Ich bin eine große Kennerin, müssen Sie gestehen, auf den ersten Blick traf ich das schönste von allen, denn die übrigen gehörten wohl nicht zu den Favoritinnen des Malers.« –

Der Marquis d'Anville war aus dem Nebenzimmer zu ihnen getreten; er hielt sie hier zurück, um, wie sie hofften, im Nebenzimmer einige ansprechende Anordnungen zu machen.[118]

»Dies ist das sogenannte Hofdamen-Zimmer,« erklärte er nun, »und dies die Portraits der damals berühmtesten Damen. – Katharina von Medicis versammelte stets die schönsten Fräuleins um sich, und diese steifen Bänke, die an den Wänden herumlaufend, Eure Laune zu reizen, mögen oft mit gar schöner Staffage belebt gewesen sein.«

»Wir wollen uns ergeben, Margot! d'Anville tritt auf Leonces Seite« – sagte Lücile, »der Geist ihrer Ahnherren erfaßt mit respektuösen Wallungen ihre Brust, sie wünschen die hier verbliebenen Schatten derselben in guter Laune zu erhalten; wir wollen daher auch unsererseits dem frivolen Hofstaate dieser Mediceer-Königin unsere Honneurs machen.«

»Und wenn wir die Laune der Geister gütig und friedlich zu stimmen trachteten,« lachte d'Anville – »wem zu Liebe denn, als unsern holden Gefährtinnen, die zwar zu necken und zu reizen verstehen, aber vor einem wirklichen Kampfe mit den Geistern bald die Flucht ergreifen würden. – Doch, wenn ich nicht irre, glänzt dort ein Name unter dem schönen Bilde.«

Alle traten näher – ein alter Wandleuchter, mit dicken gelben Wachskerzen, warf ein helles, schönes Licht auf die Tafel, und der Eindruck, den das Bild ihnen jetzt machte, ließ unwillkürlich den Scherz verstummen. – Jugend und Schönheit war es nicht allein, was diese Züge anziehend machte, sondern daß die Augen Jeden leidenvoll flehend anblickten, daß die Hände gefaltet wie gefesselt in dem Schooß lagen, und auf der silbernen Robe kein Abzeichen war, als ein Band von Rubinen, das den Hals fest umschloß und dann in einzeln gefaßten Steinen lang über die Brust hernieder, in den Schooß hing.

»Ach,« rief Lücile ernsthaft, indem sie ein Schauer überlief, »dies schöne Wesen war sicher nicht glücklich, sieht ihr Geschmeide doch aus wie einzeln fallende Blutstropfen!«[119]

»Du hast Recht,« sagte d'Anville, von dem Gemälde zurücktretend, wo er die Unterschrift gelesen, »es ist Eudoxia, das schöne Fräulein von Nemours, welche, wie man sagt, durch Katharina von Medicis hier ein blutiges Ende fand, indem sie zu sehr von ihrem Gemahle beachtet ward.«

Die Damen wandten sich still von dem schönen traurigen Bilde ab, und vielleicht gingen gerade jetzt die Worte des Marquis in Erfüllung – die Neckereien ihres jugendlichen Muthwillens wurden von dem ersten wirklichen Gegenstande des Grauens in die Flucht geschlagen.

Indem öffneten die Diener die schweren eichenen Thüren zum Nebenzimmer, und als Alle sich dahin wandten, drang ihnen ein solches Lichtmeer, ein so glänzend heiterer Anblick entgegen, daß Alle die liebenswürdige wohl erreichte Absicht des Marquis fühlten, daß Dankbarkeit und der Wunsch, sie ihm darzulegen, sich dem angenehmen Eindrucke, der sie empfing, hinzugesellte, und die heiterste Laune verbreitete, die von der halbgerührten Zärtlichkeit der jungen Marquise unvermerkt eine andere Färbung erhielt, denn sie war jetzt zu glücklich, um ein neckisches Kind bleiben zu können, und so trat die Feinheit ihres Geistes wie eine höhere Blüte aus dem grünen Blätterkranze ihrer früheren Laune hervor.

Dies Gemach hieß das Audienzzimmer, und die Wände waren in Streifen von rothem Damast, mit Stahlspiegeln unterbrochen, eingetheilt, welche, so viel als möglich polirt, von den reichlich angebrachten Armleuchtern erhellt, ein ungemein heiteres Ansehn hatten. Die Decke hing freilich mit schwerer geschwärzter Vergoldung und einem riesigen Deckengemälde, die Hochzeit zu Canaan darstellend, wie eine dunkle Wolke darüber; aber man brauchte eine Anstrengung, den Blick dahin zu erheben, und so weilte man lieber auf der heiter geschmückten Tafel, die, mit großen seidenen Fauteuils umstellt und mit dem glänzenden[120] Reisegeschirr des Marquis versehen, ein gar heiteres Bild des Lebens darbot.

Daran grenzten die Schlafzimmer der Damen, und nahe und bequem, zum Schutze leicht erreichbar, die Zimmer der Cavaliers und der Dienerschaft.

Alles war von der Umsicht des Marquis in kurzer Zeit in eine Ordnung gebracht, die dem Orte seinen düstern Karakter zu rauben schien, und nach der heiteren Abendmahlzeit den jugendlichen Schlaf durch keine bösen Träume mehr verscheuchte. –

Doch mit dem erwachenden Morgen, mit der heiteren Scene des Frühstücks kehrte auch die Laune der Frauen in ihrer neckenden Fröhlichkeit zurück, und Leonce hatte alle Mühe, sich Gehör zu verschaffen, weil gerade er die Zielscheibe ihres Muthwillens blieb. »Sie werden selbst von Ihrem Muthwillen mehr Vergnügen haben,« fuhr er fort, »wenn sie eine Art von Ordnung hineinbringen; denn es ist außer Zweifel, daß selbst eine so reizende Erscheinung, wie Ihre Laune, doch, wie alles Schöne, dem Geheimnisse des Maaßes unterworfen ist. Es ist vergeblich, in dieser elektrischen Wechselwirkung von Witz und Scherz eigentlich leben zu wollen – das sind geistige Schwelgereien, meine Damen – sie rächen sich stets durch Ermüdung und eine gewisse Apathie gegen die einfacheren Beziehungen, die Anforderungen an uns machen.«

Beide Frauen hatten während dem ihre Stühle vor Leonce gerückt und Stellungen angenommen, welche ohne Worte die ironische Versicherung enthielten, sie wären andächtige Zuhörerinnen, der Belehrung begierig, beschämt so großer Weisheit gegenüber.

»Ich verstehe Sie sehr wohl,« fuhr Leonce fort, »Ihre Pantomime ist eben so ironisch, als gelegentlich ihre Worte; aber ich will mich nun einmal durch nichts von meinem guten Vorsatze, Sie zu einer mäßigern Liebenswürdigkeit zu treiben, abbringen[121] lassen, daher möge Ihr Spott mich noch so lange verfolgen, bis er in meiner Weisheit untergeht.«

»Versuchen Sie das, Leonce!« rief Lücile – »wir lieben selbst die unleidlichste Veränderung an uns, wenn sie nur eben Wechsel verspricht; und selbst Weisheit sollte Herberge in uns finden, wenn wir nicht fürchten müßten, wir würden sie nicht wieder los, und würden zuletzt das Opfer dieses unpassenden Gastes.«

»Fürchten Sie nichts, liebe Lücile,« erwiederte Leonce – »dieser Gast wird Sie mit seiner Gesellschaft nicht über Ihr eigenes Verlangen hinaus belästigen; ja, ich zweifle, daß er sich Ihrer Einladung bei dem ersten Versuche stellt.«

»O, Sieur Léonce,« rief Margot, »wenn Sie uns die Einladungskarten schreiben, habe ich bei Ihrer Intimität alle Hoffnung zu seiner Erscheinung.«

»Trauen Sie namentlich mir hierin nicht zu viel, schöne Cousine! Er macht an mich immer zuerst den unerhörten Anspruch, Ihre schönen Augen zu vergessen, und so sind wir meist auf gespanntem Fuße.«

»Ha, Lücile, so leere Galanterien schreien zum Himmel!« rief Margot, mit dem kleinen Fuße so heftig auf den Boden stampfend, daß ihr Gesicht in Feuer aufglühte. »Sein Sie wenigstens mit allen Ihren Fehlern nicht auch falsch, und erwarten Sie wenigstens von mir nicht, daß ich diesem gehässigsten Laster ein freundliches Lächeln schenken soll – ich fürchte, ich hasse Sie!«

D'Anville und Lücile begegneten sich bei dieser kleinen Scene mit einem flüchtigen Blicke des Einverständnisses; denn Lücile beobachtete mit ihren klugen Augen ihre kleine lebhafte Cousine unter dem Deckmantel ihrer heiteren Laune in allen Nuancen ihres lebhaften Gefühls, und der ungemeine Wechsel derselben, diese unverkennbare Zuneigung zu Leonce, dies Vertrauen,[122] und doch wieder dies Zürnen, Flüchten und Zurückstoßen, schienen auf eine tiefe und ungewöhnliche Erregung schließen zu lassen, der beide Ehegatten mit Hoffnungen für das Glück ihres lieben Leonce zusahen.

Dieser sah ihr lächelnd und mit großer Sicherheit nach, als sie an das nächste Fenster flog, als müsse sie sich seinen Blicken entziehen; dann bat er sie zurück zu kommen, und als sie sich niedergesetzt hatte, hob er an, mit einem fast kühnen Blicke sich zu ihr neigend, sie mit ihrem Zorne zu necken. »Und« – fuhr er fort, »läugnen Sie es, wenn Sie können, schöne Margot, Sie haben doch zu mir das festeste Vertrauen, und alle Ihre kleinen, anmuthigen, heimlichen Plänchen sind endlich doch darauf gebaut, daß Sie Leonce vertrauen können, und seine Gefühle für Sie Ihnen weder unbequem, noch lästig, viel weniger als eine unverzeihliche Falschheit erscheinen.«

Eben wollte Margot diesen neuen Angriff bezahlen, da gebot Lücile Ruhe und verwies alle Parteien zum Schweigen.

»In Wahrheit, eine Pension für unartige junge Leute soll dies alte ehrwürdige Château de la Roche nicht werden« sagte sie – »Ruhe! Frieden gebiete ich, und jetzt, Leonce, werden Sie gleich mit Ihren weisen Plänen hervortreten, auf welche Art Sie unsere Liebenswürdigkeit einfangen wollen, um sie nur gelegentlich und nach einem gewissen schicklichen Kommando hervor sprudeln zu lassen, denn wenn wir uns nicht selbst unterhalten sollen, so thun Sie es jetzt, und sein Sie sicher, daß Ihre Vorschläge eine scharfe Kritik passiren werden.«

»Meine Pläne,« hob Leonce an, »bestehen in dem natürlichen Vorschlage, auf dem Boden, wo wir uns befinden, bekannt zu werden; wir müssen uns stundenweis versammeln die Chronik des Schlosses, die sich in dem Archive befindet, studiren, von ihr geleitet, den ganzen merkwürdigen alten Bau besichtigen, und die hellen Stunden des Tages zu Ausflügen in die[123] großartige Einsamkeit dieser Felsen und Wälder benutzen, die alle ihren Karakter von den geheimnißvollen Ansprüchen dieses Schlosses empfangen haben, mit in den Bann eingeschlossen scheinen, der hier dem Treiben der Menschen eine unüberwindliche Schranke gebaut hat.«

»Ihr Plan läßt sich hören, Leonce!« erwiederte Lücile – »ich glaube, Margot, wir werden einwilligen, uns diesem unserm Führer zu überlassen – doch füge ich noch einen Plan hinzu, der vor Ihrer Chronik den Vorzug haben muß, und meinen lieben d'Anville an sein Versprechen erinnert, mir das Schicksal seines Oheims, des Grafen von Crecy, das mit diesem Schlosse so vielfach verzweigt scheint, nunmehr mitzutheilen.«

»Ich bin bereit dazu, meine Liebe,« erwiederte d'Anville, »doch unter der Bedingung, daß Ihr mich jeden Tag bis zum Mittagsessen zu Pferde oder zu Wagen auf meinen Geschäftswegen begleiten wollt, und dann verspreche ich Euch, den Abend meinen Vortrag hier zu beginnen.«

Alle stimmten heiter in diesen Vorschlag ein. Nach einem fröhlich verlebten Tage führte der Abend Alle um die gastliche Flamme des Kamins, und als man in traulicher Nähe Platz genommen hatte, hob der Marquis d'Anville seine Erzählung an. –

Wir können uns jedoch um so weniger mit einer Mittheilung begnügen, wie der Marquis d'Anville sie für seine junge Gemahlin passend finden wird, da wir die Geschichte des Grafen Crecy als den Kern dessen ansehen müssen, was wir bisher mitzutheilen versucht haben, und es dahin gestellt sein lassen, ob man diese eingeschlossene Erzählung als den Hauptinhalt unserer Mittheilungen ansehen will, oder die Verhältnisse, mit denen wir bis hierher unsere Leser vertraut machten, und deren Verfolg wir nach dem Schlusse jener Begebenheiten weiter mittheilen werden.[124]

Ihr Zusammenhang, ihre theilweise Ausgleichung durch einander, wird ihre nothwendigen, gleichen Rechte an die Aufmerksamkeit darthun; und wie wir die Form der Frucht aus der Gestaltung des Kerns uns leichter erklären können, so werden wir, das Gleichniß hier anwendend, in dem Leben des Grafen von Crecy die Gestaltung der späteren Begebenheiten vorbereitet finden, und nicht allein ihnen leichter, sondern auch vielleicht mit vermehrtem Interesse folgen können.

Indem wir so der eingelegten Erzählung ein gleiches Recht mit derjenigen zu verschaffen suchen, die, Anfang und Ende dieses Buches bildend, jene zu umschließen scheint, bedienen wir uns des uns unbezweifelt zustehenden Rechtes, sie in der Form vorzutragen, die sie aus dem blassen Lichte der Vergangenheit hervortreten läßt, und sie nicht wie gehäufte Resultate, an deren langsamer Entstehung die Zeit schon die Spuren verwischt hat, darstellt, sondern mit der Frische versehen, die uns keine der kleinen Verzweigungen entzieht, welche langsam, aber dem Beobachter gerade so bedeutungsvoll, die größeren Resultate herbeiführt.


Der Graf von Crecy, Bruder der Marquise d'Anville, der Mutter des jungen Mannes, der aus dem Munde dieses seines Oheims die Begebenheiten erfuhr, die er eben seiner jungen Gemahlin mittheilen wollte, war der Sohn des Marschalls von Frankreich, Grafen von Crecy-Chabanne, eine der ältesten Familien des Reiches, die sich die Vettern des Königs nannten.

Grau geworden in den unseligen Kriegen der Fronde, hatte dieser unter dem Banner des großen Turenne unverrückt der königlichen Partei angehört, wenn auch frühere, zärtlichere[125] Jugendbande ihn mit Condé vereinigten, dessen Abfall ihn auf das Tiefste erschütterte, ohne ihn über seinen Weg in Zweifel zu stellen.

Seit dem pyrenäischen Frieden lebte der Marschall von Crecy jedoch, mit allen Ehren eines glorreichen Lebens überschüttet, von der thätigen Mitwirkung der Kriegsleistungen zurück gezogen, die wenigstens aufgehört hatten, Frankreich selbst zum Heerde ihrer Verwüstungen zu machen.

Von jeder anderen Bildung und Richtung, als der der Waffen, entfernt geblieben, liebte er dennoch seinen Beruf nicht, und bei dem Emporblühen seines einzigen Sohnes trat diese Abneigung in dem bestimmten Willen hervor, ihn nicht dafür erziehen zu wollen.

Seine Gemahlin, eine Fürstin Soubise, trat mit ihrem schrankenlosen Stolze diesem Vorsatze heftig entgegen, da sie darin das besondere Privilegium sah, Abkömmlinge alter Familien zu den bedeutendsten Stellungen im Staate zu erheben, und sie in ihrem Sohne mindestens den Nachfolger ihres Gemahls zu sehen trachtete.

Dessenungeachtet siegte dies Mal der Marschall von Crecy; und es ist dies Faktum um so weniger verloren gegangen, da es wahrscheinlich bleibt, daß der Feldherr, vor dessen Fahnen die Feinde flohen, als habe er ihnen damit einen unüberwindlichen Sturmwind entgegen geweht, doch in seinem Hause nur dies eine Mal den Sieg davon trug, und er hier neben den Trophäen aller Schlachten ohne Widerstand die Waffen senkte, wenn die Fürstin Soubise den Heerbann ihres weiblichen Willens aufpflanzte.

Mit dieser erfolgreichen Weigerung hatte er jedoch Alles erschöpft, was er sich zugestand, und obgleich er mißmuthig und murrend auf die Wege blickte, die seine Gemahlin nun in anderer Richtung zur Erziehung ihres Sohnes einschlug, so hielt er sich[126] doch abgefunden mit seiner Pflicht als Vater, da er überdies, nachdem er die eine verweigert, weder eine andere, noch bessere anzugeben vermochte.

Die Fürstin Soubise blieb auch nach dieser einen Niederlage vollständig gerüstet gegen jede fernere Einmischung ihres Gemahls; und je unerwarteter ihr in einer für unanrührbar geachteten Souverainität dieser Widerstand gekommen war, je mehr hatte sich ihr Gefühl auf diesen Punkt geschärft, und die schwächsten Versuche des Grafen von Crecy waren hinreichend, ihn zu überzeugen, daß er von nun an eine gefaßte Gegnerin vorfände und hier seine Wirksamkeit am Ende sei.

Wenn Eltern ihre Kinder oft zu erziehen scheinen, bloß um gegen einander ihre ununterbrochenen Fehden zu unterhalten oder zum Zeitvertreib für irgend eine müßige Stunde – ein Spielzeug scheinbar, von dem sie keine Belästigung erwarten, und gegen das sie sich keiner Verpflichtung bewußt werden: müssen wir, zu den geringsten Erwartungen unter solchen Umständen berechtigt, häufig erstaunen, wie ein also gehetztes oder gemißbrauchtes Wesen, dem Allen zum Trotze, sich in besserer Weise entwickelt.

Der junge Leonin. Graf von Crecy, war von der Natur mit einer träumerischen Stille des Gemüths begabt, und dadurch gegen die verschiedenartigen Eindrücke seiner Umgebungen sanft eingehüllt. Er sah und fühlte immer nur das, was ihm für den Augenblick nöthig oder angenehm war, und hatte für Alles, was sich ihm anderseits aufdrängen wollte, die sanfte Auslegung der Gutmüthigkeit, womit er sich unbewußt jeden unangenehmen Eindruck abwehrte. Er fühlte weder die Unzulänglichkeit der väterlichen Autorität, noch den despotischen Willen seiner Mutter, von dem er ganz gelenkt ward. Er wuchs unter den Siegesnachrichten seines Vaters auf; in einer Entfernung von ihm, die ihm sein Bild von allen Schwächen frei erhielt, und denselben[127] in seiner jugendlichen Phantasie zu den Heroen des Alterthums erhob.

Mit einem darauf begründeten Anspruch an die Bevorrechtung seiner Geburt, wie er nothwendig zu jener Zeit dem einzigen Sohne eines solchen Mannes erwachsen mußte, fühlte sein weiches und dennoch von dem Stolze der Mutter gehobenes Herz die innigste Liebe zu seinem Vater. Die Mahnung, sich auszeichnend ihm ähnlich zu werden, fand er vorerst nicht heraus, und alle Wege schon bequem und eingerichtet, eben durch den Namen, den er trug.

Seine Mutter war mit der ganzen Autorität ihres Verstandes bemüht, in ihm den Stolz zu nähren, den er von ihrem Blute im Herzen trug, sie imponirte seinem, wenn auch richtigen, doch langsamen Verstande durch die, Frauen natürliche, praktische Uebersicht der Verhältnisse, die ihm außerordentliche Geisteskräfte anzudeuten schienen, da sie ihm immer zuvorkamen. Er hatte nie den Versuch gemacht, anderer Meinung zu sein oder die ihrige nur nach zu überlegen, und ihre mütterliche Weichheit würde sie nie zu der Schwäche verführt haben, diesen Versuch anzuerkennen, da ihre für ihn im Voraus gefaßten Beschlüsse mit Plänen zusammen hingen, die dem Ehrgeize Befriedigung sicherten und daher in ihrer Ueberzeugung für sein Glück vollkommen ausreichend sein mußten.

Seine Geistesfähigkeiten waren angebaut. Die Marschallin wußte wohl, daß man an dem Hofe Ludwigs des Vierzehnten nicht ohne Kenntnisse und Talente sich behaupten konnte. Es fehlte ihr auch nicht an Scharfblick, den geeigneten Lehrer zu finden, und der Abbate Mafei war vollständig ausgerüstet, diesem einfachen Geiste Kenntnisse in dem Maaße angedeihen zu lassen, als sie dem Verlangen des Jünglings selbst Bedürfniß wurden, ohne ihm das aufzunöthigen, was ihn mit unnützer Gelehrsamkeit bedrohte, zu der ihm der rasch verarbeitende Geist von der Natur versagt war.[128]

Als das unerwartete Machtwort des Marschalls von Crecy seinem Sohne die militairische Laufbahn abschnitt, sah seine Gemahlin für ihn keinen andern möglichen Platz, Ansehen und Einfluß zu erreichen, als eines der hohen Hofämter, zu denen alte und berühmte Namen eine mitwirkende Nothwendigkeit waren, wenn auch der sich verfeinernde Hof und des Königs gebildeter Geschmack damit noch anderseitige Liebenswürdigkeiten vereinigt wissen wollte. –

Es erwachte in jener Zeit eben die später so überhand genommene Neigung zu reisen. – Fremde Höfe gesehen zu haben, von dem Leben anderer Länder Rechenschaft geben zu können, verbreitete über die Personen, die sich also auszuzeichnen vermochten, einen Reiz, den man ihnen als ein Verdienst, als eine Staffel der Bildung anrechnete, wohinter oft sehr geringe Fähigkeiten Schutz fanden. Die Marschallin war daher entschlossen, ihrem Sohne statt der Trophäen des Ruhmes, die ihm nun entzogen waren, den friedlichen Zauber einer glänzenden Reise zu ertheilen, und ihn durch ein ehrenvolles Auftreten an fremden Höfen für einen dereinstigen hohen Platz an dem französischen Hofe unwiderleglich vorzubereiten. Der Abbate Mafei und ein reiches Gefolge, wie es den Geburtsansprüchen des Jünglings geziemte, ward zu seiner Begleitung mit Verstand und zweckmäßiger Wahl ersehn, und beide Aeltern, obwohl sie sich schwer von dem Lieblinge trennten, der wie eine leichte Wolke die Ehegatten vor einander verhüllte und ihre unsanfte Berührung hinderte, fügten sich der Nothwendigkeit, die zufällig Beide zugleich anerkannten.

Es liegt nicht in unserem Plane, den jungen Grafen von Crecy auf einer Bildungsreise mit ihren mannigfachen Zufälligkeiten an Freud' und Leid zu begleiten. Sie erstreckte sich auf alle Länder, welche damals im Frieden mit Frankreich waren, und bei der wenigen Vorbereitung, die Reisende noch auf ihren[129] Wegen fanden, war sie reicher an Abenteuern, als wir jetzt für möglich halten möchten. Sie wurden jedoch Alle glücklich bestanden, und der Abbate Mafei durfte der stolzen Mutter die schmeichelhaftesten Berichte über die Entwickelung seines Zöglings senden, ohne die Wahrheit zu verletzen. Die Gewandtheit, die in der größeren Freiheit, in der nothwendigen Auffassung der verschiedenartigsten Verhältnisse sich von selbst entwickelt, vollendete das anziehende Wesen des Jünglings durch eine hinzukommende ernste männliche Haltung, die neben dem weichen Ausdrucke des Gefühls ihm überall Vertrauen und Antheil erwarb.

England sollte die Reise beschließen und den jungen Grafen zu jeder Auszeichnung reif, seinem Vaterlande zurückgeben. – Die letzten Nachrichten, welche die Marschallin erhielt, waren nach einer Abschieds-Audienz bei Karl dem Zweiten geschrieben, und er begab sich jetzt nach Schottland, und zwar, auf den ausdrücklichen Wunsch seiner Mutter, zu der Familie des Grafen von Gersey, mit der die Marschallin aus Familienrücksichten seit lange ein freundschaftliches Verhältniß unterhielt. Sie hatte nämlich mit anscheinendem Eigensinne verlangt, daß ihr Sohn hier bis zu seiner, in wenigen Monaten erfolgenden Majorennität verbleiben sollte, und bei dem Grafen Gersey dazu durch eigene Anfrage die Erlaubniß ausgewirkt. Wie sehr sie nämlich gewünscht hatte, daß ihr Sohn sich durch diese Reise äußere freie Haltung erwürbe, so war es doch ganz ihrem Karakter und ihren Ansichten entgegen, ihm damit auch eine innere Unabhängigkeit zu gestatten, und es schien ihrer argwöhnischen Herrschsucht, als habe der Sohn davon zu viel gewonnen, und seine Neigung für das Ausland sei vielleicht schon zu vorherrschend geworden, um ihn noch zu allen Verhältnissen geneigt zu finden, wie sie ihr bequem sein würden. Sie hoffte daher, ihm durch diesen letzten Aufenthalt, den sie gar wohl kannte, eine Herabstimmung[130] seiner gesteigerten Ansichten zu geben, und durch das ermüdende Treiben einer beschränkt abgeschlossenen Zurückgezogenheit ihn dankbarer und hingebender zu machen für das, was sie ihm dann mit vollen Händen, und dennoch wohl berechnet, genau mit ihrem Willen im Einklange, darbringen wollte. Seine Majorennität machte ihn augenblicklich zum selbstständigen Herren großer Besitzungen, die, mit dem uralten Schlosse von Ste. Roche verbunden, eine anlockende Veranlassung waren, sich unabhängig zu fühlen; und die Marschallin hatte daher zu einem so gefährlichen Besitze, den sie ihm nicht streitig machen konnte, ohne alte Familien-Institutionen zu beleidigen, heimlich beschlossen, einen zweiten Besitz, eine Gemahlin nach ihrem Sinne und Willen hinzuzufügen. Ohwohl der Graf Gersey drei Töchter besaß, wußte die kluge Mutter doch durch die eigenen Berichte ihrer Freundin, der Gräfin Gersey, daß sie an diesen keine Störung ihres Planes zu fürchten habe, da selbst die zärtliche Mutter sie unschön nannte und zum Troste dagegen Eigenschaften an ihnen rühmte, von denen die Marschallin wohl wußte, daß sie dem verwöhnten Geschmack ihres Sohnes nicht gefährlich werden würden. – Auf dem Wege nach Edinburg erkrankte der Abbate Mafei, und da er darauf bestand, die Reise fortzusetzen, erreichte man Stirlings-Bai, das Schloß des Grafen von Gersey, mit dem sterbenden Abbate. Sein Leben konnte nicht gefristet werden – alle zu Gebote stehende Hülfe, von dem geschickten Hausarzte des Grafen bis zu der zärtlichsten Pflege seines ihm kindlich zugethanen Zöglings, vermochten den Willen der Natur nicht zu beugen, die ihr Geschäft bei dem würdigen Abbate für erledigt erklärte, und er starb in den Armen des jungen Grafen sanft und heiter, eine würdige Vollendung eines vorwurfsfreien Lebens.

Dies war der erste Schmerz, der in die Seele des jungen Mannes drang, und er nahm ihn um so lebhafter auf, als ihm[131] gerade die Stütze gegen jede bisher nahende Unannehmlichkeit mit diesem treuen und theuren Gefährten entrückt ward. Jetzt ergingen eine Menge trüber Fragen an ihn selbst, die sonst von dem guten Abbate beseitigt wurden, ehe sie ihn erreichen konnten. Er fühlte sich in allen Beziehungen verletzt und gekränkt, ja, er glaubte in sich selbst eine Schwäche und Unmännlichkeit des Karakters wahrzunehmen, welche ihn völlig schwermüthig machte und zu den ungerechtesten Selbstvorwürfen trieb, die zu einer Muthlosigkeit, der Zukunft gegenüber, anwuchs, nur durch die Verwöhnung des Glücks begreiflich, von dem wir uns für immer verlassen glauben bei dem ersten Schatten, der es uns verhüllt.

Unter diesen Umständen fühlte er sich trotz der gütigen und theilnehmenden Sorgfalt, womit der Graf Gersey und seine Familie ihn behandelten, in so höchst gedrückter Stimmung in Stirlings-Bai, daß er, wenn er nicht gefürchtet hätte, seine Mutter durch seine Entfernung zu beleidigen, einen Ort zu verlassen geeilt haben würde, der bestimmt war, der erste Grenzstein seiner Jugend zu werden, indem er ihn aus dem weichen Zustande des Genießens zu dem ernsteren des Leidens erwachen ließ.

Wer Stirlings-Bai betrachtete, hätte es wohl für geeignet halten müssen, auf jede Stimmung der Seele einen wohlthätigen Eindruck auszuüben. Es war reich ausgestattet von der Natur und ein altes Besitzthum reicher Geschlechter im wohlerhaltensten Zustande. Man konnte kaum etwas Schöneres sehen, als das Schloß auf dem Felsenabhange am Rande des mächtigen Gebirgswassers, das zu einem wild brausenden See erweitert, von den herrlichsten Wäldern umsäumt lag und mit seiner reichen inneren Ausstattung den äußern Anspruch vollständig erfüllte.

Die Hütten der Unterthanen lagen zerstreut umher, und der Zufall hatte es gewollt, daß ihre Lage die vielfachsten und romantischsten Ansichten gewährte.[132]

Den Park begränzend lag eine alte Abtei, Stirlings-Abtei genannt, deren Kirche noch jetzt zum Gottesdienste der gräflichen Familie und der Umgegend benutzt ward, und mit ihrem verschwenderischen Prachtbau im rein gothischen Geschmack, und mit ihrer noch wahrnehmbaren großartigen Ausdehnung, es sehr wahrscheinlich machte, daß sie einst Besitzerin und Beherrscherin der reichen Güter gewesen sein mochte, in denen sie jetzt nur noch als nothwendige Nebensache geduldet ward. Unzerstörbar jedoch blieb sie mit ihren mächtigen und den weithin sie verkündigenden Thürmen die Beherrscherin der Gegend, auch nach ihrem Falle noch ihren mächtigen frühern Rang bekundend. Die einst dazu gehörigen weitläuftigen Klostergebäude waren bis auf einen kleinen Theil abgetragen, der noch jetzt die Wohnung des Geistlichen war, der unter dem Patronat der Grafen von Gersey stand.

Der Herbst nahte sich indessen, und das Sloß füllte sich jeden Tag mehr mit dem heiteren Trosse rüstiger Jäger, die von allen Theilen der Grafschaft sich zu einem langen Waidmannsvergnügen in Stirlings-Bai versammelten, dessen noch nie gänzlich durchstreifte Wälder jede Lust für so heitere Gesellschaft darboten. Nur selten und halb gezwungen nur, nahm der junge Graf an diesem Vergnügen Theil, welches so ganz seiner stillen träumerischen Weise entgegen war; und er fühlte sich bald in einer Isolirung, die er nur mit dem Kummer um den theuren Verstorbenen ausfüllte, dessen feine Geistesbildung ihm stets das wahre Element für seine Neigung war.

Wie seine Mutter vorausgesehen hatte, machten auch die Frauen, die er hier vorfand, und die in ihrer derben Natürlichkeit ihm so wenig wie Frauen erschienen, nur einen verletzenden Eindruck auf ihn; sie setzten ihn mehr in Verlegenheit, als daß ihr Umgang ihm hätte wohl thun können – und er floh vor ihrem breiten, leeren Geschwätze fast noch ängstlicher, als[133] vor den lauten Jagdzügen der Männer oder ihren lärmenden Trinkgelagen. Dabei erkannte er nur zu bestimmt, daß man ihn als ein völlig fremdes Wesen mit Neugierde und einem gewissen Mitleiden, wenn nicht mit Tadel, betrachtete; und er selbst schien sich so ganz abweichend, so unbegreiflich bis auf Gestalt und Kleidung verschieden, daß er, unterstützt von seiner hypochondrischen Laune, sich für einen immerwährenden Gegenstand ihres neckenden Zeitvertreibes hielt; er vergaß aber, daß sie ihn hierzu für viel zu unbedeutend hielten. Er war unter Menschen, die ein volles sicheres Vertrauen zu ihrer Bildung besaßen, weil sie ihnen eine tüchtige Auffassung des praktischen Lebens sicherte, das sie mit allen seinen materiellen Anforderungen vollständig beherrschten. Es hatte sich ihnen dadurch eine so stolze Ruhe des Daseins mitgetheilt, daß sie das darüber gehende Bedürfniß mit großmüthiger Gleichgültigkeit betrachteten.

So kam es häufiger, als es beachtet ward, daß der junge Graf mit der Flinte und Jagdtasche mit dem lustigen Trosse auszog, und bald unbemerkt sich zu weiten einsamen Spaziergängen entfernte, und dann, in dem duftigen Moose des Waldes gelagert, den eigentlichen Inhalt seiner Jagdtasche leerte, welchen er der vergessenen und nur für ihn geöffneten Bibliothek des Schlosses entzogen.

Er hatte einen schönen Herbsttag so in der wohlthuenden Ruhe verbracht, die er weniger seiner inneren Haltung verdankte, als der sorgfältigen Vermeidung äußerer Störungen, und schlug nun, den Stand der Sonne prüfend, den Rückweg ein, um zur Zeit der Tafel den Hausgenossen nicht zu fehlen. Er hörte bald aus der Ferne die einzelnen Signale der Jäger, erkannte, daß man noch irgend ein Hauptwild auf der Spur haben mußte, das man zu treiben suchte. Ohne des Weges recht kundig zu sein, sah er sich bald in einem bisher noch unbetretenen Theile des Waldes und blieb erstaunt über die Pracht[134] und Majestät des hundertjährigen Baumwuchses stehen, der, wie eine riesenhafte Säulenhalle, bis an die Kronen von allem Unterholze entblößt, in einzelnen großen Kämmen die dichten Laubgewölbe in einander schlang. Sie bildeten so eng verzweigt, einen festen Dom, durch den das Licht der Sonne nur gebrochen, wie durch bunte Scheiben, blendende Lichter herein warf, und den kurzen, feinen Moosteppich, der theils den Boden, theils die hochgebäumten Wurzeln der herrlichen Weiß-Buchen bedeckte, golden grün färbte. – Vorschreitend sah er jetzt, daß er sich der Abtei genaht, daß dieser Wald die heilige Vorhalle der prachtvollen Kirche bildete, deren großartiger Unterbau sich jetzt zwischen den Stämmen gewahren ließ. Es fiel ihm ein, daß er seit der Beisetzung seines theuren Freundes, wo er die Kirche auf einem ganz anderen Wege erreicht und sich wenig um sie bekümmert, noch keinen Versuch gemacht hatte, sie wieder zu sehen, was für ihn als Katholiken auch nur geringes Interesse hatte. – Er nahm sich jedoch jetzt vor, diesen schönen Punkt zu der Unterhaltung des nächsten Tages zu wählen und Alles kennen zu lernen, was sich daran anschloß.

Jetzt eilte er, die Nähe des Parkgeheges nach dem Stande der Kirche annehmend, dasselbe zu erreichen, immer von den näherrückenden Hornsignalen begleitet, als es ihm plötzlich war, als höre er einen ängstlichen Hülferuf – jetzt glaubte er ihn hinter sich zu hören – dann noch deutlicher vor sich. Er stürzte durch das erreichte Parkgehege in dasselbe hinein, denn es war ohne Zweifel eine weibliche Stimme, die ihm entgegen tönte; auch drang er nur wenige Schritte vor, als er ein fliehendes Weib mit Pfeilesschnelle daher stürzen sah. Worin ihre Gefahr bestand, war nicht zu übersehn, aber ihr Angstgeschrei deutete jedenfalls auf solche hin, und Leonin eilte daher um so schneller auf sie zu; doch sah er jetzt zu seinem Erstaunen, daß sie, so hoch sie vermochte, ein weißes Tuch in der Luft wehen ließ und,[135] als sie ihn erreicht hatte, mit abwehrender Gebehrde an ihm vorüber lief, indem sie, hinter ihm zeigend, lebhaft rief: »O helft, helft doch!« – Nun erst schien ihm, als verdoppelte sich das Geschrei hinter ihm. Er blickte um und sah, wie sich der eben vorübergeeilten Gestalt eine andere aus dem Waldwege entgegen stürzte, von einem wild gemachten, und von den Hornsignalen noch immer gereizten und getriebenen Eber fast auf dem Fuße verfolgt. Augenblicklich eilte Leonin jetzt den bedrohten Frauen nach, und da an Anlegung des Gewehrs nicht mehr zu denken war, riß er seinen Hirschfänger aus der Scheide, den zweifelhaften Kampf zu wagen entschlossen, wenn auch nur um den Fliehenden Zeit zu gewinnen. Doch ehe er hiezu kommen konnte, hatte das erste der Mädchen schon, mit der größten Entschlossenheit der Verfolgten sich entgegen stürzend, das wüthende Thier durch ihr wehendes Tuch verblödet und zum langsameren Trotte gebracht; sie wendete sich mit Blitzesschnelle, eilte der Andern, die das Gehege indeß überschritten, nach, stieß den eben sich dem Eber entgegen werfenden Leonin zurück, und warf mit einer schnellen und geschickten Wendung das Gitter in das Schloß.

»Gott sei gelobt!« rief sie und schlug die Hände zusammen, »jetzt sind wir gerettet! Doch, wir wollen hier fort – so lange uns das wilde Thier sieht, reizen wir seine Wuth, und lange traue ich dem Gitter nicht Widerstand zu – doch seht, da kehrt es schon um waldeinwärts: – Nun, so helft mir meine arme Emmy hier wegbringen, denn die Angst hat sie ganz umgeworfen.« Bei diesen Worten war sie schon neben die am Boden Liegende getreten, und bemühte sich, sie aufzurichten. »Hörtet Ihr denn gar nicht,« fuhr sie mit Emmy beschäftigt fort, »woher das Unglück kam? – Was hätte uns wohl Euer kleiner Hirschfänger helfen können? Ihr hättet doch an das Gitter denken müssen!«[136]

»Gewiß,« antwortete Leonin, von Staunen und Verlegenheit über das Erlebte und den ruhigen Vorwurf des jungen Mädchens ganz überwältigt – »mein Betragen war thöricht und ungeschickt, und ich fühle mich tief beschämt, von Eurem Muth und Eurer Besonnenheit so weit überholt zu sein.«

Als Leonin sprach, ließ das Mädchen von Emmy ab und erhob das Gesicht zu ihm, die dunkeln Locken zurückschüttelnd; sie war dem gebildeten Tone seiner schönen Stimme gefolgt und blickte jetzt hold neugierig in sein Angesicht.

Gewiß war dies für Beide eine angenehme Ueberraschung, denn tiefere blaue Augen hatten ihn noch nie angeblickt, und so viel die aus ihren Banden geflossenen Locken zuließen, glaubte er nie feinere und anmuthigere Züge gesehen zu haben.

»Gehöret Ihr denn zu den Jagdherren des Schlosses?« fuhr das Mädchen fort.

»Ich bin allerdings ein Gast des Grafen Gersey,« antwortete Leonin – »doch nicht so leidenschaftlicher Jäger, diesen fröhlichen Waldzügen immer zu folgen.«

»Das dachte ich wohl,« sagte das Mädchen, »aber es mag sein, wie es will, Ihr müßt mir Emmy führen helfen.«

»Gewiß! gewiß,« sprach Leonin, »werde ich Euch nicht eher verlassen, als bis Ihr in Sicherheit seid.«

Sie schaute ihn wieder klug an, um ihren Mund zuckte ein Wort, aber sie schwieg und ergriff nun zärtlich Emmy's Hand, die sich noch bleich und halb ohnmächtig gegen einen Baum lehnte, unfähig, wie es schien, ihre Besinnung wieder zu finden. »Emmy! meine liebe, gute Emmy!« sprach sie zärtlich, wie ein Kind, »sieh mich doch an und fasse dich – Du bist ja gerettet! komm' doch nun nach Hause, zu Deinem Manne, zu Deinem Kinde – denn er könnte sich ja bangen um Dich! Sieh, weit weg ist schon der böse Eber, den haben gewiß die Jäger schon erlegt, und er kann Dich nie wieder jagen!«[137]

An den freundlichen Worten, so wohl berechnet das gestörte Bewußtsein der jungen Frau zu werden, richtete sich diese auch alsbald auf und ließ sich, dem fortdauernden Geplauder horchend, von Beiden fortführen.

»Verletzt bist Du doch nicht?« frug das Mädchen weiter, »und Gott wird ja geben, daß Dir die Angst nicht schadet!«

»Ach nein, teure Miß!« erwiederte die junge Frau – »verletzt glaube ich nicht – aber denkt selbst, wie fürchterlich meine Lage war; ich bin weit gerannt, bald rechts, bald links, ihm zu entgehen, aber gewiß, ich wäre unterlegen, denn mir fehlte schon alle Kraft und Besinnung, wäre das Thier nicht schwerfällig und alt gewesen, und hätte ich nich Hülfe bekommen. – Nicht wahr,« fuhr sie fort, »der gute Herr hier hat mich gerettet?«

So beschämend dieser Augenblick für Leonin war, hätte er ihn doch um die Welt nicht verlieren mögen, denn das Mädchen steckte den Kopf um die junge Frau ein wenig herum und sah ihm mit einem Lächeln in die Augen, das den reizendsten Ausdruck muthwilliger Neckerei trug und ein unschuldiges, kleines Einverständniß einleitete; denn sie antwortete sogleich freundlich fortlächelnd: »Nun, geschrien haben wir beide genug, um die ganze Jagd zu Hülfe zu rufen, und es mochte dem wohl schwer sein, der zwischen unseren Stimmen, die rechte Stelle zu erkennen, wo Hülfe Noth that.«

Leonin hielt seine Augen so lange auf ihr Antlitz geheftet, bis sie ihn noch ein Mal anblickte, und jetzt kostete es ihr ein schnelles, kleines Erröthen.

»Ich war auf dem Vorsprung,« fuhr sie zu Emmy fort, »als ich das Treiben des Ebers sah, und daran dachte, wie Du des Weges warst, und schnell hinunter lief, um zu sehen, ob das Park-Gehege offen, im Fall Du in Angst kämest[138] – aber die Unruhe, die ich schon fühlte, machte, daß ich so bald dein Geschrei erkannte.«

»Ach, liebe Miß, wie danke ich Euch!« rief Emmy gerührt, »Ich hätte selbst verunglücken können, aber daran denkt ihr immer zuletzt – was hätte dann Euer Vater gesagt!«

»Ja, der Vater,« antwortete das Mädchen nachdenkend, »Dem hat es recht geahnt, daß uns heute Unglück bedrohe – glaubst Du, daß er mich hinauslassen wollte? Zur Zeit, da er weiß, daß ich spazieren gehe, kam er zu mir und setzte sich nieder, und trug und sprach so viel und lieb, daß ich ganz das Ausgehen vergaß; als er abberufen ward und ich nun auch aufbrechen wollte, fragte er plötzlich: ›Willst du doch hinaus?‹ – Du kannst denken, daß ich verwundert war und ihn frug: ob er etwas dagegen habe? Da sagte er: ich sollte ihn nicht auslachen, aber meine selige Mutter habe die ganze Nacht vor ihm geweint und ihn gebeten, er solle mich nur heute nicht hinauslassen, und habe mich ihm gezeigt, wie ich mit einem Kranze geschmückt dastand, und ein schwarzer Leichenschleier drüber hinsank und mich für immer verhüllte. Das habe ihn so erschüttert, daß er es gar nicht vergessen könne.« –

»O mein Gott! warum bliebet ihr denn nicht zu hause, Miß Fennimor?« –

»Weil der gute Vater es nicht leiden wollte, denn er meinte, es sei eine Schwäche, und er wolle sie sich nicht gestatten. Da mußte ich gehen und spürte auch keine Furcht, bis der Jagdzug nahe kam und an Dich dachte.«

So waren die Frauen mit ihrem stumm aufmerkenden Führer die Richtung des Parkes durchgegangen, die sie nach der Abtei zuführte; und jetzt riß sich Fennimor plötzlich los und rief: »Dort kömmt der Vater!«

Eine ehrwürdige, vom Alter gebeugte Gestalt mit silberweißen Locken, in einem einfachen schwarzen Hausleibe trat[139] ihnen jetzt entgegen, und empfing die zu ihm eilende Tochter in seinen Armen.

»Wer ist dieser Herr?« frug der junge Graf seine langsamer folgende Gefährtin.

»Es ist Sir Reginald Lester, der Kaplan von Stirlings,« erwiederte die junge Frau, und jetzt hatten sie sich der interessanten Gruppe genähert, ohne von ihr bemerkt zu werden. Der Vater hatte das geliebte Kind so fest an seine Brust gedrückt, daß das Mädchen, um ihn anblicken zu können, sich weit hinten übergebogen hatte; die Locken ihres reichen Haares theilten sich dadurch von der weißen Stirn, und der Vater blickte mit dem unbeschreiblich rührenden Ausdruck innigster Befriedigung in dies schöne, offen vor ihm liegende Gesicht.

»Da hast Du uns wieder,« sprach sie freundlich, »heil und gesund, wie wir Dich verlassen; aber großer Gefahr sind wir alle nur kaum entkommen, ein gehetzter wilder Eber hätte uns gern alle verschlungen.«

»Großer Gott,« sprach Sir Reginald – »so war meine Sorge doch nicht umsonst!«

»Nein, Vater,« sagte das schöne Mädchen heiter, »aber ich habe den Kranz wirklich gewonnen und den Leichenschleier von uns allen abgewehrt, denn glücklich kam ich dazu, das Gitter des Parkes vor dem bösen Gast ins Schloß zu werfen.«

»Gott weiß,« sagte seufzend Sir Reginald – »was diese wilden Jagdzüge noch für Unheil veranlassen werden! Das gescheuchte Wild, das doch unmöglich alles geschossen werden kann, entartet dadurch zu einer wahrhaft gefährlichen Wuth.« – Jetzt erst gewahrte der Kaplan, seine Augen von der sanft losgegebenen Tochter abziehend, den fremden, jungen Mann und trat ihm sogleich mit einer feinen, ruhigen Verbindlichkeit entgegen. Seine fragende Miene beantwortete Leonin, indem er[140] ihm in einigen höflichen Worten, der Wahrheit nach, sein Zusammentreffen mit den beiden Frauen andeutete.

»Und wem darf ich mich also verpflichtet halten?« erwiederte der Caplan, freundlich ihn begrüßend.

»Ich bin der Graf von Crecy,« erwiederte der junge Mann, »und ein Gast des Grafen Gersey – doch bin ich der Verpflichtete, da ich wenigstens des Schutzes theilhaftig ward, den Miß Lester ihrer Dienerin gewährte.«

»Auch liebt der Herr Graf die Jagdzüge bei Weitem nicht so, wie die übrigen Herren,« setzte Fennimor ernst hinzu und betrachtete ihn forschend mit ihren großen blauen Augen.

»Ruhet dann wenigstens von den bewegten Augenblicken ein wenig bei uns aus,« sprach Sir Reginald, und schritt sogleich voran durch die kunstreich verzierte Bogenthür, welche in das Innere der Abtei führte.

Das letzte Stück eines abgetragenen Umganges machte hier den schönen, reinlich mit Binsendecken belegten Vorflur aus – und durch eine kleine gothisch-verzierte Thür trat man in ein großes Zimmer, welches seine frühere Bestimmung, Kapelle oder Sakristei zu sein, noch wenig verleugnete. Es war ringsum bis zur Mitte der hohen Wände, mit kunstreich geschnittenem Eichenholze bekleidet, wohinter, wie einzeln vortretende Verzierungen vermuthen ließen, sich Schränke befinden mochten. Die oberen Wände kränzten sich mit reicher Stuckatur bis zu den Spitzbogen der Decke empor, und enthielten in ihren Zwischenräumen große Gemälde, die offenbar noch einer früheren Bestimmung angehörten.

Drei große Fenster, welche in die Spitzbogen der Decke hinaufreichten und mit bunten Scheiben geziert waren, nahmen die eine Seite des Gemachs ganz ein, da sie nur durch kleine Pfeiler getrennt waren, welche in Holz geschnittene Engel verdeckten; die Seitenfenster erhoben sich erst über der Holzwand,[141] die gleichmäßig das Zimmer unterhalb einkleidete, das mittlere dagegen durchbrach die Wand und reichte bis zu dem Täfelwerk des Fußbodens, denn es bildete zugleich eine Ausgangsthüre nach dem Buchenwalde, der die Vorhalle dieses zauberischen Aufenthalts ausmachte. –

Gegenüber diesem Fenster lag der kollossale Kamin von schwarzem Marmor, und in der Mitte des Zimmers stand ein eichener Tisch, mit großen geschnittenen eichenen Sesseln umgeben, unter denen ein Teppich von feiner Stickerei ausgebreitet war. Eben so zeigten die Kissen der Stühle in purpurrothem Grunde Stickereien. Büchergestelle und Schreibtische in ähnlicher Art nahmen den hintern Theil des Zimmers ein, und sorgsam gepflegte Gewächse fingen an den Seiten des Mittelfensters die Sonnenstrahlen auf.

Es war unmöglich, dies Zimmer zu betreten, ohne nicht das Element einer höheren, edleren Existenz zu ahnen, das die Bewohner mit ihren Beschäftigungen gelehrt hatte, den Raum mit seiner abweichenden Ausschmückung sich zum Bedürfniß anzueignen.

Unsern jungen, unzufriedenen, gequälten Freund wandelte ein Gefühl an von Schüchternheit und Rührung; er blickte zu den beiden herrlichen Gestalten, die diesen Raum vertraut beherrschten, mit einer Ehrfurcht empor, als bewahrten sie das Geheimniß des Lebens, nach dem seine krankhafte Seele seufzend und vergeblich umher gesehen.

So kam es, daß der junge vornehme Graf Crecy, der seine ganze Schüchternheit hoffen konnte, an den verschiedensten Höfen Europas zurück gelassen zu haben, sie hier vor zwei Menschen wieder fand, die ohne Rang und Reichthum, von der Welt vergessen, nicht viel anders denn Einsiedler, nur ein stilles Naturleben zu führen schienen.

Er hatte nicht Zeit, sich zu fragen, woher ihm dieser Eindruck kam; fortgerissen, fühlte er ein Entzücken, ein Verlangen,[142] sich hinzugeben und anzuschließen, das nur gemäßigt ward eben durch das Gefühl von Schüchternheit, womit er sich sagte: sie haben keinen Andern nöthig zu ihrer herrlichen Existenz, Jeder ist ihnen' überflüssig oder störend, Jeder, der diese Schwelle überschreitet, muß sich für einen Bettler halten, der da harret, ob sie von ihrem Reichthum ihm mittheilen wollen.

Wenig lag so hoher Anspruch in dem Verhalten von Vater und Tochter, und gewiß war es, sie ahneten nicht, ihn bei Andern für sich hervorgerufen zu haben, obwohl sie ein edles Selbstgefühl hatten, ein Bewußtsein und Vertrauen zu ihrer Gesinnung.

Der Vater hatte die Tochter erzogen, indem er mit ihr lebte, und seine edle, sanfte und hingebende Natur die Atmosphäre bildete, in der sie sich von Jugend auf gerade und gesund aufrichten konnte, das schöne Haupt nach oben gewendet. Die Welt lag wie eine bunte Fabel hinter dem grünen Walde, dessen Ende sie nie fand. Was darin vorging, las sie aus großen Geschichtsbüchern, und glaubte davon, was sie konnte, und behielt auch nur das – denn die Geheimnisse der Natur begreifen wir auf jedem Isolirpunkte der Erde, die Geheimnisse des Lebens erst, wenn wir sie an uns selbst erfahren.

Vor den kleinen Neckereien der Erziehung, mit denen die Jugend sich oft so schmerzlich vorarbeiten muß, hatte die Weisheit und die Liebe des Vaters sie geschützt – es war ihr Alles klar und verständlich geblieben, was für und gegen ihre Neigungen geschah, nichts hatte einen Dorn, einen falschen Blutstropfen hinterlassen. Man hätte sie ohne Formen nennen können, wären edle Menschen nicht eigentlich überall die Gesetzgeber der wahren Form, und, was in der Welt tausendfältigem, launenhaftem Wechsel unterworfen ist, nur bei denen unverkümmert wieder anzutreffen, welche die Ursache dazu in einer bewahrten menschlichen Würde finden. – Kleinlich konnte sie[143] in nichts werden, denn ihre erwählten Helden und Heldinnen, denen sie allein glaubte, und ihr Vater, den sie eben so fand, und Emmy, die, um wenige Jahre älter, mit ihr aufwuchs, und einen starken, ernsten Sinn hatte, die wußten all' davon nichts. – Wie vornehm oder gering sie war, konnte sie auch nie ganz unterscheiden, denn die Gersey's, die vornehm sein sollten, erschienen ihr gar nicht so, weil sie unter Vornehm die erhabenen Gestalten ihrer Bibel verstand, Beherrscher der Natur, die mit Gott redeten, und obwohl sie nicht anzugeben wußte, warum die Gersey's ihr so erschienen, schüttelte sie doch immer den Lockenkopf und sagte: die sind nicht vornehm. Von dem Stande ihres Vaters hatte sie einen hohen Begriff. Die Priester des alten Testaments, die Könige waren, die Bischöfe des Mittelalters, die Päpste, diese Weltbeherrscher, das waren alle dieselben Priester, wie ihr Vater, und die Schönheit, die hohe Würde des Greises, die kindliche Unschuld seiner Sitten trug dazu bei, ihr kein höheres Ideal fürstlicher Würde geben zu können, als sie bei ihm vorfand. – Da die Familie Gersey, gute fromme Menschen, auch ihrerseits nie anstanden, ihn ehrerbietig zu behandeln, so fehlte ihr jeder Maaßstab für eine solche Stellung in der Welt, und sie war längst mit ihren Gedanken einig, daß ihr Vater eigentlich das sei, was ein vornehmer Mann hieß.

Sir Reginald Lester gehörte in der That einer solchen Familie an, obwohl ihm, als jüngstem Sohn, davon kein Vortheil zugeflossen war, als unter stolzen Ansprüchen erzogen worden zu sein, die wenig zu der Nothwendigkeit passen wollten, sich später in jeder Beschränkung des Privatlebens behelfen zu müssen. Er hatte sich jedoch zu früh aus der Welt zurück gezogen, um nicht ihren Widerspruch in der patriarchalischen Einsamkeit seines übrigen Lebens vergessen zu haben. – Auch war er mit seiner Familie gänzlich zerfallen, als er, von dem stolzen[144] Erstgeburtsrechte aus jedem Besitze vertrieben, wenigstens versuchte, als Mensch glücklich zu sein, und ein schönes edles Mädchen ohne Geburtsadel zum Weibe nahm, deren beglückender Besitz ihm nur als Trost und Andenken zwei Kinder, einen bereits als Geistlichen versorgten Sohn und Fennimor, ihr schönes Ebenbild, zurück gelassen hatte.

Während wir tiefer in den Grund des Eindrucks zu dringen suchten, der den jungen Grafen so mächtig ergriff, sehn wir ihn mit erhöhter Farbe, mit sanftgebeugtem Kopfe der Anweisung des Greises folgen, der ihn sogleich an die Tafel auf einen der Lehnstühle einlud, und mit ruhiger Würde seinem jungen Gaste gegenüber Platz nahm. Nicht so Fennimor – sie hatte zu thun mit der kleinen Estrade, wo ihre Blumen standen, und trieb dies mit einem Ernste und einer Wichtigkeit, als wenn diese stillen Gefährten in ihrer Abwesenheit Unordnung angefangen hätten. Einzelne Worte, die ihr entschlüpften, klangen, als ob sie die eine Staude lobe, die andere tadele, und danach in die Sonne kehre oder zurück schöbe. »So,« sagte sie endlich lauter, »nun habt ihr all' euer Theil! – Das soll euch wohl gefallen« – fuhr sie fort, so freundlich und herausfordernd, daß Leonce aufhorchte, ob sie ihr nicht antworteten. Aber sie mußte die Antwort schon empfangen haben, denn sie kehrte sich von ihnen ab, und blickte nun eben so zutraulich auf Leonin und ihren Vater hin, als überlege sie, was ihr mit ihnen zustehe. Der glückliche Vater sah mit einem kaum merklichen Lächeln dem entgegen, was er gleich zu vernehmen sicher war, ohne sein ruhiges Gespräch mit Crecy zu unterbrechen oder sie durch eine Anrede zu stören.

»Der Graf könnte lieber hier zu Mittag essen« – hob sie auch sogleich in einem ruhig berathenden Tone an, und stellte sich dabei neben den Vater hin, ihn ernst anblickend, als ob sie dies beide allein zu besprechen hätten.[145]

»Das könnte er wohl,« lächelte Sir Reginald, »wenn er es nicht vorzieht, auf dem Schlosse zu essen, wo so viel muntere Gäste sind, daß es ihm dort vielleicht besser gefällt.«

Sogleich wandte sich Fennimor zum Grafen und sagte eben so ruhig: »Wollen Sie lieber bei uns essen oder auf dem Schlosse?« – Ehe er aber antworten konnte, fügte sie gegen ihren Vater hinzu: »Ich sagte Dir aber schon, lieber Vater, daß der Herr Graf gar nicht die Jagdzüge so liebt, als die andern Herren dort oben!«

Niemals glaubte Leonin eine verbindlichere Einladung erhalten zu haben, und er fühlte ein Entzücken, eine Beehrung durch dieselbe, die ihm seine kühnsten Wünsche zu erfüllen schien. »Nein, Miß Lester,« bestätigte er freudig das, was sie so schnell und, wie es schien, zu seinen Gunsten aufgefaßt hatte – »ich gehöre keinesweges zu diesen leidenschaftlichen Jägern; es ist mir sogar nur ein aufgezwungenes Vergnügen, und ich passe daher sehr wenig in diese heitere Gesellschaft und werde mich für glücklich halten, wenn Ihr mich würdigt, mich hier zu lassen.«

»Warum bleibt Ihr aber dort,« fuhr Fennimor fort, »wenn Ihr Euch nicht gefallt? Ich habe auch einmal zugehört, wie die Herren zusammen sprachen, und habe seitdem etwas gegen die Jagd, denn sie gehen nicht redlich mit den Thieren um. Was sie von ihren Hunden erzählten, war abscheulich; die thun das Meiste und so Grausames, daß die armen Waldthiere von ihnen zerrissen werden, wenn noch alles Leben in ihnen ist – die schönen Hirsche und Rehe! und ein friedliches Thier auf das andere zu hetzen, daß es so wild wird, das ist auch gottlos!«

»Ja!« rief Leonin lebhaft. – »Ihr sprecht es aus, jetzt fühle ich es, warum die Jagd mich stets zurückgestoßen hat, es ist etwas Unedles und Unredliches dabei. Ich liebe die Ruhe des Waldes und das friedliche Eigenthumsrecht, womit die schönen Thiere ihn bewohnen, und da haben mich diese lärmenden[146] Züge und ihre rohe Freude über das Zerstören dieses friedlichen Zustandes immer aufgeregt, als müßte ich mich dagegen auflehnen.«

»Also liebt Ihr auch so den Wald!« erwiederte theilnehmend Fennimor und setzte sich neben ihn. – »Habt Ihr in Frankreich auch schöne Wälder? Sind überhaupt recht viele Wälder in der Welt?«

»Ich besitze selbst sehr schöne Wälder,« erwiederte Leonin. »In wenigen Monaten bin ich majorenn, dann gehören sie mir ganz allein, und wahrlich, kein Schuß soll fallen, ihr Frieden soll erhalten werden, als wären sie ein heiliger Hain der Vorzeit, irgend einer Göttin zum unanrührbaren Besitze geweiht!«

»Ach das thut, das thut!« rief Fennimor freudig – »da könnt Ihr dann die schönen langen Sommertage ganz ohne alle Störung herumgehen, und das Wild wird Euch kennen und alle werden kommen, wenn Ihr ruft, und Ihr könnt es füttern, und dann geht es Euch nach, und die Kleinen spielen mit Euch; und wenn Ihr durstet, so müßt Ihr die Quellen besuchen, wo sie trinken, dies Wasser ist immer kühl und hell, denn die klugen Thiere wissen stets das beste zu finden. Da werdet Ihr mehr Freude haben, als all' die lauten Jäger, zu denen sich kein einziges Wild freut, sondern vor denen sie alle flüchten – das könnt Ihr mir glauben; und Ihr werdet dann noch oft an mich denken, und daß ich es Euch gesagt habe.«

»Das glaube ich selbst,« erwiederte Leonin, plötzlich ernst nachdenkend, als habe sie ihm sein ganzes Geschick enthüllt – »ich werde von nun an immer an Euch denken, Euch nie mehr vergessen können.«

Auch sie berührte das Leben in diesem Augenblicke mit dem ersten leisen Hauch einer ihr bis dahin fremden Empfindung – sie dachte noch mit innigem Wohlgefallen an den grünen Wald, in dem das Wild ungestört wandeln sollte, und war doch schon[147] mit einem leisen Erschrecken von dem Gedanken berührt worden, daß er ihrer gedenken wolle, sie nie mehr vergessen. Wer das Leben kannte und dieses erste, leichte Berühren eines Gefühls zu verstehen vermochte, mit dem sie der mächtigsten Gewalt der Erde verfallen war, der hätte in unsäglicher Wehmuth sein Angesicht verhüllen müssen, denn eben damit war das unschuldvolle Leben in der Natur, das sie als den letzten Abschied eines ruhigen Kinderherzens noch rein empfunden und ausgesprochen, unwiderruflich dahin. Jahre müssen hingehen, ehe wir die Abschnitte in unserm Leben erkennen, die oft so hart geschieden neben einander stehen, daß sie uns in Erstaunen setzen; aber bewußt werden wir uns ihrer erst, wenn sie längst als abgelöst und aus jeder materiellen Beziehung zu uns getreten, erscheinen. Dann können wir auch oft erst nachweisen, wie der Moment, der wie der Quell aus dem Felsen dem leichten Schlage entgegen stürzte, in allen vorangegangenen Zuständen unserer Seele uns unbewußt vorbereitet ward. Denn wohl fühlen wir bei einem klaren Geiste, wenn uns das Leben zu einer neuen Entwickelung gelangen läßt, aber welche es sei, das bleibt das Geheimniß der Zeit; und die Anregung selbst macht, daß wir ihr wenig nachfragen, denn jede neue geistige Entwickelung scheint uns zum Herrn derselben zu machen, und läßt uns die Wege als eigen gewählte gehen, auf denen wir uns doch oft als Verirrte wiederfinden.

Das Mädchen stand still und schaute vor sich nieder, und in ihr geschah, was sie nicht begriff – als sie aufblickte, sah sie über Alle hinweg nach der Decke, sie war so groß geworden und hatte so viel Gedanken; Besuch bekommen, ist doch ein rechtes Vergnügen, glaubte sie – und ging, um den Gast in der Küche anzuzeigen. –

Bald öffnete sich in der Holzwand, der Eingangsthüre gegenüber, eine kleine, unter bunten Schnörkeln spitz zulaufende[148] Thür, Fennimor trat herein und streckte winkend nach Beiden die Hand aus, so lieblich lächelnd wie ein Kind.

Sir Reginald erhob sich und lud seinen jungen Gast ein, ihm nach dem Eßzimmer zu folgen. Dies war nur so breit, wie das einzige große Fenster darinnen, ein wahres grünes Blätterklosett, denn die hellen Scheiben hingen von Außen voll wiegender Ranken, und die Holzwände waren besteckt und berankt mit allem, was grünen und blühen wollte. Um den kleinen runden Tisch standen drei Stühle; zierlich weiß, und wohlhabend mit Silber war er gedeckt, und außer ihm keine Möbel, wozu auch jeder Platz fehlte, als im Hintergrunde neben der Ausgangsthüre ein künstlicher Schenktisch, geschmackvoll und reich mit Silber geschmückt. Emmy stand schon wieder bei vollen Kräften, mit der ernsten Miene einer bescheidenen Dienerin, die es erwartet, ob die Herrschaft sich eines mit ihr erlebten Ereignisses erinnern wird. Dies geschah sogleich von Seiten des Grafen, der freundlich sie anredete, um zu erfahren, ob der Schreck ihr nicht geschadet; und als auch der Geistliche ihr noch freundlich sich gezeigt und sie, sichtlich geehrt, der lieben Fennimor befriedigte Blicke zugesandt, nahm man die Plätze um das Tischchen ein. Obwohl diese Mahlzeit nur aus Fischen, Geflügel und Obst bestand, und Alles fehlte, was dem jungen Grafen sonst erst ein Mittagsessen ausmachte, schien es ihm doch das ausreichendste und vollständigste, was er je genossen, und das Vergnügen einer lebhaften gebildeten Unterhaltung, das er so lang entbehrt, labte seinen öden Seelenzustand bis zu nie empfundener Fähigkeit sich auszusprechen.

Wir haben schon gesagt, daß Crecy's Geist angebaut war. Leicht traten wohl geordnete Kenntnisse und eine entwickelte Urtheilskraft hervor, wo Sir Reginald, die schöne Fähigkeit des Geistlichen besitzend, es so wohl verstand, Beides an seinem Gaste herauszufinden und in Thätigkeit zu setzen. Das Alter[149] und die lange Trennung von der Welt machten den Jüngling ihm überlegen, aber er fühlte dies mit Wohlgefallen, und erkannte sein liebenswerthes Naturell und die geschickte kluge Entwickelung, die man ihm hatte zu Theil werden lassen, und die ihn weder überfüllt, noch vernachlässigt erscheinen ließ.

Obwohl Fennimor zwischen dem Gespräche Beider nicht einredete, so machte sie doch auf eine wunderbar kluge und naive Art das Resumee des Gesagten. Sie bewies damit, ohne es zu wollen oder zu ahnen, daß sie mit nichts ganz unbekannt war, was die Männer zu besprechen fähig waren; daß sie aber Alles eigenmächtig umschuf und zurecht legte in der ihr verständlichen und möglichen Weise.

Das Schlechte existirte für sie nicht – sie begriff es nicht, und alles, was daher und darum geschah, läugnete sie oder wußte es oft klug genug anders zu erklären. Sie war dabei entschieden und fest in ihren Meinungen, aber doch immer nur wie ein Kind ganz harmlos, ohne Leidenschaftlichkeit – Jeder mußte fühlen, sie könne blos nicht anders. Ihr von Aufhorchen und Theilnahme leuchtendes Gesicht, das beredte Mienenspiel, womit sie schon, ehe sie sprach, das Urtheil fällte, war wunderschön – kaum schien sie er warten zu können, was der Eine oder Andere sagen würde, so beredt hingen ihre Augen an seinem Munde, so freundlich lachte sie ihn an, wenn es das Erwartete war, so schnell schüttelte sie den Kopf, wenn sie es nicht begriff. Sie zwang unbewußt zuletzt die Sprechenden im Verlaufe des Gesprächs ihre Augen auf sie zu richten, da sie das Gesagte in ihr verworfen oder angenommen sahen.

So unschuldiges Treiben, das, hätte Fennimor in der Welt gelebt, schon längst weg erzogen gewesen wäre, da jede Mutter oder Erzieherin es mit dem Bannfluche des Unschicklichen belegt haben würde, konnte hier unter der Leitung eines einsam lebenden Vaters groß werden; denn ihm that die natürliche[150] kräftige Frische seines Kindes, das Eigenes dachte und wollte, und ihn oft anregte zum Denken und Forschen für sie, innig wohl, er hütete sich, sie zu stören, und empfing oft, ihm selbst überraschend, ganz neue Gedanken von ihr. Was ihre Zukunft werden sollte, das legte er stets mit der gefaßten Ruhe eines frommen Mannes bei Seite, und selbst seine sichtlich zunehmende Hinfälligkeit ließ ihn keinen Plan, keine Ansicht darüber fassen. Sollte sie dem allgemeinen Loose der Frauen anheim fallen, sich zu vermählen, so hatte er freilich kein Bild von dem Manne, der sie begreifen konnte; und lieber dachte er sie sich unvermählt, ihrer eigenen, tüchtigen Natur den Wirkungskreis verdankend.

Gegen Ende der Tischzeit unterbrach sie fast zürnend ein Gespräch der Männer über die herrschende englische Dynastie und das Treiben Karls des Zweiten, von dem der Geistliche durch Crecy manches Nachtheilige erfuhr, was seine früheren Ansichten bestätigte, da er den König fast so oft tadelte, als er von ihm sprach. »Vater,« rief sie, ganz erglühend von Eifer, »wie kannst Du denken, daß unser König Fehler macht, bloß darum, weil er ein Stuart ist? – Wie würde Gott zulassen, daß ihm das schon im Blute steckte, und hast Du nicht selbst gesagt, daß er brav war bei Worcester, wie jeder andere Soldat, als habe er kein Recht vor dem geringsten voraus – und war er nicht auch dankbar gegen Sir Loweston Harley, der ihn verbarg, als ihn Cromvell auf der Flucht nach Holland verfolgen ließ – hat er nicht gesagt: ›Wo ein Harley mir in den Weg tritt, da soll er mein Freund sein und, ist er müde, auf meinem Lager ruhen und, ist er hungrig, von meinem Brodte essen, aus meinem Becher trinken‹ – und hat er das nicht all' gehalten, wie Du mir selbst gesagt?«

»Einzelne schöne Züge haben alle Stuarts mit einander gemein,« erwiederte ruhig der Vater, »aber daneben wohnt in[151] ihnen ein tückischer Geist, der immer wieder einreißt, was sie Gutes gewollt oder gethan.«

»Ach nein,« sagte Fennimor – »weißt Du, wie es sein wird? Er ist zu lange von Hause gewesen, das habe ich letzthin herausgefunden, als Du ihn wieder schaltest. Da war ich den ganzen Tag und die ganze Nacht in Grimfield's Höhle gewesen, als wir die Marienwürmchen sammelten in der Heumondsnacht – gegen die Gliederschmerzen,« setzte sie erläuternd gegen den Grafen hinzu – »als ich da so lange von Hause war und ich kam wieder, war mir Alles fremd geworden, und ich wußte gar nicht, wo ich anfangen sollte, ob es Zeit zu dem Einen oder dem Andern wäre. Du selbst« – fügte sie hinzu und drückte ihren Kopf an des Vaters Schulter – »sagtest: Du bist ein ganz verwirrtes Ding geworden, weil Du so lange von Hause warst! Da dachte ich nachher, wie Du den König schaltest: ich war nur so kurze Zeit fort, und mein Haus ist so klein, und als ich wieder kam, wußte ich zu nichts die rechte Zeit zu finden – und nun der arme König, den sie so lange verjagt haben aus seinem großen Hause, aus seinem England – nun er wieder kommt, auch nicht immer die rechte Zeit finden kann, wo Alles hingehört, da schelten sie ihn alle so sehr.«

»Zu erklären, zu entschuldigen mag durch dies traurige Schicksal Manches in dem Karakter des Königs sein« – sprach Crecy, so gern ihr beipflichtend – »es ist nur leider jeder Fehler, auf diesem Gipfelpunkte der menschlichen Gesellschaft begangen, so schwer in seinen Folgen, und so unmöglich, ihn zu übersehen, da er in das Glück von Tausenden einschneidet.«

»Ja,« – fuhr Fennimor lächelnd zum Vater fort – »laß' Du ihn nur erst recht ruhig in dem alten Vaterhause ausschlafen und gieb dann Acht – denn was war es bei mir? Uebermüdung. Als ich schön ausgeschlafen hatte, wußte ich Alles wieder, wie am Schnürchen, nichts war mir mehr fremd. – Der arme König[152] ist auch noch müde, er ist noch immer überwacht von der langen Noth, die ihn nicht schlafen ließ; darum taumelt er und thut bald zu viel, bald zu wenig – ach, Ruhe muß doch ein König auch haben, da Gott ihn Mensch hat sein lassen! Und braucht er dazu so viele Jahre, wie ich Stunden, kommt die Rechnung doch heraus, da seine Noth so groß war, die meinige so klein.«

»Nun, so wollen wir ihm denn eine Ruhe der Seele wünschen, wonach er sich geeignet findet, das zu erkennen, was seinem armen Lande noth thut« – sprach Sir Reginald, indem er sich erhob und nach beendigter Mahlzeit seinen Gast in das Wohnzimmer zurückführte.

Fennimor, die ihnen folgte, zog nun nach gewohnter Ordnung ein kleines Bänkchen zu den Füßen ihres Vaters, beschäftigt, von einem Andachtsbuche, welches sie herbei geholt, die goldenen Klammern zu lösen, um ihrem Vater daraus vorzulesen.

Doch Sir Reginald hielt die Hand auf den Deckel und sagte lächelnd: »Dies möchte unserm lieben Gaste doch eine zu ernste Lektüre werden, mein Kind, und wir lassen das, bis wir allein sind.«

Wie mit Purpur ward Fennimor bei diesen Worten übergossen, und Erstaunen und Beschämung schienen daran gleichen Theil zu haben.

»O, ich bitte Euch, Sir Reginald,« rief Leonin – »würdigt mich als Euren Gast des Vertrauens, daß ich an allen Euren Beschäftigungen Antheil nehmen darf, und schenkt mir Eure Achtung, indem Ihr sie nicht durch meine Gegenwart unterbrechen laßt.«

Sir Reginald war um so geneigter, dieser Bitte nachzugeben, da er mit Theilnahme sah, wie sehr Fennimor durch seinen Einspruch außer Fassung gekommen war, und ihre rührend beschämten Züge den leichten Anfang hervorbrechender Thränen[153] andeuteten. »So wollen wir denn unsern neuen Gast ganz wie einen alten behandeln« – sagte er, mit dem Versuche zu scherzen, »und ich freue mich recht, in seiner lieben Gesellschaft eines Deiner schönen Gebete zu hören.« –

Fennimor nahm jetzt das Buch, das der Vater selbst hatte öffnen müssen, ihrer Verwirrung zu Hülfe kommend, und zeigte mit dem Finger auf das Blatt, wo sie beginnen sollte.

Zu Anfange bebte die Stimme des erschreckten Kindes, und jedes Wort fand nur unsicher seinen Ton; aber wie erstaunte Crecy, als er nun erst hörte, daß diese Gebete in französischer Sprache geschrieben waren und der Thomas a Kempis dasselbe Andachtsbuch war, das er in dem Betzimmer seiner Mutter zu finden pflegte. Fast kostete ihm diese Ueberraschung seine Andacht – hätte nicht der ernste und so melodische Ton dieser kindlichen Stimme ihn mit steigendem Entzücken an den heiligen Sinn von Worten gefesselt, die von Jugend auf sein Herz am meisten erbaut hatten. Die etwas gebrochene, unsichere Aussprache, die doch nie den Sinn verdarb oder über die Kenntniß der Leserin Zweifel erregte, schien ihm ein Zauber mehr; jugendlich-phantastisch überbot er in jedem Augenblick sein tieferregtes Gefühl, und zuletzt schien sie ihm ein Engel, der sich dem heil'gen schweren Dienste unterzog, unter Menschen die Lehre des Heils zu verbreiten, doch nur mit Mühe seine Engelslaute in ihre harte Sprachform fügend. – Als sie jetzt ruhig das Buch zuschlug, und mit gefalteten Händen zum leisen Nachgebete den Kopf über dasselbe senkte, daß die reichen braunen Locken wie ein Schleier niedersanken, und der ehrwürdige Greis mit seinem weißen Haupte und dem vollsten Ausdrucke väterlicher Liebe, seine Hand segnend auf sie legte, da beugte er, als habe der Engel sich ihm offenbart, in einer Art Anbetung das Knie neben ihr, und rief leise und bebend: »Wollet mich aufnehmen in die heilige Gemeinschaft Eures Lebens!«[154]

Die wahre Empfindung, wenn sie unverkümmert von den ewigen Rücksichten, die uns anerzogen werden, hervortritt, ist eine jedes Mal verständliche und fast immer siegende Sprache! – Sir Reginald legte ohne Bedenken seine andere Hand auf das gebeugte Haupt des Jünglings: »Gott segne Euch, junger Mann, mit einem unschuldigen Herzen bis ans Ende Eures Lebens!« – Da fiel, erschreckend, das Gebetbuch der Mutter, woraus sie so eben gelesen, von Fennimors Schooß auf die Erde, und alle Blumen und Kränzlein und zarten Bildchen, die darin gesammelt waren, flogen zerstreut umher. Beide knieten nun, und sammelten sorgsam und mit leichtem Finger diese Heiligthümer, und beschäftigten sich dann damit, sie an den Stellen wieder einzulegen, die Fennimor alle anzugeben wußte.

»Meine Mutter war aus Frankreich,« erwiederte sie auf die Anfrage Crecys über das Gebetbuch in seiner Sprache – »und dies war das Buch, worin sie täglich meinem Vater vorlas. Davon weiß ich freilich selbst nichts mehr, aber ich erlernte die Sprache, um später auch darin lesen zu können, und thue es nun alle Tage – darum« fuhr sie zögernd fort – »dachte ich auch heute, es dürfe nicht anders sein, denn Ihr werdet doch auch beten.«

»Ja, gewiß!« – rief Crecy bewegt, »und von Kindheit auf habe ich gerade aus diesem Buche gebetet, was immer in der Betkapelle meiner Mutter lag.«

»Vater,« rief Fennimor freudig, den fern Sitzenden in seinem Nachdenken störend, »seine Mutter betet auch aus diesem Buche, und er hat von Kindheit an keins lieber gehabt! – Sagt mir doch,« fuhr sie fort, als sie das freundliche Nicken des Vaters in Empfang genommen hatte, »von Eurer Mutter – sie ist wohl recht schön und sanft und gut?«

Leonin schwieg einen Augenblick, und wir können nicht läugnen, daß die Welt ihn nicht mehr unbefangen genug[155] gelassen hatte, um nicht in der Stille zu überlegen, daß dies schnell entworfene, vortheilhafte Bild seiner Mutter unmöglich entstehen konnte, ohne von dem Sohne und den ihm vielleicht von ihr beigelegten Eigenschaften die Farben zu leihen. – Aber versöhnend fügen wir hinzu, daß er dies ohne das kalte, beleidigende Trachten der Eitelkeit empfand. Ein heißes Gefühl durchströmte seine Brust bei der Hoffnung, sie sähe ihn so günstig an; ein Gefühl, das ihn nicht glauben ließ, es stehe ihm zu, es zu fordern. Doch mußte er während dieses berauschenden Gedankenlaufs sich bemühen, ihr zu antworten, und zuerst stand er etwas verwirrt vor dem Bilde seiner Mutter. »Sie ist schön, Miß Lester,« – erwiederte er zögernd, »aber sie ist meine Mutter, daher über den Anspruch der Jugend hinaus – ihr Geist und ihre Gaben sind sehr groß, und sie ist von Geburt eine Fürstin Soubise.«

»Das freut mich!« erwiederte Fennimor freundlich – »ich habe gern so vornehme, schöne Menschen, die so recht eigentlich zu den hohen Bäumen und breiten Strömen und den mächtigen Thieren passen, wie Gott es gewollt hat, als ihre Beherrscher. Alle sind nicht so, aber sie haben auch ihren Platz – Gott hat ja auch die kleinen Würmer geschaffen – man kann dies Alles lieb haben« – setzte sie hinzu, aus ihrem biblischen Pathos zu der Heiterkeit einer kindlichen Spielerei übergehend, und sprang fröhlich auf, um die Thüren nach dem Walde zu öffnen.

In Gedanken vertieft, blieb Crecy auf seinem Platze sitzen und blickte ihr nach, als sähe er ein Wunder, was er zu ergründen vergeblich trachtete. Als er aufsah, begegnete er den Blicken des Vaters, der ihn mit einem eigenen Ausdrucke milder, ernster Wehmuth betrachtete. – Crecy entzog sich diesem sanften Forschen nicht, ja wünschte fast, ein Anderer durchdränge sein seltsam überfülltes und bewegtes Innere. Er stand auf und nahte sich dem edlen Greise, der ihn still erwartete, und als er[156] vor ihn trat, schwiegen dennoch Beide. Zwischen ihnen stand eine Ahnung, und sie wußten nicht, ob diese, Gestalt gewinnend, sie trennen oder vereinigen würde.

Der Abend war indessen herabgesunken – einzelne glühende Lichtstreifen drängten sich durch den Wald und hafteten mit ihrem Purpurlichte an den Säulenstämmen der hohen Buchen, oder zogen glänzende Furchen über den duftenden Rasen.

»Seht,« sagte plötzlich das zurückkehrende Mädchen, zu beiden Männern tretend – »in Eurem Walde in Frankreich, da wird, wenn er Euch erst ganz gehört und kein Schuß mehr fällt, um diese Stunde das Wild spazieren gehen und sich seines Lebens freuen; hier ist Alles leer und verscheucht von der wilden Jagd. – Aber wir,« setzte sie sanft, fast furchtsam hinzu – »wir könnten jetzt spazieren gehen?« Sie hatte das ihrem Vater gesagt, und er richtete sich sogleich mit milder Freundlichkeit in seinem Stuhle auf; doch sah Crecy deutlich, wie er einen schwermüthigen Anklang in seiner Seele beherrschen mußte. »Du hast Recht, Fennimor,« sprach er, zum Weggehen ihre Hand fassend, »und da wir unsern Gast nicht länger seinem Wirthe entziehen dürfen, so wollen wir ihn den schönsten Weg durch den Park dem Schlosse zuführen.«

Leonin fühlte erst jetzt, was er gänzlich vergessen hatte, wo und bei wem er hingehöre. Er schien sich heute erst angekommen, heute erst an der rechten Stelle, und jenes Schloß mit seinen Bewohnern lag so weit ab und war in eine solche Fremdheit zu ihm getreten, daß er seiner ganzen Besonnenheit bedurfte, um sich zu überzeugen, er müßte dahin zurück. Doch nicht eher trennte er sich von seinen neuen Freunden, als bis sie ihm beide erlaubt, am andern Tage wieder zu kommen, und er kehrte nun in Schloß Stirlings ein, aber ein anderer Mensch, als er es verlassen hatte.
[157]

Beinahe zaghaft näherte sich Leonin den Gesellschaftszimmern, in denen er sein Ausbleiben bemerkt und sich den Fragen der guthmüthigen Familie ausgesetzt fürchten mußte, die eben jetzt zu beantworten, ihm unbeschreiblich lästig schien.

Doch er fand schon in den Gängen und Vorzimmern unter den Domestiken eine ungewöhnliche eilfertige Unruhe, und erfuhr von dem etwas langsamer daherschreitenden alten Haushofmeister, daß die Frau Gräfin eine Botschaft aus Edinburg von ihrer, wie zu fürchten stehe, sterbenden Frau Mutter erhalten habe, daß sie sogleich mit ihren Töchtern dahin abreisen werde, wogegen Se. Herrlichkeit der Graf Gersey bei den versammelten Gästen in Stirlings-Bai bleiben würde, die nächsten Nachrichten von seiner Gemahlin hierselbst abwartend.

Leonin konnte nun selbst fragend und anredend eintreten, und die Theilnahme, die er empfänglich war zu fühlen, setzte ihn in die richtige Stimmung zu seinen gütigen Wirthen.

Milady Gersey mit ihren Töchtern waren schon in Reisekleidern in dem Kreise der Gäste, die Anmeldung der Wagen erwartend.

Tief bekümmert über den möglichen Verlust ihrer nahen Verwandten, hatten die guten Menschen doch auch die sorgsamsten Gedanken für ihre zurückbleibenden Gäste, und indem sie alle einzeln baten, Stirlings-Bai nicht zu verlassen, sondern dem bekümmerten Grafen beizustehen, wollten sie noch für die besonderen Wünsche eines Jeden liebreich sich bemühen; und besonders an Leonin richteten sich die guthmüthigsten Vorschläge und Besorgnisse sogar für die Annehmlichkeit seiner Lage, da die Frau Marschallin von Crecy und ihr Wunsch in Bezug auf diesen Sohn, dieselbe zu einer besonderen Verpflichtung für sie gemacht hatte.

Niemals war Leonin vielleicht weniger um seine Unterhaltung besorgt, als eben jetzt, und die freundliche Art, wie[158] er sie darüber beruhigte, machte ihn liebenswürdiger erscheinen, als sie ihn bisher erkannt hatten, und endlich stellte das freudig geleistete Versprechen, Stirlings-Bai vor der anberaumten Zeit nicht zu verlassen, sie gänzlich um ihn in Ruhe.

Von allen Anwesenden bis an ihre Kutschen begleitet, setzte sich endlich der schwerfällige Reisezug in Bewegung. – Leonin hatte hier Gelegenheit wahrzunehmen, wie wahrhafte Güte des Herzens in entscheidenden Lebensmomenten den Mangel einer höheren Bildung, die das tägliche Leben mit seinen kleinen Anforderungen oft so drückend vermissen läßt, ausreichend zu ersetzen vermag, und wie in solchen Augenblicken das unverdorbene Herz den sanftesten, zartesten Rath zu Anderer Hülfe und Trost zu geben vermag.

Diese rauhen Jäger waren alle so still und ehrerbietig gegen die sonst wenig beachteten Frauen geworden; sie blieben nach ihrer Abreise so still bei dem nachdenkendern Hausherrn versammelt, und ernstere Beziehungen ihrer gegenseitigen Verhältnisse kamen zur Sprache und hemmten das wüste Geschwätz lächerlicher Jagdlügen, womit sie sonst einander zu ärgern trachteten und oft zu heftigen, rohen Scenen Veranlassung gaben. Zum ersten Male fiel es dem jungen Grafen leicht, unter ihnen zu bleiben und an ihrem Gespräche Theil zu nehmen. Er benutzte noch denselben Abend, als die Gesellschaft sich getrennt hatte, diese ihm bisher so fremde Stimmung seiner Mutter zu schreiben, und das ganze Bild, das er von seinem Leben entwarf, und was nur zu erwähnen, ihm bisher der Ueberdruß daran unmöglich gemacht hatte, trug einen überraschenden Ausdruck glückseliger Heiterkeit, vollständiger Befriedigung.

Wohin unser junger Freund am andern Morgen seine Schritte lenkte, brauchen wir kaum zu erwähnen. Bald kannte er keinen andern Weg als diesen. Ehe die Sonne hoch genug stand, den Thau von dem Moose des Waldes zu trocknen,[159] umschlich er schon den Fuß der Abtei und beobachtete mit anbetendem Entzücken die tanzenden Lichter, die die Fenster zu liebkosen schienen, hinter denen noch Fennimors jugendliches Haupt in holden Träumen ruhte. – Mit leisen Schritten betrat er den Weg, der zu der Thür des Wohngemaches führte, und prüfte das weiche Moos unter seinen Füßen, ob der leichte Wind, der die Wipfel der Buchen grüßend berührte, auch nicht ein dürres Aestchen, ein welkes Blatt auf den Weg gestreut, den bald ihr zarter Fuß betreten sollte. Zu den Gewächsen, die das Fenster spielend umzogen, blickte er wie zu Begünstigten auf, die bleiben konnten, wo sie war; er betrachtete sie, als wolle er sich ihre Liebe erwerben, er schlang die vom Zufalle verschobenen Ranken um ihre Stäbchen, er suchte die abgestorbenen Blätter und Zweige hervor, und bog die befreiten Keime gegen das Licht; und die Blumen, die er ihr jeden Morgen brachte, ob der Thau sie nicht zu sehr näßte, ob die Sonne nicht ihren Duft früher nähme, als sie ihn eingesogen, wie viel Gedanken und Ueberlegungen machte ihm das! Hatte er sie endlich gebettet an gesichertem Ort und sich überzeugt, er dürfe sie noch nicht erwarten, so kam er sich wie ein Held, groß und entschlossen vor, wenn er abwärts von ihrer Schwelle noch eine Wanderung durch den Park versuchte.

Gehoben nun, wie sein ganzer Zustand es war, traten seine Gedanken zu Entschlüssen hervor. Seiner nahen Majorennität freute er sich besonders, und leicht hätte er das, was er sich selbst nicht eingestand, eben aus diesem Gefühle errathen; denn nichts war ihm bis dahin gleichgültiger gewesen, als eben diese Majorennität. Mit allen Vorzügen des Reichthums immer ausgestattet, hatte eine Vermehrung dieses sorglosen Besitzes, womit zugleich eine Verwaltung desselben die bequeme Ruhe des bisherigen Lebens bedrohte, sehr wenig Reiz für ihn gehabt, und er hatte alles, was seine ihn immer in Probe nehmende[160] Mutter hervorbrachte, ihn darüber auszuforschen, stets mit ablehnender Gleichgültigkeit zurück gewiesen. Die umsichtige und herrschsüchtige Frau konnte ihre sparsamen Gefühle höchstens nur auf die Liebe der Blutsverwandten ausdehnen; doch auch hier nur ihrem Karakter getreu, indem sie ihre Klugheit und Lebenserfahrung geltend machte, ihre Ansichten von Glück und Wohlbefinden ihnen entweder mit dem vollen Umgestüme des Zürnens, oder dem langsamen Wirken übler Laune und kleiner heimlicher Ränke aufzunöthigen. – Sie erlaubte sich jedes Mittel, ohne die kleinste Unruhe ihres Gewissens, da sie durch ihr stolzes Selbstgefühl beständig in der sichern Ueberzeugung gehalten ward, das Wohl des Andern zu wollen, nämlich: was sie dafür hielt, und was annehmbar zu machen, ihrer finsteren uneingestandenen Herrschaft schmeichelte.

Ueber ein so weiches, zur Unthätigkeit geneigtes Gemüth, wie das Leonin's, die Herrschaft zu führen, schien sie sich nun vollständig berufen, und indem sie ihm damit das Leben, das seiner träumerischen Seele leicht zu schwer ward, so bequem als möglich machte, fühlte sie sich ihres Einflusses vollkommen gesichert. Aber sie hatte von den schönen Keimen seiner Seele, die von einer sich selbst nicht suchenden Liebe verstanden und gepflegt worden wären, und durch ein ehrendes Schonen und liebevolle Ermunterung erstarkt sein würden, auch keine Ahnung – ja, ihr Verfahren hatte bereits genug in ihm zerstört, was sie stets in den platten, breiten Ansichten erledigt fand, er sei zu gut fürs Leben, er müsse stets dagegen gewarnt, geschützt und eingehüllt bleiben.

Diesen Frevel, der an ihm begangen ward und ihn verhinderte, sich zum Manne zu entwickeln, wollen wir in unsern Gedanken fest halten, wenn wir ihn auf der Bahn seines Lebens begleiten müssen und wünschen werden, ihn halten oder stützen zu können gegen die Gewalt eines herrschsüchtigen Weibes, die[161] aus selbstsüchtiger Liebe seinen Geist unterdrücket, und sein Herz gegen Menschen und Verhältnisse in Zweideutigkeit verstrickte. –

Was er jetzt empfand und zur natürlichen Entwickelung kam, da er außer dem Bereich ihres Einflusses lebte, erfaßte ihn wie ein neuer Strom des Blutes. Er genoß zuerst den Zauber, der die Seele des Mannes aus der Knospe hervorbrechen läßt und alle Kräfte als Diener herbei ruft, den heiligen Zauber, ein weibliches Wesen im zärtlichen Glauben an seine Kraft und im Gefühl der eigenen Schwäche sich ihm vertrauen zu sehen, als habe damit jede Furcht auf Erden ihr Ziel erreicht. Wer hatte bisher von ihm gewollt und gesucht, was Fennimor nicht zweifelte zu finden, wer hatte ihm dies völlige Gefühl der Männlichkeit gegönnt, wer ihn zu einem freieren Hervortreten seiner Kräfte und Fähigkeiten genöthigt – durch die Anforderungen echt weiblicher vertrauender Liebe! Es konnte nicht fehlen, daß er, der alten Fesseln entledigt, sich seiner, auf eine ihm selbst überraschende Weise, bewußt ward. Im Verlaufe dieses Bewußtseins drängte sich ihm auch eine Wahrnehmung für die Außenwelt und seine bisherigen Verhältnisse auf, und dies mochte ihn zu mancher noch nie gewagten Betrachtung führen.

Diesen hochgebildeten Naturmenschen gegenüber glaubte er jetzt erst das Leben in seiner Wahrheit zu erkennen; und wie Sir Reginald jene andere Welt in den Städten, an den Höfen, die man Leonin bisher dafür ausgegeben, vergessen hatte, Fennimor sie nie gekannt, so war es auch natürlich, daß Beide niemals auf die Schwierigkeiten verfallen konnten, die sich ihm zum Gegensatze ihrer Welt und der von ihm gekannten aufnöthigten, und daß diese endlich von ihm selbst nur noch mit dem Entschlusse betrachtet wurden, sie gering zu achten, da er hier den Inhalt einer Existenz kennen lernte, edel und ausreichend vor Gott, und doch fremd jenem ganzen Treiben berechnender[162] Klugheit. Aber es geschah ihm auch zuerst, daß er über das vorzüglichste ihn bis jetzt leitende Prinzip, über seine Mutter, nachdachte, und daß er den Widerspruch erkennen lernte, in den er durch die eigene entschiedene Umwandlung seines Wesens, von der er sich das Eingeständniß machen mußte, zu dieser unveränderlichen Frau getreten war. Er wollte nur noch Fennimor, und mit ihr Ste. Roche bewohnen, und er wußte genau, seine Mutter würde entschieden das Gegentheil wollen – er wußte, sie wolle ihn an dem glänzenden geistreichen Hofe des Königs sehen, vermählt mit einer Dame, deren Name durch Alter und Ansehn dem seinigen gleich käme. Er fühlte, er habe zu diesen Plänen seine Mutter berechtigt; denn auch er hatte früher nie eine andere Wendung seines Lebens für möglich geachtet, und sei es Ueberredung, sei es der ihm angeborne Geburtsstolz, nie hatte er den Gedanken, seine künftige Gemahlin anders, als in den höchsten Regionen des Hofes zu suchen, für möglich gehalten.

Er war noch jung genug, um der erfahrenen Entwickelung mit Enthusiasmus sich hinzugeben und sich im vollkommenen Rechte mit diesen Empfindungen zu fühlen, da sie ihn edler, menschlicher, hochherziger stimmten, als Alles, was er bis dahin empfunden. Wenn er so in der heißen Sehnsucht nach Fennimor's ihm nur wenige Stunden entzogenem Anbicke, in der Frühe den Wald durchstreifte, regte sich eine Fülle guter Gedanken und Beschlüsse in ihm, gemäß den Ansichten, die seine neuen Freunde ahnungslos durch Worte und Handlungen erweckt hatten. Sie waren eine Sonde für Leonin's Herz, die ihm fühlen ließ, wie weit es gesund geblieben war unter der Hand der klugen Fürstin Soubise, die jeden höheren Athemzug in ihn zurückdrängte mit der Warnung: der bösen Welt nie zu vertrauen, nie offen sich ihr zu zeigen. Jetzt war der Muth erwacht, sich ihr offen zu zeigen, und dessen fühlte er sich froh.[163] Er hoffte seiner Mutter zu beweisen, wie man ein freier, offener Mensch sein, und doch der hohen Würde, wozu die Geburt berufen, Ehre machen könne. Ste. Roche, wohin er am liebsten dachte, Fennimor's heilige Ruhe hier am besten gesichert haltend, Ste. Roche sollte ein Paradies werden! Nicht allein die schlanken Bewohner der Wälder sollten ungestört auf den reichen Weideplätzen umher wandeln – jedes Wesen, das ihm gehörte, sollte Ruhe, Glück und Sicherheit durch ihn finden. – Was Reichthum war, verstand er erst, seitdem er gesehen, wie ernst und verständig Vater und Tochter, was sie übrig zu haben glaubten, mit denen theilten, die weniger hatten, und sein Herz jauchzte, wenn er dachte, daß er an einem Tage mehr besaß, als Fennimor im ganzen Jahr erübrigte. Ihr diesen Reichthum zu Füßen zu schütten, ihr freudiges Erstaunen, ihr himmlisches Lächeln zu sehen, und wie sie sich mit diesem Reichthume aufrichten werde, und wie eine Königin durch seine Unterthanen gehen, und helfen, und retten, und Segen spenden mit klugen, ernsten Gedanken und strenger Mahnung, und süßer kindlicher Hingebung und Heiterkeit. Was konnte ihm die Welt gegen eine solche Aussicht auf Glück bieten, auf ein Glück, von dem er sich veredelt fühlte bei dem bloßen Gedanken daran! –

Schon längst kannten Sir Reginald Lester und Fennimor die Pläne, welche Crecy's Liebe für die Zukunft geschaffen, und wenn Fennimor, kein Hinderniß ahnend, in sorgloser Freude das Glück ihrer Liebe genoß, so sehen wir Sir Reginald mit mehr Hingebung an die Wünsche der Liebenden sich anschließen, als bei seinem reiferen Alter zu erwarten stand, wenn nicht eben lange Zurückgezogenheit von der Welt ihn zum Fremdling darin gemacht, und die Erinnerung aus seiner Jugend, die ihn allerdings in manche Beziehungen zu den Vorurtheilen und Rücksichten höherer Stände geführt, doch ihm keine Befürchtungen[164] für Frankreich gaben, was er unterschieden in seinen Ansichten von England wähnte, und Crecy's Bestätigungen leichten Glauben verschafften.

Den ungestörten Umgang der so schnell Vereinten hatten die Ereignisse auf dem Schlosse Stirlings besonders begünstigt.

Die Mutter der Gräfin Gersey war gestorben, und der Graf, ihr Gemahl, hatte sich, der tiefen Trauer wegen, genöthigt gesehen, seine heitere Gesellschaft zu entlassen, und seinen Aufenthalt abwechselnd in Edinburg zu nehmen, da die zu machende Erbschaft seine Gegenwart ebenso, wie die der übrigen Verwandten nöthig machte.

Den jungen Grafen von Crecy wünschte er allerdings, dem früheren Uebereinkommen mit seiner Mutter gemäß, bei sich fest zu halten; nur schien es ihm nicht wahrscheinlich, daß der junge Mann, der schon so wenig Vergnügen zu haben schien, als das Schloß noch der Wohnsitz der Heiterkeit und Geselligkeit war, jetzt zu halten sein werde, wo er die einzige Person zu seiner Gesellschaft war und jene Familien-Angelegenheiten auch ihn zu Zeiten wegriefen. Er schlug ihm daher vor, mit ihm Edinburg zu besuchen, und außer dem Trauerhause dort Vergnügen und Zerstreuung zu suchen.

Das war natürlich ganz gegen die Neigung des jungen Grafen, und er bat es sich aus, in Stirlings-Bai in der größten Einsamkeit die anberaumte Zeit verleben zu dürfen, indem er die gemachte Bekanntschaft mit dem Geistlichen eingestand, und damit des Grafen Besorgnisse für den Mangel aller Geselligkeit zerstreute, da auch er für Sir Reginald eine große Hochachtung hegte.

Keinesweges war die Marschallin von Crecy so schnell zu beruhigen. Sie hatte den Brief ihres Sohnes empfangen, dessen wir bereits gedacht, und augenblicklich erkannt, ihm müsse ein ganz besonderer Eindruck gekommen sein, den sie unmöglich seinen[165] Hausgenossen zuschreiben konnte und daher unter den Gästen suchen mußte, von deren Anwesenheit dieser Brief sie unterrichtete. Noch zögerte sie gegen sich selbst mit dem gefürchteten Geständnisse, dies könne ein Herzenseindruck sein; denn sicher gemacht durch die bloße galante Neigung ihres Sohnes zu Frauen, hatte sie sich der Hoffnung überlassen, Alles, was er darüber zu erfahren nöthig habe, werde er dereinst auch durch sie empfangen, durch die ihm von ihr bestimmte Gattin.

Sie war zu kalt, zu sehr Weltfrau, um großen Werth auf eine mögliche unzeitige Herzensaffektion ihres Sohnes zu legen, im stolzen Selbstvertrauen sich überzeugt haltend, sie würde niemals ihren Plänen für die Zukunft entgegen treten können – aber dennoch berührte es sie unheimlich, als ein neuer Beweis, wie viel Selbstständiges sich in ihm zu entwickeln begönne; und ihr Antwortschreiben war so eingerichtet, ihm zu genaueren Mittheilungen Veranlassung zu geben, da sie näher kennen wollte, was geschehen, ehe sie einschritte. – Auch gelang ihr dies vollkommen; denn Leonin, entzückt von dem milden mütterlichen Tone dieses Briefes, legte ihr nun seine Pläne für die Zukunft dar, indem er sich unbefangen über den Werth seiner zu erwartenden Besitzungen freute, und seine Absicht aussprach, auf Ste. Roche fürs Erste zu leben, und dort Wohlthaten und Verbesserungen jeder Art zu häufen. Er fügte mit kindlicher Zärtlichkeit hinzu: wie er dann hoffe, auch sie werde dort gern weilen, wenn er ihr eine Tochter zuführen könnte, ihrer würdig, und mit ihm vereint bemüht, ihr das Leben zu erheitern.

Zwar hielt ihn eine ahnungsvolle Scheu zurück hinzuzufügen, wie weit er mit dieser letzten Zusicherung selbst sorgend gekommen war, aber dies war auch für die Fürsten Soubise nicht nöthig, denn sie hatte genug vernommen, um zu wissen, ihr Sohn habe ohne sie eine Lebensgefährtin gewählt, genug, um plötzlich aus ihrer Sicherheit über ihn zu erwachen, genug[166] um die Kräfte ihres intriguanten Geistes herbei zu rufen, denn dieser Mutter konnte nur einfallen, um jeden Preis zu hindern, was sie nicht beschlossen; Bedenklichkeiten bei solchen Schritten waren ihr fremd, weil sie Niemand so liebte oder achtete, um auf dessen Wünsche oder Ansichten, den geringsten Werth zu legen.

Nur auf welche Weise sie hier am zweckmäßigsten einschritte, blieb ihr ungewiß. Doch ihre Unruhe, ihre Ueberraschung und ihr Schrecken sollte noch steigen, als sie sich endlich entschlossen hatte, ganz absichtslos erscheinend, die Veränderung in der Gersey'schen Familie zu einer schnelleren Zurückberufung ihres Sohnes zu benutzen, ihm ihr Bedauern ausdrückend, daß ihr Wunsch ihn an einen Ort habe fesseln müssen, der so wenig Reiz für ihn haben könne, und wie sie ihm ihr Schloß Moncay bei Paris anböte, wohin sie sich mit seinem Vater zu seinem Empfange begeben wollte, wenn er bis zu seiner Majorennität vorzöge, vom Hofe entfernt zu leben.

Leonin's Antwort überhüpfte leichten Fußes den ganzen schwerfälligen Inhalt dieses wohlberechneten Briefes, und wie ein Schäfer an seine Geliebte, antwortete er heiter und in glückseliger Laune scherzend, wie Stirlings-Bai nichts Abschreckendes für ihn habe, und die herrlichen Wälder, die reizenden Thäler in der Zauberluft des Herbstes zu durchstreifen, ihm einen Genuß gewährte, womit er nichts zu vergleichen wüßte, und der Gedanke, damit zugleich ihre früheren mütterlichen Wünsche zu erfüllen, ihn entschlossen machte, hier genau so lange zu bleiben, daß ihm blos Zeit bliebe, zu dem nothwendigen Augenblicke seiner Majorennitätserklärung in Paris einzutreffen.

»Also, er faßt eigene Entschlüsse!« rief die Marschallin, als sie diesen leichten, spielenden Brief gelesen hatte – und ganz überwältigt von dieser Vorstellung, blieb sie in ihrem Stuhle sitzen, unfähig sich zu fassen.[167]

»Und zurück muß er dennoch!« fuhr sie, sich emporringend, fort, »zurück muß er, und ich muß erfahren, was ihn dort zu fesseln vermochte!« –

Ihr langes Nachdenken gab ihr, wie immer, die Mittel an die Hand, die sie zu ihren Zwecken bedurfte, und leider ließ es sie jetzt ein zu jeder That bereites Individuum wählen, dessen erprobte Theilnahme in allen Fällen ihr dasselbe zu einem Freunde erkoren hatte, den Begriffen von Freundschaft gemäß, die zwei solche Menschen nähren konnten.

In dem Hause der Marschallin von Crecy lebte ein junger Mann, den Alle Marquis de Souvré nannten. Seine Erziehung war in dem Kollegium zu Clermont geleitet worden und jedenfalls auf größere Ansprüche berechtigt gewesen, als der frühe Tod beider Aeltern und ein zerrüttet befundenes Vermögen später zuließen. Diese Täuschung, die er in einem Alter erfuhr, wo er mit dem ganzen Uebermuthe eines hochmüthigen und sinnlichen Charakters dem Leben schon jeden materiellen Genuß abgefragt, und von der Magie des Reichthums eine um so höhere Idee gefaßt hatte, als er gefunden, wie sie am leichtesten die Wege des Lasters verdecke, erfüllte ihn mit der bittersten Empörung gegen ein Loos, das ihm nur noch eine sparsame Revenue und ein dadurch heruntergekommenes Ansehn in seiner ganzen gesellschaftlichen Stellung übrig ließ, Er grollte der ganzen Welt, die ihm begünstigter schien, als er es war; er grollte namentlich dem ganzen Kreise, in dem er als reicher Marquis mit dem vollsten Uebermuth solcher Vorrechte gelebt, und welcher ihn jetzt mit mitleidiger Gleichgültigkeit oder höhnisch verrathener Freude von einem Platze verdrängt sah, den er mit so viel Anmaßung eingenommen hatte; und er überwand nur den bittern Schmerz dieser Demüthigung, um sich der Mittel in seinem listigen Geiste bewußt zu werden, die ihn ohne das Erforderniß seiner bisherigen Unterstützungen zum Herrn seiner Feinde machen sollte.[168]

Wir hoffen, unsere Leser erlassen uns gern die Verfolgung des geheimen Lebens eines Mannes, das er selbst mit der höchsten Feinheit seinen nächsten Umgebungen zu entziehen wußte. Sein Hauptgrundsatz war: Niemandem sei Vertrauen zu schenken und das Vertrauen Aller zu erringen. Er setzte sich in den Besitz aller Geheimnisse, aller Angelegenheiten, die nur entfernt das Eigenthum der Personen waren, mit denen er leben wollte, oder die ihm behülflich werden mußten zu seinen Zwecken. Trotz seiner Jugend hatte er beständig ein ernstes, kaltes und abgemessenes Wesen, er schien nur gezwungen sich dem Vertrauen Anderer hinzugeben, und indem er immer ablehnend war, fesselte er gerade das Interesse, zog dadurch an und schien eine größere Sicherheit zu versprechen. Es war leicht zu bemerken, wie er gelegentlich, gleichsam zufällig, anzudeuten wußte, wie ihm Geheimnisse und Verhältnisse der höchsten Personen bekannt waren, die er sich doch sehr wohl hütete aufzudecken, wenn sie ihm den Dienst geleistet, ihn da, wo er es brauchte, wichtig erscheinen zu lassen; er hatte sich dadurch auch das für ihn höchst belohnende Gefühl verschafft, gefürchtet zu sein, und hiermit den Platz errungen, der ihn allein über den Verlust seiner früheren Verhältnisse zu trösten vermochte.

Durch seine Mutter war er der Marschallin von Crecy verwandt und derselben bei ihrem Tode dringend empfohlen. Nicht lange betrat er dies Haus, ohne das ganze Terrain darin mit Ueberlegenheit zu überschauen, und es höchst bequem zu finden für seine Neigungen. Den Marschall ließ er bald mit einem mitleidigen Lächeln, als gänzlich der Beachtung unwerth, bei Seite, da er schnell erkannte, er habe in seinem eigenen Hause, wie im Staate nur noch den Platz eines zur Ruhe gesetzten Invaliden. Schärfer faßte er die Marschallin auf, die in der That keine schnelle Beute fremder Willkür werden konnte – aber,[169] sie hatte ja Schwächen in Fülle – ihr Hochmuth, ihr Ehrgeiz, der sie gegen Beherrschung schützen sollte, mußte sie gerade diesem gewandten Machinisten in die Hände spielen, und er hatte ihr Vertrauen, ehe sie es ahnete, er änderte und beherrschte schon ihre Pläne, als sie noch glaubte, sie brauche ihn nur gelegentlich, die ihrigen zu fördern.

Vom ersten Augenblicke an haßte er Leonin. – Dies sorglose, weiche Kind des Glückes, das so wenig die unermeßlichen Vorzüge von Rang und Vermögen zu schätzen, ja, sie ihm so wenig zu verdienen schien, gering mit den Eigenschaften ausgestattet, die ihm allein wichtig waren und ihn verächtlich von den Vorzügen denken ließen, die Leonin als Ersatz glänzender Geistesfähigkeiten besaß. Dies Wesen, das in dem ruhigsten Gleichmuthe und der größten Sicherheit sein sorgloses Leben genoß, und spielend den Reichthum verbrauchte, als könne es gar nicht anders sein, nach dessen Besitz in ihm die ungemessenste Begierde glühte, erfüllte ihn mit einem so heftigen Neide, mit einem so bitteren Hasse, daß das Haus der Marschallin für ihn einen Reiz bekam, den ihm kein anderes Gefühl mehr gewährte. Daß Leonin sich ihm anschloß – brüderlich und mit der großmüthigsten Hingebung ihn jeden Vorzug dieser Lage fast zu theilen zwang, versöhnte ihn nicht, und er ertrug nur seine Gesellschaft, um ihn zu verachten und, wo möglich, zu lehren, daß sein Glück zu erschüttern sei. Schon wünschte er dazu die Reise des jungen Grafen mitzumachen; aber zu stolz, deshalb gefügige Schritte zu thun, sah er auch zu bald ein, wie der gute Abbate Mafei ihm wohl nicht ganz traute und Alles that, sich diesen Gefährten entfernt zu halten. Er blieb daher in der ruhigen Sicherheit, sein bezeichnetes Opfer dennoch gewiß zu haben, bei der Marschallin zurück, entschlossen, hier indessen so viel Boden zu gewinnen, daß er fest stehe bei der Rückkehr des sorglosen Glückskindes.[170]

Es war der Marquis de Souvré, den die Marschallin herbeirufen ließ, und bald sah er sich in dem ganzen Vertrauen der besorgten Mutter.

Wie immer, gab er halb zu, was sie sagte, um desto besser sie zu seiner Meinung überführen zu können, und indem er sie noch ruhig sprechen ließ, sagte sie ihm schon nichts mehr, als was er zu hören wünschte. Mit der größten Sprödigkeit nahm er ihre Bitten auf, selbst nach Schottland zu gehen und ihres Sohnes Lage dort nicht allein zu erforschen, sondern ihn frei zu machen und so schnell, als möglich, zurück zu führen. Erst, als seine Eiwilligung ihr die höchste Gunst der Freundschaft schien, gab er sie und erndtete von einer Frau, die nie dankte, nie das Ansehn haben wollte verpflichtet zu sein, nun den vollsten Ausdruck von Beidem. –

Wir wenden uns vorläufig gern von einem Zustande der Seele ab, wie der war, mit dem der Marquis plötzlich die Wege vor sich offen sah, auf die er fast getrieben ward, mit der sicheren Hoffnung, dem heiß beneideten Jünglinge seine äußeren Vorzüge zu verleiden, da er es nicht vermochte, sie ihm zu rauben. Wir werden ihn leider wiederfinden, und kehren zu der Unschulds-Welt zurück, die wir also bedroht wissen.

Das tägliche, ungestörte Beisammensein einiger Wochen hatte eine genauere, innigere Annäherung zugelassen, als in dem Geräusche der Welt oft Jahre vermögen. Leonin hatte die Vollendung des Sprachunterrichts übernommen, den Fennimor von ihrem englischen Vater nur bis auf einen gewissen Punkt erhalten konnte, und Fennimor hatte dagegen ihm ihre alten Legenden und Geschichtsbücher, vor allen aber ihre Bibel vorgetragen, worin sie ihn zu ihrem Erstaunen höchst unwissend fand, und welchen Uebelstand sie durch ihren ernsten Eifer, und indem sie bei ihm alle Regeln des Unterrichts anwendete, durch die sie selbst geleitet worden war, jetzt für immer zu heben hoffte.[171] Wir wollen nicht untersuchen, wie lange der Ernst solcher Studien jeden Tag anhielt, welche Rolle der Wald, die Blumen, die Vögel und alle die tausend lieblichen Kindereien dazwischen spielten, womit Fennimor ihre Einsamkeit bisher geschmückt, und die nun alle Leonin so wohl bekannt waren, als ihr selbst: gewiß bleibt es, daß der unverwandt sie anblickende Schüler oft kein Wort mehr von den alterthümlichen Figuren hörte, die sie mit dem vollen Eifer ihres Glaubens daran ihm einzuprägen suchte – blos noch das himmlische, von Locken, wie von einer Glorie, umsäumte Antlitz betrachtend, das so ernst, so glühend von ihrer Anstrengung, mit den leuchtenden Augen den schlanken Finger verfolgte, der über die vergelbten Blätter Leonin als Wegweiser dienen sollte.

»Du giebst wieder nicht Acht!« rief sie dann plötzlich, Alles merkend, »und sollst Du es nachher ohne das Buch wissen, dann ist die Arbeit umsonst gewesen.«

Aber schon mußte sie, selbst lachend, die Augen von seinem lachenden Gesichte abwenden, und wenn er dann die strenge Hand, die ihm drohen wollte, einfing, fiel ihr auch bald allerlei liebes Geschwätz ein, was nicht auf dem alten Pergamente stand. – Es blieb Leonin kein Geheimniß in dieser Seele, deren ganzes Bewußtsein ein redendes Mittheilen an ihn geworden war, und wie sie sich erweckt und belebt fühlte durch diese Hingebung und den ganzen Zauber dieser reinen und tiefen Liebe, so strömten in ihrer reichen Seele nur jeden Tag neue Entwickelungen hervor, an denen sie sich kindlich erfreute, sie alle dem Geliebten dankend.

Unser Gefühl hält uns zurück, den hinreichend durch unsere Mittheilungen dargelegten Zustand der beiden Glücklichen zu umschleichen; dennoch werden wir dies Gefühl in allen seinen Stadien andeutend verfolgen müssen, da es fortan die Atmosphäre oder das Schicksal dieser so innig sich gehörenden Wesen bildet, und ihr ganzes Leben gestaltet und bestimmt.[172]

Schon nahte sich die Zeit, die Leonin als die seiner Abreise angesetzt hatte, und er, wie Fennimor gingen ihr mit so bangem, beklommenem Herzen entgegen, als stehe ein Gewitter über Beider Haupt. Keiner wagte den Andern daran zu erinnern, aber Beide verstanden die bange Furcht ihrer Herzen, und wenn Fennimor sich plötzlich, weinend wie ein Kind, an seine Brust warf, frug er sie nicht, warum sie weine, und ließ auch den Thränen seiner eigenen Augen freien Lauf, denn er schämte sich dieses treuen Mitgefühls nicht.

Was dabei Crecy's Besorgnisse noch mehr erregte, als selbst Fennimors unerfahrenes Herz es auffaßte, war das sichtliche Abnehmen der Lebenskräfte des ehrwürdigen Sir Reginald. Diesem kindlichen Greise, der seit einigen vierzig Jahren die Wälder von Stir lings-Bai und ihre nächsten Umgebungen nicht mehr verlassen hatte – dessen Erinnerungen bis auf das Leben mit seiner Gattin erblaßt waren, der die großen Umwälzungen, die die Welt indessen erlitten, nur wie ein Schattenspiel ohne ihre wahren Farben, ohne von ihrem Einflusse berührt zu werden, an sich hatte vorübergehen lassen, der vom Leben sich so leise, so mild abgelöst, daß er nur, um Fennimor Gesellschaft zu leisten und ihre Existenz unangerührt zu lassen, das Leben fest gehalten hatte als eine noch nicht gelöste Aufgabe – ihm sank mit jedem Tage, jetzt, wo Fennimor ein neues Dasein ergriffen, das er kindlich unwissend durch Crecy's Herz für gesichert hielt, die Lebenssonne tiefer herab. Er fühlte in sich schon den Tag nahen, wo sie ihm versinken würde, und seine Züge trugen das Lächeln der Verklärung, wie einen liebevollen Trost, um die bleichere eingesunkenere Wange. Schon nahmen die sanften Laute der brechenden Stimme bei jeder liebevollen Anrede Abschied von dem Lebenden, und Crecy sah mit tausend bangen Gedanken, wie die schwankenden Schritte verriethen, daß die ehrwürdige Gestalt sich nicht mehr aufrecht zu tragen vermochte,[173] und die weißen Locken dem müden Haupte nach über die Brust zusammen fielen.

Fennimor sah die Veränderung ihres Vaters, aber sie kannte den Tod nicht, sie hatte noch nie daran gedacht, ihr Vater könne sterben, und so hatte sie immer eine neue Erklärung für seinen veränderten Zustand, wenn Crecy zuweilen schonend den Versuch machte, sie auf den immer unvermeidlicher werdenden Ausgang vorzubereiten. Oft wurde sein besorgter Blick von dem Greise errathen, dann reichte er ihm lächelnd die Hand. »Du wirst Fennimor jetzt meine Stelle ersetzen,« sagte er – »ich fürchte nicht mehr mein nahes Ende, und ein Vaterland wird sie überall finden, wo sie geliebt wird.«

Crecy hatte oft nicht den Muth, in solche Andeutungen einzugehen, aber er fühlte dennoch immer lebendiger heraus, wie groß und Besorgniß erregend die Veränderung sein würde, die Sir Reginalds Tod jetzt hervorbringen müßte, wo seine Verhältnisse Fennimor für den Augenblick weder eine Zuflucht bei ihm, noch Rechte darauf geben konnten.

Es findet sich am häufigsten, daß wir einen eigenen Fehler überwinden lernen, wenn wir ihn an Andern in seiner ganzen Stärke, mit allen seinen Nachtheilen hervortreten sehen, denn indem die Folgen unser Interesse gefährden, lernen wir selbst uns davon frei machen, indem wir uns dagegen zu sichern suchen.

So gern Crecy die Zukunft erwartete und der Gegenwart ohne weitere Anstrengung in unthätiger Muße angehörte, so war dies bei Sir Reginald, entweder durch den zuletzt erwähnten Zustand, oder aus dem kindlich ruhigen Einschlafen eines langen, einförmigen Lebens hervorgehend, in noch viel höherem Maaße der Fall, und dies ruhige, sorglose Erwarten der besorglichsten Zukunft, ohne auch nur mit einem Gedanken dafür eine Einrichtung treffen zu wollen, weckte nun Leonin zu Betrachtungen[174] darüber, die ihn eine Berathung mit Sir Reginald dringend wünschen ließen. –

Als sie sich so einst wieder errathen hatten und Sir Reginald, wie früher, jede Sorge für Fennimor in ihm erledigt hielt, dankte ihm Leonin herzlich für sein Vertrauen, und da Fennimor's Abwesenheit ihn unbehindert ließ, suchte er ihn zu einer berathenden Mittheilung zu bewegen: »Fennimor wird als meine Gattin, hoffe ich zu Gott, allen Schutz genießen, den Ihr mit Recht voraussetzt; aber denkt selbst, daß ich Euch bald verlassen muß, daß ich nicht wissen und bestimmen kann, wie lange mich die Fundirung meiner Angelegenheit, die ich zu Fennimor's Gunsten selbst nicht übereilen darf, von dieser lieben Stelle trennen wird; denkt, daß Fennimor bis dahin keine Rechte an mich hat, und ich keine an sie vor der Welt darf geltend machen, und fühlt dann meine Besorgnisse für ihre nächste Zukunft, wenn indeß der schmerzliche Augenblick einträte, dessen Ihr jetzt so oft gedenkt, daß Ihr mich selbst sein Möglichkeit habt annehmen lassen.«

Sir Reginald schwieg nach diesen Worten lange, und blickte ernst und mit sichtlicher Erweichung in die Ferne. »Mein Sohn,« sprach er dann – »Du bist weiser für die Welt bei Deiner Jugend, als mich das Alter, das uns von der irdischen Sorge bei ihrer erkannten Geringfügigkeit abzieht, erhalten hat. Du hast Recht – es liegt bis zu Fennimor's sicherer Zukunft an Deiner Seite noch ein Zwischenraum, den mein Tod für dieses theure Kind unsanft ausfüllen könnte, und in Wahrheit wäre ihre Lage bei ihrer weichen Seele alsdann bedroht genug. Ich würde sie bis zu Deiner Rückkehr sicher, wenn auch unerwünscht für das liebe Kind, der Lady Gersey haben anvertrauen können; doch ihr Aufenthalt in Edinburg und ihre großen Verhältnisse dort mit all' der Unruhe einer solchen Erbschaft überhäuft, machen dies unzulässig. Mein Sohn lebt leider so entfernt[175] und als Geistlicher an den Platz gefesselt, den er übernommen, daß ich ihn nicht veranlassen dürfte, zu Fennimor herüber zu kommen, so sehr sein edles brüderliches Herz dazu auch bereit sein würde; auch, glaube ich, steht ihm selbst eine Reise nach London bevor, da er sich dort zu vermählen denkt.« – Er schwieg, nachdem er so selbst die Schwierigkeiten hervorgehoben, die Fennimor aus seinem Tode erwachsen konnten, und sichtlich wußte er sich keinen Rath.

Nicht besser ging es Leonin, und tausend Mal wünschte er diese unselige, unerläßliche Reise schon hinter sich, um mit der ausreichenden Vollmacht eines unabhängigen Mannes Fennimor's Gatte zu werden, und sie gegen jede Zufälligkeit hinlänglich schützen zu dürfen.

»Am liebsten,« hob der Alte mit dem Tone an, dem man die erregte Besorgniß anhörte, »am liebsten wird sie Dich hier erwarten wollen, und bei Emmy Gray und ihrem Manne bleiben; aber dies ginge wohl, wenn sie Deine Frau wäre, wo sie für sich stehen könnte und man ihr keinen Vorwurf darüber machen dürfte, daß sie mit ihren Domestiken allein bliebe, bis Du zurück kehrtest; so aber würde sie unschicklich handeln, was wir nicht zugeben dürfen, da das gute Kind von der Welt noch nichts weiß und stets geneigt ist, das Natürlichste für das Beste zu halten – auch ist mir schon der Nachfolger ernannt, denn der Lord Gersey will seine Gemeinde nicht ohne geistliche Fürsorge lassen, und dieser mir wohl bekannte Kaplan wird mit einer starken Familie bald hier einziehen, wenn meine Augen sich schließen, und Fennimor würde viel Schmerz erleben, hier das Haus als Fremdling bewohnen zu müssen, wo sie einst so sinnig schuf und ordnete.«

Leonin hörte dem Alten mit Erstaunen zu. Erweckt über diesen Gegenstand nachzudenken, durchschaute er mit folgerechter Klarheit alle daliegenden Schwierigkeiten, und hatte sie doch[176] so lange, wie nicht existirend, bei Seite schieben können, wo der Gegenstand, den sie betrafen, ihm doch der wichtigste, theuerste auf Erden war. Leonin fühlte die Nothwendigkeit, hier entscheidend zu helfen, und doch sah er weder eine Möglichkeit dafür, noch gestattete ihm sein zärtliches Gefühl für den geliebten Greis, so ohne Schonung den unglücklichen Fall anzunehmen, der diese Verhältnisse alsdann herbeiführen mußte.

Da sagte plötzlich der alte Mann, aus tiefem Nachdenken erwachend: »Das Beste wird sein, mein geliebter Sohn, wenn ich Dir Fennimor zum Weibe gebe, ehe Du nach Frankreich gehst; dann hat sie mit dem ehrwürdigen Range einer verheiratheten Frau das Recht, sich überall hinzubegeben, wo Du es für gut hältst, und Emmy Gray und ihr Mann werden, bis Du sie nach Frankreich in Deine Besitzungen führst, hinreichend sein, da sie dann nur treue Diener braucht.« –

Es ist unmöglich, den Eindruck zu schildern, den Leonin von diesen Worten empfing – es war ein. Sprung in seinen Empfindungen, der so ungeheuer groß war, daß er ihm den Athem zum Ersticken versetzte, und er von den angeregten Gefühlen und Gedanken so überwältigt ward, daß er mit den Worten: »Vater, Vater, welch' ein Ausspruch!« zu seinen Füßen sank und seine Hände mit einer an Angst grenzenden Empfindung an seine Brust preßte. – Dies namenlose Glück, das zu erreichen, alle seine Träume, alle seine Wünsche umschloß, es erschreckte ihn, der Erfüllung so nah'. – Er fühlte eine plötzliche Unsicherheit, als könne er es nicht verdienen, nicht festhalten, was ihm mit so engelreinem Vertrauen geboten ward. Riesengroß stieg das ganze Gebäude von Hindernissen auf, das ihn in der Heimat erwartete, und das er durch diesen Schritt nur vermehrt sah. Aber der Gedanke, Fennimor solle ihm schon jetzt gehören, nicht die Last jener Wiederwärtigkeiten sollte dazwischen liegen – welch' ein Glück! Er frug nach einem zweiten, wie[177] dieses, und dennoch fühlte er sich davon bis zum Erschrecken, bis zum Verzagen überrascht, und blieb betäubt vor dem arglosen Spender dieses wunderbaren Geschenkes knieen, ohne es zu wissen, und ohne seiner Erschütterung Herr werden zu können.

Der sanfte Greis bemerkte es nicht; von der Anstrengung dieser Berathung ermüdet, sah er still vor sich nieder.

»O, Vater,« sprach Leonin endlich – »ist das Euer Ernst? wollt Ihr mich so bald, so ohne Bedenklichkeiten glücklich machen?«

Da erwiederte er mit dem sterbenden Lächeln eines Verklärten, als öffneten sich vor seinen Augen die Pforten der Zukunft: »Da sehe ich meine Fennimor an Deiner Seite vor mir am Altare knieen, und von ihrem Vater gesegnet, erfüllt sich ihres Herzens Wunsch; sie wird Dein Weib, und ich gehe ein zur ewigen Ruhe!« – Wieder schwieg er lächelnd, müde das Haupt gesenkt, und Leonin hatte eine wunderbare Bestätigung gewonnen – wie ein Engel hatte die Ueberzeugung ihn aus diesen Worten angeredet, er stand auf und sagte entschlossen: »Ja, mein Vater, es sei so, wie Ihr edel vertrauend mir anbietet! Zwar bin ich noch nicht majorenn, noch nicht unabhängiger Herr meiner Handlungen, aber ich fühle mich in meinem Geiste eben fähig, mir selbst die Unabhängigkeit zuzusprechen, und ich werde jede Verpflichtung zu vertreten wissen, die ich hiemit übernehme! – Aber sagt,« frug er nun mit dem vollsten Ausdrucke der Liebe, »wird Fennimor einwilligen wollen, so bald mein Weib zu werden?«

»Fragt sie selbst,« sagte Sir Reginald – denn eben trat Fennimor in die Thür und flog sogleich mit ihrem leichten Schritt auf Leonin zu.

»Fennimor, meine geliebte Fennimor,« rief er, sie an seine Brust drückend – »weißt Du, was der Vater so eben über uns bestimmt hat?«[178]

»Sag' es mir,« erwiederte Fennimor, heiter zu ihm aufblickend, »es ist gewiß recht was Gutes.«

»Ja Fennimor, das ist es,« fuhr Leonin noch belebter fort – »Du sollst, wenn Du mich nicht zurückweisest, noch ehe ich nach Frankreich gehe, mein Weib werden, und der Vater will uns selbst einsegnen vor dem Altare!«

»O, mein Gott,« – rief Fennimor, faltete schnell ihre Hände und fiel auf ihre Knie vor den Vater hin – »hältst Du mich denn jetzt schon so hohen Berufes würdig? Kann ich denn schon eine Frau sein zu Gottes Ehre, wie es doch so schwer und hochwichtig sein soll?«

»Du wirst das ja mit Gottes Hülfe lernen, mein theures Kind,« sagte der Vater ruhig, »und anfangen müßtest Du ja immer einmal, und wäre es nach Jahren erst.«

»Ja,« sagte Fennimor, »anfangen müßte ich immer einmal, da hast Du Recht, und Gott müßte mir doch später auch helfen, wie er mir jetzt helfen wird, da ich der Hülfe noch mehr bedürftig bin. Ach,« – rief sie nun, als habe sie den Ernst der Sache abgethan, und stand schnell, gegen Leonin gewendet, auf – »und dann bin ich Dein Weib, und Du mußt um so eher wiederkommen, und Deine Mutter ist gleich meine Mutter, und sie wird mich um so schneller lieb haben, wenn Du ihr Grüße von ihrer Tochter bringen kannst.«

Crecy verbarg sein Gesicht in ihre Locken, es ging ein trüber Schatten drüber hin, sein Herz ward zusammen gedrückt, sie hatte selbst ihre drohende Zukunft in ihm herauf beschworen.

Aber selbst diese Anregung, wie hätte sie nach Fennimor's Einwilligung die Macht haben können, das Glück zu trüben, von dem er sich bald allein noch erfüllt fand; die Zukunft mochte senden, was sie wollte, ihm gehörte die Gegenwart, mit jedem Zauber für das Herz ausgestattet, und er wollte Alles vergessen, um sie vollständig zu schätzen.[179]

Wenige Tage vor seiner Abreise sollte seine Vermählung mit Fennimor in der Kirche der Abtei stattfinden. Nach reiflicher Ueberlegung beider Männer sollte dieselbe ein Geheimniß bleiben, so lange Sir Reginald am Leben bliebe, und Fennimor erst im Fall des Alleinstehens das Recht haben, sich in der unabhängigen Stellung einer verheiratheten Frau zu zeigen. Dies schien Leonin höchst nöthig, um seine Mutter langsam auf seine Entschlüsse vorzubereiten, und ohne daß er diesen Grund gerade hervor hob, fand der Wunsch, seine Aeltern selbst von seiner Vermählung zu unterrichten, bei Vater und Tochter die größte Billigung – denn an jener Einwilligung zweifelten Beide nicht nach Leonin's Zusicherung derselben; und nachdem Fennimor den zärtlichen Brief der Marschallin an ihren Sohn gelesen, worin sie, besorgt für sein Vergnügen, ihm dort wegzugehen rieth, hielt sie seine Mutter für den Inbegriff aller Güte und Liebe, und hing schon jetzt mit kindlicher Zärtlichkeit an ihr.

Emmy Gray und ihr Mann sollten die nöthigen Zeugen abgeben, darüber von Crecy und Sir Reginald ein Dokument aufgesetzt werden, welches von Allen unterzeichnet, die Legitimation dieses priesterlichen Aktes enthalten sollte, und alle Theile hielten sich damit für gesichert und beruhigt; wobei von Fennimor natürlich nicht die Rede sein konnte, welche, in gänzlicher Unwissenheit über diese Formen, ihnen vollkommen gleichgültig zusah. Ueberhaupt konnte nichts ihren Schmerz über die nahe Trennung von Leonin zerstreuen. Sie begriff nicht, wie sie leben könnte ohne ihn, und empfand eine solche Herzensangst bei dem Gedanken, ihn nicht mehr sehen und hören zu sollen, daß Todtenblässe sogleich ihre Stirn bedeckte und der Schmerz wie ein körperliches Leiden sie ergriff. Sie versuchte Leonin's Freude über diese Vermählung zu theilen, aber sie hatte nie, wie er, Schwierigkeiten für ihre dereinstige Erfüllung gesehen, sie konnte daher auch keine größere Sicherheit dadurch gewinnen; und der[180] Gedanke, eine Frau zu sein, wovon sie sehr schwerfällige, ernste Vorstellungen hatte, die sie um ihr heiteres, kindliches Umherschwärmen zu bringen drohten, erfüllten ihren Geist mit bangen Bildern, die nur durch Leonin's Freude und seine erhöhten Liebesbeweise zuweilen zerstreut wurden.

Was dazu beitrug, Fennimor's Herz zu quälen, war die laute unverholene Mißbilligung, welche Emmy Gray bei der Mittheilung dieses Entschlusses aussprach.

Niemals hatte sie so, wie die übrigen Mitglieder des Hauses, sich an Crecy anschließen können. Als Spielkameradin, Dienerin und Freundin, durch die Jahre, die sie älter war, und die sie sogar zur Frau und Mutter gemacht, hatte sie über Fennimor mehr Gewalt bekommen, als sich zuerst darlegte, und indem sie mit enthusiastischer Liebe an ihr hing, bewachte sie zugleich mit der größten Eifersucht das Leben eines Wesens, wogegen Mann und Kind ihr fast gleichgültig waren, und das sie, indem sie sich stets bereit fühlte, ihr ganzes Interesse dafür hinzugeben, auch als eine Art Eigenthum für sich zu erhalten strebte.

Für Fennimor's Ehre, Ansehn und künftiges Glück trug sie die übertriebensten Vorstellungen in sich. Was Crecy an Namen, Rang und Vermögen ihr bot, schien ihr nur grade so, wie es ihr zukam; sie dachte diese Vorzüge durch eine große öffentliche Vermählung erst recht ins Licht gestellt zu sehen, und hoffte dadurch alle die Kammermädchen der Lady's auf dem Schlosse zu lehren, wie die Ansprüche ihrer jungen Herrschaft genau so groß seien, als die der ihrigen.

Ernsten, finsteren Gemüths legte sie überhaupt auf Heirathen keinen Werth, ja, sie hatte die ihrige, obwohl John Gray der beste Mensch und ihr innig zugethan war, schon längst bitter bereut, und nur, weil er ihr vollkommene Freiheit ließ, nach wie vor ihren Dienst bei Fennimor zu verrichten, ertrug[181] sie dies Verhältniß, erhielt ihm ihre kühle Liebe und bestellte mit rechtschaffener Strenge ihr gemeinschaftliches Haus.

Crecy's Erscheinen trennte sie zuerst von der ununterbrochenen Gemeinschaft mit dem Abgotte ihres Herzens, zu dem sie Fennimor gemacht, und das Glück, das sie durch diese Liebe über jene verbreitet sah, konnte sie, indem sie dieselbe nicht zu verstehen vermochte, auch nicht mit ihrem dadurch erlittenen Verluste versöhnen.

Es trat ein fast unbezwingliches Zürnen gegen denjenigen ein, der es wagen wollte, ihr Fräulein so zu lieben, wie sie selbst, ein anderes höheres Glück ihr zu bieten, als sie es ihr bisher bereitet. Nur ihr Ehrgeiz und die Erwartung, wie sie durch den hervortretenden Glanz ihres Lieblings dereinst Alle auf Schloß Stirlings demüthigen wollte, versprach ihr Ersatz und einigen Genuß, wobei sie mit milderen Empfindungen gegen Crecy sich dessen Mitwirkung versprach.

Wie mußte sie daher die Nachricht aufnehmen, daß von allem diesem bei der beabsichtigten Vermählung nichts sich ereignen würde!

Ihre Empörung kannte keine Grenzen. In Thränen gebadet, warf sie sich ihrer jungen Gebieterin zu Füßen und bat sie, diesen ehrlosen Vorschlag nicht einzugehen, nicht wie ein verlorenes Mädchen heimlich und ohne den Glanz, der ihr zukäme, den Altar zu betreten.

»Ja, Emmy,« – sagte Fennimor betrübt – »ich habe auch immer geglaubt, ich müßte dies einmal ganz öffentlich thun, so wie Du damals, wo Dir die Jungfrauen alle folgten, und die Kinder Blumen streuten, und es so schön den ganzen Tag war.«

»Ach, und ich – was bin ich gegen Euch!« rief Emmy. – »Ihr, die ein Fürst hätte wählen können und sich damit geehrt hätte – Ihr, Ihr sollt nun so hinter dem Altare herkommen, als müßtet Ihr Euch schämen vor der großen Ehre,[182] die ein so fremder Graf Euch erzeigen will; und zwei so schlechte Leute, wie ich und John, sollen Zeugen sein, wo die ganze Grafschaft hätte eingeladen werden müssen, und die Ladys Gersey's Euch die Schleppe tragen.«

»Ach,« sagte Fennimor, rasch von ihrem Schemmelchen aufstehend, vor dem dies Gespräch vorfiel – »wenn die ganze Grafschaft hätte dazu kommen müssen, und die Gersey's meine Schleppe tragen, dann ist es mir doch viel lieber, daß wir so recht still bei einander bleiben können und die Andern gar nichts davon wissen, denn lustig kann ich doch nicht sein, weil Leonin zwei Tage darauf abreisen muß.«

»Ach,« weinte Emmy, »Ihr redet, wie Ihr es versteht, und das ist eben schändlich, daß man Eure Unwissenheit benutzte, Euch so um Euren besten Lebenstag zu betrügen; wer weiß, was der fremde Herr Graf, dem ich nie getraut, gegen Euch im Schilde führt!«

»Schweig'!« rief Fennimor schnell, mit der vollsten Energie einer Gebieterin, »wie kannst Du in Deiner Thorheit ihn angreifen wollen, der Alles aus Liebe zu mir thut? Hüte Dich mit Deinen unbesonnenen Worten, jetzt will ich nie mehr davon hören! – Was er will und mein Vater gut heißt, das ist das Rechte, und wie froh bin ich, daß ich Deine ganze Grafschaft und die dummen Gersey's los bin, die ohnehin denken, ich kann nicht schreiben und lesen.«

»Nun, so sei Euch Gott gnädig!« rief Emmy, heftig aufstehend, »und namenloses Elend bis ans Ende seines Lebens mag über den kommen, der Euch nicht glücklich macht, und Euer und Eures Vaters Vertrauen mißbraucht! – Mir ahnet heilloses Unglück von dieser Heirath, so verstohlen betrieben, als wären wir Alle Betrüger; und der Traum Eures Vaters wird wohl Recht gehabt haben, denn grade den Tag, wo die selige Mutter ihm erschienen und so um Euch geweint hat, da[183] haben wir den Herrn Grafen zuerst gesehen – o, hätte mich doch lieber der Eber zerrissen, als daß ich Euer Unglück sehen muß!« –

»Aber, Emmy, Emmy,« rief Fennimor, minder erzürnt und durch den heftigen Kummer ihrer Dienerin besänftigt – »hier ist ja gar nicht von Unglück die Rede – das einzige Unglück ist ja, daß er bald abreist, und daß mein Bruder nicht hier ist; sonst ist es mir ja viel lieber, daß wir ganz allein sind, denn eine Schleppe ziehe ich gar nicht an, und Du bist mir ja tausend Mal lieber, als die ganze Grafschaft und alle Gersey's!«

Diese letzten Worte verfehlten nicht, Emmy einigermaßen zur Ruhe zu stellen, und obwohl Fennimor ihren ersten Kummer fühlte, war es doch nicht der, der Emmy unter tausend Thränen die Nacht auf ihrem Lager wach erhielt.

Indessen war diese Stimmung der armen Emmy nicht dazu geeignet, die bange Erwartung ihrer jungen Gebieterin zu zerstreuen, die mit ihrem tief ergriffenen Herzen in jeder Vorkehrung zu ihrer Vermählung zugleich die nahende Abreise Leonin's heraussah, und so fast mit Schauder darauf einging, immer mit der Ahnung eines tödlichen Schmerzes im Herzen, überdeckt noch von dem Zauber der Gegenwart, den Beide festhielten, als läge dahinter ein bodenloser Abgrund.

Wunderbar entwickelte dieser erste heiße Schmerz an Fennimor die Verwandlung des fast kindlichen Mädchens zu einer höheren Stufe; denn wir müssen es dem Schmerze zugestehen, daß er am schnellsten das Innere des Menschen zeitigt und, indem er ihnen die Blüten von den leicht geschwingten Zweigen streift, die kein irdischer Frühling ihnen wiedergiebt, doch das innere Mark des Lebens emportreibt, was dann erst die bildende Kraft für die in der Blüte nur angedeutete Frucht wird.

Kein Mensch hätte Fennimor jetzt, wie wenige Wochen früher, noch für ein Kind halten können. Dieses Gefesseltsein[184] am Augenblicke, dieser auf das Nächste gerichtete lachende Blick, der sonst nur mit dem Ernste wechselte, den gute Kinder zeigen, wenn sie aufmerken sollen, was Alte wollen – wie war das Alles weggewischt von Fennimor! Sie war nicht minder schön, ja, vielleicht noch anziehender, wenn man den seltenen Genuß vergessen hatte, der ihre frühere Erscheinung durch den Ausdruck einer vollkommen ungetrübten Seele fast zu der eines Engels machte.

Ihr rundes Kinn hatte sich fein gesenkt und ein liebliches Oval aus der Kinderform gebildet, die Nase war länglich durchsichtig aus den sonst sie verkleinernden vollen Wangen hervorgetreten, und die Augen zeigten erst jetzt ihre leuchtende Größe, wo sie von dem unschuldigen Lächeln kindlichen Frohsinns nicht mehr so oft in die Länge gezogen wurden. Größer war sie auch geworden und schlanker, oder diese regelmäßige Gestalt zeigte sich erst, da sie langsamer ging und ein Auge gewonnen hatte für ihre Kleidung durch Leonin's Freude daran. Dabei war der Zauber einer unsäglichen inneren Befriedigung um sie verbreitet, die, unabhängig von dem jetzt damit verbundenen Schmerze, ihr durch Leonin's Liebe gänzlich befriedigtes Herz andeutete und ihren Worten, dem Ton ihrer Stimme, dem Blick ihres Auges den vollen warmen Hauch der schönsten Begeisterung gab. Und dennoch war sie nicht mehr glücklich! – Sie hatte nach einem höheren Lebensgute gegriffen, als das Spielzeug der Kinderstube, und schon mußte sie den Tribut zahlen; denn neben dem höchsten Glück erwartete sie schon der Schmerz, und sie fühlte, noch behütet von der Liebe, doch schon seinen eisigen Hauch über sie hinstreichen.
[185]

Einige Tage später ließ sich bei sinkender Sonne auf dem festen Landwege, der von der Edinburger Landstraße ab nach Stirlings-Bai führte, der Hufschlag eines Pferdes hören. Der Reiter hielt die Zügel an, als er die Meierei zu erkennen glaubte, die man ihm als passend zum Nachtquartier bezeichnet, und alsbald folgte den hinter den Hecken lauschenden Kindern, die auf schnellen Füßen nach dem Hause zu verschwanden, eine rüstige Frau, welche sich durch Gruß und Anrede als die Wirthin bezeichnete. – »Weit des Weges?« frug sie, ohn' Bedenken den Steigbügel ergreifend und dem Gaste vom Pferde helfend.

»Weit genug, um gern bei einer freundlichen Wirthin ausruhen zu mögen,« erwiederte der Reisende, jetzt als ein junger, gewandter Mann sich der aufmerkenden Hausfrau zeigend.

»Was wir haben, mag Euch gehören« – war die bereitwillige Antwort, doch mit ernster, gleichgültiger Miene gesprochen.

Sie traten darauf in das Haus oder vielmehr in den großen Hausraum, der eigentlich in seiner Zusammenstellung die ganze Existenz der Familie umschließt, und ihre ganze Chronik uns zu erzählen wüßte, da in seinem Umfang Alles bewirkt und verrichtet wird, was ihr einfaches Leben erfordert. Von der mühseligsten Arbeit an bis zu den seltenen Festen, von dem Nahrung spendenden Heerde und der langen daran stehenden Eßtafel, die alle Mitglieder versammelt, bis zu den kleinen, kaum ausreichenden Verschlägen, wohinter Aeltern und Kinder, Kranke und Alte ihre Ruhestätte finden, umfaßt dies alles der Hausraum, und sanft wiegt die Müden auf ihrem Nachtlager das leise Schnalzen der wiederkäuenden Kühe ein, deren Ställe mit diesen Lagern in enger Gemeinschaft stehen, und welche ihre Vorrathskammer, ihre Chatulle, ihr größter Besitz, ihr einziger Stolz sind.

Wie sehr der Reisende, der hier eingeführt war, auch in seiner ganzen Weise die Verwöhnung der höheren Stände verrieth[186] – die bisher zurückgelegte Tour hatte ihn bereits bekannt gemacht mit den Erwartungen, die man von einem Nachtlager, fern von der großen Straße, hegen durfte, und seine Stimmung war ganz geeignet, ihn gegen die zu erwartenden Mängel gleichgültig zu stimmen. Das Feuer, welches bald aus seiner dumpfen Ruhe zum lustigen Lodern aufgeweckt war, tröstete ihn, da seine Kleider feucht und von Nebel durchnäßt waren, bald für das Uebrige, und er fand seine schweigsame Wirthin geschickt genug, die gebratenen Speckstücken in Eier zu backen und den Becher mit Ale aus einem guten Fasse zu füllen. – Schwerer hielt es, ihr Rede abzugewinnen. Ihre Verrichtungen schienen ihre Gedanken in den Händen fest zu bannen; dabei krochen nach und nach fünf bis sechs zerlumpte Kinder aus den Winkeln, wohin sie sich vor dem Fremden geborgen hatten, hervor, und da sie nicht unempfindlich für das Abendbrod desselben blieben, hatte die ernste Mutter zu wehren, zu zanken und zu strafen, welches allgemach ein ziemlich lebhaftes Treiben hervorrief, aber nicht zu Gunsten des Fremden, der noch immer an seinen Fragen behindert blieb. Eine Schüssel Milch und gleichmäßige Portionen Brod versammelten endlich die junge Gesellschaft auf einen Punkt, und es trat Ruhe ein.

»Wie lange habe ich morgen bis nach dem Schlosse?« hob jetzt der Fremde aufs Neue an.

»Nun,« erwiederte die Wirthin – »um die Bucht herum seht Ihr die Abtei, da geht's bergan, doch eine Meile trägt's nicht aus! – Wollt Ihr dahin?« frug sie jetzt selbst.

»Es ist vorläufig mein Ziel,« sprach der Fremde.

»Die Essen rauchen dort nicht, und die Wälder sind einsam worden,« fuhr das Weib in ihrer Weise fort – »sie sind in Trauer und beerben die Ahnfrau in Edinburg.«

Der Fremde schien nichts Unerwartetes vernommen zu haben; er frug ohne Erwiederung fort: »Und findet sich Niemand[187] zum Empfange von Fremden? Haben denn Alle das Schloß verlassen?«

»Diener genug, Zimmer genug – aber die Essen rauchen nicht, und der Herrenraum ist leer.«

»Und doch erwarte ich, dort einen Fremden zu finden, der das Schloß nicht verließ, wie ich weiß, und für den sicher Sorge getragen ward.«

Die Wirthin blickte jetzt zuerst auf, und indem sie die Hand über die Augen hielt, überliefen ihre Blicke schnell und prüfend den Fremden – sie schwieg nach dieser Bewegung und blickte wieder vor sich hin.

»Nun, könnt Ihr mir nicht sagen, ob ein solcher Bewohner im Schlosse zu finden ist?« –

Eine Bewegung zwischen Lachen und Hohn verunstaltete augenblicklich das Gesicht der Frau; dann stand sie müde auf, ergriff einen Kienspahn, den sie über das Feuer hielt, und erwiederte, schon im Abgehen: »Die Abtei ist groß, der Heerd versorgt, und für Jugend und Müßiggang ist der Tag zu kurz! Wenn sie morgen läuten, wird's nicht umsonst sein – Blumen wird Keiner streun – die Krähen hacken den Rasen auf dem Kirchhofe, sie wissen, was für Arbeit kömmt – nirgends war Rosmarin voller, als an der Abtei-Pforte. Aber noch wissen sie alle nicht, wie viel unter der schwarzen Decke Raum haben – nur, wer in der Mondwende geboren ist, sieht das Gespenst. – Ihr, denke ich, werdet es ihnen lehren!«

Es war, als ob ihre Gestalt im Abgeben wuchs; der flackernde Kienspahn, den sie trug, malte ihren Schatten riefengroß an der Wand – der Fremde fühlte eine Berührung aus einer Welt, die er belachte und verachtete – es half ihm nicht, daß er raisonnirend dies Weib unter die träumerischen Monosüchtigen versetzte, an denen Schottland reich ist; er konnte die Kälte und Erstarrung, die ihn befallen, erst nach einigen Minuten[188] beseitigen, und es steht zu glauben, daß diese äußere Anregung mit einem ihm wohlbewußten Zustande seines Inneren zusammengefallen war.

Als die Wirthin wiederkam, war der eben hervorgetretene Trieb verschwunden; gleichgültig zeigte sie ihm das frische Heu, was sie für ihn aufgeschüttet, und er fand, mehr als er gehofft, zwei reine Decken darüber gebreitet.

Wir sollten billig erstaunen, daß der Reisende einen so festen Schlaf auf seinem Lager fand, daß er die Frühstunde der Abreise versäumte und erst er wachte, als ein kleines Mädchen, welches sich neugierig über den Schläfer gebogen hatte, ausglitt und, queer über sein Gesicht fallend, jetzt in Schreck und Angst gesetzt, ein lautes Geschrei ausstieß. Das gegenseitige Aufraffen brachte die vollständigste Ermunterung des Gastes hervor – und er mußte sich bald überzeugen, daß außer dem eben so kleinen Buben, der die schreiende Schwester wegführte, er der einzige Anwesende im Hause war. Sein Pferd war gesattelt und an die Thür gebunden – auf dem Eßtische stand eine Schale mit Milch und Brot daneben, und selbst die Bewohner der Ställe waren verschwunden. Es kümmerte ihn wenig, und schnell gerüstet, legte er ein Geldstück neben das gut befundene Frühstück, und bald sehen wir ihn auf dem Rücken seines ausgeruhten Pferdes die Höhe erreichen, von der aus der See mit dem Schlosse von Stirlings und darüber die mächtigen Thürme der Abtei sichtbar wurden.

Er schenkte diesem wahrhaft bezaubernden Gemälde wenig Theilnahme, obwohl die Sonne in der späteren Stunde hervorgetreten war und es zu verklären schien; den See mit seinem dunklen, ruhigen Spiegel hatte sie noch nicht erreicht, aber die Thürme der Abtei und die Wipfel des rund herum ausgebreiteten, vom Herbste bunt gefärbten Waldes erleuchtete sie mit einem Glanze, daß die majestätische Schönheit von Beiden imponirend[189] die Seele erfassen mußte. – Aber der Mensch legt in jedes Bild der Außenwelt hinein, was in seinem Innern vorherrscht.

Der Fremde dachte, indem er den Zügel seines Pferdes nachdenkend anhielt, wo er am schnellsten dies gute Thier unterbringen könne, um alsdann unbemerkt und zu Fuße das Terrain näher zu umschleichen, wohin seine Gedanken nur in einer Beziehung gerichtet waren. In demselben Augenblick erhoben die Glocken ihre harmonischen mächtigen Stimmen – und der See schien aufzuwallen, als höbe sich seine ruhige Tiefe den heiligen Klängen entgegen; um die Wipfel der Wälder lief ein leises Rauschen, und sie bogen die riesigen Häupter, als käme der Morgenwind, den sie begrüßten, mit dem Klange der Glocken.

Und der Fremdling hörte ihren Ton, um sich zu erinnern, daß das Weib in ihrer weitsichtigen Redeweise darauf hingedeutet, als ein Ereigniß verkündigend – die letzte Mahnung an sein Gewissen ward von dem festen Beschluß eines gegen höhere Einflüsse gesicherten Herzens überhört. Er benutzte die erste Hütte am Wege, um dem müßig davor kauernden Knaben die Zügel seines Pferdes zuzuwerfen, und es unter dem breiten Schatten eines Ahorns gesichert haltend, nahm er den Rath über den kürzesten Weg nach der Abtei-Kirche von dem Knaben an, überschritt die heilige Schwelle derselben ohne Bedenken und barg sich, dem Hochaltare gegenüber, in einem hochbelehnten Chorstuhle, der nichts, als ihn selbst, der Beobachtung entzog.

Der Früh-Gottesdienst war beendigt bis zum Segen, der so eben mit einer tiefen, bewegten Stimme über die Anwesenden gesprochen ward. Der Greis, der den Hochaltar bediente, stand in der Verklärung eines Apostels da – seine Augen ruhten einen Augenblick auf der kleinen knieenden Gemeinde – aber dann suchten sie, wie seine Seele, den Himmel, und als sie sich erhoben, ruhte der Glauben drinnen, der Berge versetzt – und[190] er sagte mit diesem Blicke zum ganzen Leben: Es ist in Deiner Hand! –

Die Gemeinde verließ die Kirche, und der Fremde, den wir begleiten, würde vielleicht gefolgt sein, da es schien, als habe er hier nichts mehr zu thun – hätte ihn nicht der wunderbare Greis mit ahnungsvoller Neugierde gefesselt. Er hatte auf den Stufen des Altars seine müden Kniee gesenkt, und unter dem Schatten seiner weißen Locken hing der Kopf in betender Demuth auf der gebeugten Brust. Der scharfe Beobachter hatte hier bald eine ungewöhnliche Gemüthsstimmung erkannt, und seine Augen suchten unruhig nach der Ursache.

Ein alter Diener der Kirche zeigte sich endlich – er verschloß den Ausgang nach dem Wege, den die Gemeine gegangen, und öffnete gegenüber eine große Bogenthür, welche den Wald mit seinen Buchensäulen und seinem schimmernden Rasenteppich in solchem Glanze der Sonnenglut zeigte, daß er ein blitzender Edelstein erschien in der kunstreichen Fassung der schönen architektonischen Thürwölbung. – Weiter fuhr der Alte fort, mit leisem Schritt einen Teppich zu entwickeln, den er von der Schwelle an bis zum Hochaltar ausbreitete, und belegte die untern Stufen des Altars mit zwei Kissen. Er war jetzt nicht mehr allein; eine junge Frau in stattlicher ländlicher Kleidung war aus dem Walde zu ihm getreten, sie trug in ihrem Arme Blumen, wie der Herbst sie noch sammeln ließ, und ordnete sie kunstreich auf dem Teppich und um die Stufen des Altars.

Die Nähe des betenden Greises schien beiden ein ehrfurchtsvolles Schweigen aufzulegen, und die Thränen, die aus den Augen der jungen Landfrau, wie aneinander gereihte Perlen, flossen, wurden alle leis in einem Tuch aufgefangen, und jeder Laut der kämpfenden Brust unterdrückt. Dann verließ sie nach Beendigung ihrer Ausschmückung die Kirche, und der alte[191] Küster erschien nun im vollen Schmucke seines rothen Chorrockes, und nahm in ehrfurchtsvoller Erwartung an dem Eingange der Thüre Platz.

Es war kaum möglich einen großartigern Eindruck zu empfangen, als hier in der Wirkung von zwei gleich erhabenen Erscheinungen lag, die, so verschieden, doch eines inneren Zusammenhanges nicht entbehrten. – Der Wald zeigte mit dem riesenhaften Baue seiner Buchenstämme und seinen hochgewölbten Aesten, daß die Natur in ihrer unendlichen Schönheit die Lehrmeisterin des Menschen war, und die Bewunderung, die sie in der Seele desselben zu wecken wußte, die Pfeiler in Marmor und Stein heraufwachsen ließ, und sie wie Laubwerk geformte Bogen überwölbte, eine kühne, erhabene Nachbildung des Natur-Heiligthums, woraus die Andacht mit den wachsenden Schätzen sich retten wollte gegen den unerbittlichen Wechsel der Jahreszeiten.

Wer durfte zweifeln, daß der Wald, der in seinem vielhundertjährigen Alter auf jede in seinem Bereich entstehende Schöpfung niedergeschaut, die Seele des Künstlers erfüllt habe, der Pfeiler steigen ließ und Bogen ineinander schlang, als habe die Natur in ihrer harmonischen Schönheit den harten Stein mit dem Leben der Vegetation durchdrungen, und, die sehnsüchtige Inbrunst des frommen Bauherrn erhörend, sich den Schmuck ablauschen lassen, womit sie in ihrer verschwenderischen Mannigfaltigkeit immer anders, immer schön und doch im großartigen Zusammenhange zu schaffen versteht. Es war ein Dom in den andern hineingewachsen, oder eine Kapelle in dem himmelanstrebenden Dome der Natur, der sie von allen Seiten umschloß.

Und aus diesem großen Dome der Natur überschritten jetzt zwei Wesen die Schwelle der Kapelle, leicht getragen von Jugend und Schönheit – klar in dem holden Schein einer Andacht,[192] die ihnen Heiterkeit und Entzücken gab, und so leise und ehrfurchtsvoll nahend, wie Engel den Dienst des Herrn erfüllen mögen. Das Mädchen hatte den bedeutungsvollen Kranz über den Schleier gesetzt, die vollen Locken, die wie ein Heiligenschein in dunkler Fülle mit goldenen Lichtern das himmlische Antlitz umsäumten, schienen sich so warm und lebendig hervorzudrängen, als begehrten sie den fremden Schmuck zu entfernen – und man hätte versucht werden können, die Flügel zu suchen, die dieser kindlichen Jungfrau den leichten Fuß verliehn, der unter dem langen weißen Gewande wie ein Hauch über den Boden glitt. Die Blumen, die auf ihrem Wege lagen, schienen ihre Gespielen, die sie lächelnd wiederfand – sie neigte sich wie eine Nymphe und hielt schon eine weiße Aster in der Hand, welches die junge Frau, welche sie gestreut und jetzt an der Seite eines Landmannes ihr folgte, nur mit der Freude sah, die sogleich in Thränenströmen sich ergoß. Aber auch der Jüngling, der im heil'gen Entzücken an den Fingerspitzen das Engelsbild zum Altare führte, wie war er schön geworden, und jung und unschuldig und fromm! Das große Leben der Höfe hatte ihn vergeblich vollenden sollen nach der Sitte der Welt – die Liebe hatte ihn umgeformt, das Erlangte paßte nicht in die Unschulds-Welt, in die sie ihn führte, und war vergessen, und die Spuren verwischt aus dem menschlich verklärten Antlitz auf den Stufen des Altars.

Der betende Greis ahnete die ehrfurchtsvll hinter ihm Harrenden. – Er fand, als er sich aufrichtete, die beiden Hände zu seiner Unterstützung, die er sogleich vereinigen wollte. Kindlich knieten sie dann vor ihm nieder, und er blickte sie an. Vielleicht waren sie damit eingesegnet und vor Gott vereint; denn der Blick eines Vaters in der Segensfülle zärtlichster Liebe muß alle Funktionen der priesterlichen Weihe umschließen, ja, sie fand daher vielleicht ihren Ursprung. Doch durchdrungen von[193] diesem, ihrem wahren Sinne, ward die Weihe des Priesters wirklich ein höherer Segen, welcher die Empfangenden mit heiligendem Feuer berührte und den Greis über die Gewalt des beugenden Alters, über die Weichheit irdischer Betrachtung emporhob zum Gottgeweihten Priester, zum Wiedergeber des göttlichen Segens, den er empfangen. –

Der große Moment war vorüber. Der Vater drückte noch vor dem Altare beide junge Leute an seine Brust, und legte dann ruhig die Tochter in die Arme ihres jungen Gemahls. Der Kirchendiener breitete indessen auf dem Altar eine Schrift aus, der sich Alle näherten, die selbst von den beiden ländlichen Zeugen mit einer ihnen möglichen Unterschrift oder Zeichen versehen ward, und die der Kirchendiener dann wieder zusammenschlug und den Voranschreitenden nachtrug. Dies Mal führte der Geistliche das junge Paar an beiden Händen, als wolle er sie so der Welt, der sie nunmehr verfallen waren, entgegen führen. –

Schon lange hatte die lautloseste Stille in den eben so belebten Räumen ihre alte Wohnung genommen, und kein wichtigeres Ereigniß blieb zu erwarten nach dem eben vollbrachten; auch war es nicht die Hoffnung darauf, die den Fremden noch an seinen Platz fesselte – sondern sich selbst gönnte er eine äußere Ruhe, die er hier vollständig fand, und deren sein, von dem Vorhergegangenen fast überfüllter, Geist benöthigt schien. Er hatte hier, indem er diese ganze Ceremonie zugelassen, eine Stellung genommen, über die selbst sein rascher Geist nicht gleich die völlige Klarheit gewann, denn er konnte sich nicht verhehlen, daß nicht allein sein böser Wille das Ereigniß zugelassen, sondern daß das Ereigniß selbst mit seiner klaren, bestimmten Folge, welches das, was er ergründen wollte, außer Zweifel und abgeschlossen vor ihm hinstellte, ihn zu einem willenlosen Zeugen gemacht hatte, was er jedoch,[194] wie es ihm erschien, niemals würde eingestehen wollen. Auch war das nächste Resultat der Selbstberathung, so unbemerkt, als möglich, für den heutigen Tag den Rückzug zu nehmen und erst am andern Morgen anzukommen. Nach diesem Beschlusse blickte er lächelnd auf die Karten, die, zu seinen Gunsten gemischt, alle Farben enthielten, und die nur die Hand des geschickten Spielers zu erwarten schienen. –

Auf wenige Augenblicke hatte sich am andern Morgen der Graf von Crecy von seiner jungen Gattin getrennt, um in Schloß Stirlings seine vielleicht auffallend werdenden Angelegenheiten zu motiviren, als seine Worte darüber von dem alten Haushofmeister unterbrochen wurden, der ihm die Meldung eines Fremden machte, der, aus Paris angekommen, den Herrn Grafen zu sprechen wünsche.

Als ob einem süß Träumenden eine kalte Hand auf die Stirn gepreßt würde, so erschütterte diese Nachricht den jungen Mann. Ein Hauch aus jener Welt, die der seinigen nur widersprechend entgegen treten konnte, schien den Schmelz zu zerstören, der so zart wie der Duft einer Blume, dem armen Menschenherzen nur bei dem ersten frischen Entfalten eines Glückes zu Theil wird und, eben so schnell zerstört wie entstanden, die Sehnsucht danach allein zurück läßt. Erschrocken, ahnungsvoll und durchaus ohne Fassung für eine schnell hereinbrechende Katastrophe, die er selbst einzuleiten gedachte im Laufe der Zeit und seinem jetzigen Glücke noch aus dem Wege gerückt glaubte, fühlte er sein Nachdenken erlahmt, und es trat die dann so natürliche Hast ein, womit wir uns den Befürchtungen entgegen stürzen, dunkel hoffend, von ihren Anforderungen die erschreckten, erlahmten Kräfte wieder zu gewinnen.

»Wo, wo?« rief der junge Graf, und der Ton seiner Stimme klang, wie die zerreißenden Seiten eines Instruments – »wo ist der Fremde, der mich zu sprechen wünscht?«[195]

Der alte Haushofmeister schlug bloß die Augen auf und verneigte sich, der Graf blickte sich um – und der Marquis de Souvré stand vor ihm.

»Großer Gott, Ihr selbst!« rief der Graf und überließ es dem Andern, die Auslegung dieser Worte in seinen bewegten Zügen zu suchen – »ist es möglich! Was führt Euch aus Paris hierher in diese Einsamkeit, an diesen für Euch so freudenlosen Aufenthalt?« –

Der Marquis schien sein ewig blasses Antlitz zu noch größerer Blässe gezwungen, die scharfen, nach Innen gesenkten Züge noch fester verschlossen zu haben, und die Festigkeit, womit er, von dem jungen Grafen einige Schritte entfernt, Platz behielt, zu benutzen, um diesem die ganze Ansicht einer eisernen Persönlichkeit zu gewähren. – »Ihr habt Recht, Herr Graf, mit den Bezeichnungen dieses Aufenthalts, und ich kam bloß, um zu erfahren, was Euch unter solchen Umständen mit diesen Mängeln auszusöhnen vermochte, oder in wie fern ein so weit getriebener Gehorsam gegen die früheren Wünsche Eurer Frau Mutter sich von ihrem durch ihre Liebe gesandten Boten bewältigen lassen.« –

»Ach, Marquis, wie viel Güte! wie soll ich Euch danken! Ihr selbst, Ihr, das Schooßkind von Paris, über das Meer – durch die wilden Bergpässe Schottlands, ohne Eure Gesellschaften, ohne Eure Beschäftigungen – wie sehr fühle ich mich als Euer Schuldner!«

Es war eine Hast, eine Ungeduld in der Aufzählung der anerkannten Verpflichtungen, die den Marquis de Souvré keinen Augenblick zweifeln ließen über die beinahe verzweifelte Stimmung, womit der junge Mann sich so zur ungelegenen Zeit von ihm überschlichen sah, und es schien ihm der Augenblick gekommen, mit einem sicheren Verfahren diesen ganz in seine Gewalt zu bekommen. »Lassen wir das, lieber Graf!« –[196] sprach er in minder gemessenem Ton und zog ein abwehrendes spöttisches Lächeln um seinen Mund. »Wir wollen und wir können uns nichts weiß machen, und Eure Lage, die, wenn ich nicht sehr irre, mißlich genug ist, würde, denke ich, sich nicht verbessern, wenn Ihr gegen mich die Rolle des Höflichen spielen wolltet, da Ihr mich über Eure wahre Stimmung keinen Augenblick täuschen könnt. Laßt mich hinzusetzen« – fuhr er vertraulich fort, »daß Eure Dankbarkeit gegen mich in anderer Richtung vielleicht wahr werden kann, aber nicht für den Augenblick, da Euch meine Erscheinung an eine ernstere Seite Eures Lebens erinnert und das romantische Schäferspiel zu unterbrechen droht, dem Ihr Euch hier gänzlich überlassen.«

»Ihr kommt an, lieber Souvré,« rief der junge Graf, noch ein Mal einen Sprung in die Weite versuchend und das ihn so nah umzogene Garn überspringend – »in dem Augenblicke, wo ich mich zur Abreise zu rüsten dachte. Uebermorgen wollte ich nach Edinburg, um mich dort vom Grafen von Gersey zu beurlauben.«

»So!« sagte der Marquis gemessen – »und darf der alte Freund Ihres Hauses fragen, ob Ihr diese Gegend als freier unabhängiger Mann verlaßt, ob Ihr derselbe sein könnt in den Verhältnissen, die Euch dort die zärtlichste Liebe einer Mutter mit der klügsten Umsicht zu den größten und ausgezeichnetsten Verbindungen vorbereitet?« –

»Ja, Marquis, gerade als freier Mann denke ich dort wiederzukehren – und wenn nicht alle klugen Pläne meiner Mutter mehr erfüllt werden können, denke ich doch die, welche ihre zärtliche Mutterliebe für mich hegen konnte, auf eine Weise auszuführen, die vielleicht ihre eigenen Pläne übertrifft.«

»Hofft das nicht!« sprach hier der Marquis mit Wärme – »hofft nicht, daß sie den leisesten Wunsch, den kleinsten Plan, den sie bis hieher nährte und führte, aufgeben wird –[197] zweifelt nicht, daß Ihr, in Widerstand dagegen tretend, einer ununterbrochenen Reihe von Leiden und Verfolgungen entgegen geht, die ein so edler Mensch, ein so guter Sohn, als Ihr, schwerlich ohne den Verlust seiner Ruhe bestehen könnte; denkt, daß, wenn Ihr hier Wünsche genährt, wenn Ihr Schritte gethan, die Euch irgend einen theuren Gegenstand zum Schutze übergeben, dann Eure Lage schwieriger ist, als Ihr übersehen könnt – und glaubt mir, daß ich genug davon unterrichtet bin, um für Euch und Eure Zukunft zu zittern.« – Er hatte diese Rede mit einer Energie gesprochen, die ihr volles Gewicht dadurch bekam, daß sie Wahrheit enthielt. Er wußte sehr wohl, daß der junge Graf sie als solche empfinden mußte und die Wirkung ihm denselben in die Hand geben werde. Wir wissen es, wie er gegen den Einfluß dieser Ueberzeugung angekämpft, in welchem völlig fremden Gegensatze die Welt seiner Mutter zu der seiner Liebe ihm erschienen war, und wie jene nur endlich besiegt zurück wich, da ihr augenblicklicher Einfluß fehlte, und diese ihn zugleich als Mensch vervollständigte und veredelte.

Aber die Wahrheit, die der Marquis auszusprechen wagte, sie lag nur zurückgedrängt in ihm – und er fühlte sie in ihrer ganzen Stärke hervortreten, und mit ihr den Ernst seiner Lage – ach, den er so gern diese wenigen Tage noch von sich abgelehnt hätte! Der Blick, der, aus seinem Innern hervortretend, seinen ganzen tief und leidend bewegten Zustand verrieth, hätte an keinem menschlichen Herzen ungerührt vorüber streifen müssen – der Marquis bestimmte blos danach die erreichte Wirkung einer Worte.

»Es ist vergeblich« – rief der junge Mann, von dem plötzlich erregten Sturm erschöpft in einen Sessel sinkend, – »Euch die Lage, in der ich bin, und meinen Seelenzustand zu entziehn! Gott gebe Euch den Willen und das Herz, mir beistehen zu wollen, da es gewiß in Eure Macht gegeben ist.« –[198]

»Haltet ein, lieber Graf, – mit einem zu schnellen Vertrauen und bedenket wohl, ob das, was Ihr mir sagen wollt, nicht bloß mich durch seine Kenntniß in Verlegenheit setzen wird – denn, wenn ich gern Frieden stiftend einschreiten will, so vergeßt doch in diesem Augenblicke nicht, daß ich mich mit Wort und Ehre gegen Eure Mutter verpflichtet habe, über Euer unläugbar auffallendes Betragen Euch selbst zu befragen und Euch mit meiner – vielleicht größeren – Lebenserfahrung beizustehn, wenn Eure Jugend Euch auf irgend eine Weise verwickelt haben sollte. Daher mein lieber Freund – ich warne Euch vor mir, ich bin der Agent Eurer Mutter, ich muß redlich bleiben gegen sie – und damit, denke ich,« setzte er lächelnd hinzu, »auch gegen Euch!«

»O!« rief der junge Graf mit unschuldigem Enthusiasmus – »wie erkenne ich die Sprache eines Ehrenmannes in Euch! Wie tief fühle ich eben, Ihr, gerade Ihr thatet mir Noth! Vergebt, daß die schmerzliche Ueberraschung des ersten Augenblicks, die mich in Euch nur die Störung des seligsten Erdenzustandes erblicken ließ, mich Euch kalt und ohne Haltung gegenüber stellte – innig bereue ich es jetzt, und gut will ich es machen, wenigstens durch unbedingtes Vertrauen!«

»Ich bitte Euch, mein lieber Graf, haltet ein! Ich habe nichts in Eurer Weise vermißt, weil ich nichts Anderes erwartet habe; auf irgend eine Art mußtet Ihr darauf ausgehn, Eure Verhältnisse zu uns los zu werden, das war mit halbem Blicke zu übersehen, und die Erinnerung daran durch meinen Anblick konnte nicht erwünscht sein.« –

»Nein, nein, bei Gott im Himmel, nicht los wollte ich mich von meinen alten, und mir gewiß heiligen und theuren Verhältnissen machen – was ich empfinden lernte, hat mich nur mit festerer Ehrfurcht an Alles gefesselt, was die Natur in jenen Verhältnissen mir schenkte; nur in Uebereinstimmung[199] trachte ich durch langsam schonendes Vorschreiten die Widersprüche auszugleichen, die, aus verschiedenartigen Lebensverhältnissen entstehend, hier möglicher Weise die edelsten Menschen, jeden auf seinem Standpunkte in gleichem Rechte, zu entfernen vermöchte, ohne mein vorbereitendes vermittelndes Einschreiten.«

Der Marquis zuckte die Achseln leise und wie sich verbeugend, und in seinen niedergeschlagenen Augen war keine Entgegnung zu lesen.

Bei weitem muthloser fuhr der junge Graf fort: »Was ich Euch zu sagen wünsche, wird Euch allerdings überraschen – so vorgeschritten, so abgeschlossen werdet Ihr die wichtigsten Verhältnisse meines Lebens nicht wähnen.« – Das Herz stand ihm hier still vor der wichtigen Entdeckung. Er hielt inne. – »Aber häufig thun wir in dem Augenblicke der Entmuthigung, wo uns die Dinge in bedrohlicher Zudringlichkeit nahe rücken, und wir zwischen dem Wunsche, ihnen zu entrinnen, und dem, sie zu beendigen, mitten inne stehen, einen verzweifelten Sprung gerade hinein – welches leicht den Anblick eines kräftigen Entschlusses gewährt und oft, so weit davon entfernt, bloß das Uebertrennen der inneren Schwächen verrathen könnte!« Der junge Graf war gewiß mehr im letzteren Falle, als er, plötzlich heftig aufspringend, mit lauter Stimme dem Marquis zurief: »Ich bin vermählt! vermählt seit gestern früh!«

»Unglücklicher!« stöhnte der Marquis, sein Gesicht verhüllend, als erschütterte und überraschte ihn die Mittheilung dessen, was er selbst mit angesehen.

»Unglücklicher?« rief der Graf jetzt – »Unglücklicher? O, sagt lieber: Glücklicher! Glücklicher, als ich es je ahnete und träumte, glücklicher, als ich es ahnen konnte, da mir der Sinn erst erweckt werden mußte für ein solches Glück durch dies Glück selbst! Glücklicher, mein Freund, als Ihr es kennt und zu bieten habt in Euren Pallästen, unter Euren Festen, in Euren[200] geträumten Vorzügen, Begünstigungen und Besitzthümern – ein Glück, mein Freund, so groß, so heilig, so veredelnd, daß, wem es einmal die Brust erweitert, wem es einmal, wie die Glorie eines höheren Lebens, die Stirn berührt – eingeweiht ist unter die Begünstigten des Himmels, und bliebe es ihm nur als Geschenk eines Augenblicks, berührte es ihn nur, wie der Duft einer Blume!« – Er hatte sich leicht geredet, mit dem Geständniß war der Schatten verjagt, und seine Seele fand Kraft, das Entzücken auszudrücken, das noch in voller Stärke ihn beherrschte. Aber wem gab er in jugendlicher Kurzsichtigkeit dies Paradies seines Herzens hin – einem Feinde, der vor Allem mit brennenden Neide fühlte, daß dieser von ihm so verachtete Jüngling aufs Neue ein Glück gefunden hatte, was seine Seele bis zur Begeisterung erhob. Gleich war es, was er gefunden, ihm als ein solches erscheinen konnte, und hätte er es noch so tief verachtet, hätte es kein Lächeln über ihn zu erzwingen vermocht, es war genug, daß es diesem ewig glücklichen Thoren so er schien, um es ihn mit bitterem Zorne beneiden zu lassen. Wie fern schien ihm der Augenblick, wo er endlich jenen dem Leben verfallen sehen, wie ferne, wo der Günstling äußerer Vorzüge sich ein Bettler fühlen sollte!

Der Graf war kein Physiognomiker, er verstand die jähen Blitze nicht, die das Gesicht seines Gefährten überzuckten, und dieser gab der Beobachtung nie lange Zeit zu Entdeckungen.

»In der Stimmung, worin Ihr seid, mein lieber Graf,« hob er so nüchtern und kalt an, als habe er selbst auch nicht den entferntesten Antheil daran – »würde es ein müßiges Geschäft sein, Euch über die nothwendig entgegengesetzte Seite, die Euer Glück haben muß, die Wahrheit aufzudecken. – Ihr habt mir jetzt entweder zu viel oder zu wenig gesagt, Ihr mußtet entweder auch gegen mich schweigen, oder Ihr müßt mir jetzt mehr sagen, denn so kann ich Euch nur schädlich werden,[201] und so ungern ich mich mit den Geheimnissen Anderer belaste, dem alten Jugendgefährten gegenüber darf ich mich der Last nicht entziehen.«

Der unschuldige junge Mann eilte in die spröde Umarmung des Marquis, und legte ihm dann ein Geständniß ab, worin der ganze Inhalt sich auf Gefühle bezog – so ohne Thatsachen, so ohne Gewicht, ohne Gehalt in den Augen des Zuhörenden, eine so alberne Schäfergeschichte, daß er seiner ganzen Selbstbeherrschung bedurfte, um nicht in Lachen auszubrechen, und welche ihm nur dann wichtiger ward, wenn er sah, wie auch diese Kinderei das Herz des Erzählenden so überschwänglich beglückt hatte, und die sich aus ihrem Nichts nur dann erhob, wenn er bedachte, wie das von ihm so geschickt zugelassene Ende des Schäferspiels die verderblichsten Verwickelungen über seinen Gegner bringen mußte.

»Sie ist mir nun fürs Leben gesichert,« schloß der junge Graf seine rührende Erzählung, »und obwol es mir das Herz bricht, sie jetzt verlassen zu müssen, ich fühle die Nothwendigkeit davon und werde sie ja nur verlassen, um ihre Zukunft vorzubereiten. Ich werde meine Majorennität, die Uebernahme von Ste. Roche abwarten und dann meinen theuren Aeltern meine Vermählung eingestehen. Ich täusche mich nicht, es wird keine angenehme Nachricht für sie sein – aber wenn sie den Engel sehen werden, den ich ihnen zuführen kann, dann werden sie Alles begreiflich finden, und da Fennimor's Vater einer vornehmen Familie als jüngster Sohn angehört, so ist auch ihre Geburt keine Beleidigung für dieselben. Als meine rechtmäßige Gattin bleibt Fennimor hier vor den Augen der Welt noch so lange verborgen, bis der Fall eintritt, dessen Möglichkeit uns zu diesem Schritte bewogen, und wenn Gott ihr durch den Tod ihres Vaters die sichere Heimat raubt, begiebt sie sich alsdann unter dem Range meiner Gemahlin, der all ihren[202] Schritten die anständigste Freiheit sichert, nach Frankreich – und ich führe sie nach meinem Eigenthume, nach Ste. Roche, bis meine Aeltern mir erlauben, sie ihnen vorzustellen.«

Was hätte der Marquis dagegen zu erinnern gehabt! Hätte er doch selbst es nicht klüger einleiten können, um die freiste Hand für die Umstaltungen zu gewinnen, die dieser leichte, rosige Himmelsweg erleiden mußte; und mit vermehrter Verachtung gegen den Knaben, der unklug und spielend das Leben nach seiner Laune zu leiten dachte, und so blind für die Hindernisse war, die sich riesengroß ihm entgegenstellten, hätte er ihn vielleicht zu gering für seine Machinationen gehalten, hätte der Neid ihm nicht einen geheimnißvollen Reiz verliehen. Freundlich lächelnd stand er daher auf, und den glühenden Erzähler auf die Schulter klopfend, rief er: »Und welche Rolle habt Ihr mir dabei zugedacht? die des Verräthers gegen Euch oder gegen Eure Mutter, die mir gänzlich vertraut?«

»Die des theilnehmenden, liebevollen Freundes gegen uns beide!« rief der Graf vertrauungsvoll. »Seid der, der einst, wenn ich mein Bekenntniß ablege, vortreten kann und sagen: ›Vertraut ihm, ich kann Zeugniß ablegen, denn ich selbst sah den Engel, den er Euch als Tochter zuführt.‹«

»Seid sicher, Graf,« entgegnete der Marquis lachend – »dies Zeugniß wird Euch wenig fruchten. Wenn dieser Engel nicht unter dem heiligen Scheine einer Fürsten- oder Grafen-Krone vor Eure Mutter treten kann, wird sie ihr immer die unwillkommene Tochter sein – doch für mich ist hier mit dem besten Eifer, den Wünschen Eurer Mutter gemäß, nichts mehr zu thun und zu ändern, und diese Ueberzeugung macht mich für den Augenblick zu einem willenlosen Werkzeuge in Eurer Hand.«

»Nun, so folgt mir denn! – Diese Hand soll Euch in eine Welt führen, die Euch mit Staunen und Entzücken[203] erfüllen wird, und wofür Ihr in der Euren keinen Maaßstab, keine Aehnlichkeit finden könnt.«

»Das glaube ich selbst!« – erwiederte der Marquis gedehnt, und Beide verließen das Schloß, um sich nach der Abtei zu begeben. –

Die junge Frau saß unter den hohen Schattengewölben des Buchenwaldes in dem weichen Moose, welches ihre Leonin zu einem kleinen Sitz angehäuft hatte, und in ihr war, über alles Erlebte hinweg, nur der eine einzige Gedanke, daß Leonin abreisen werde. – Der schöne Nacken, mit dem gedankenschweren Haupte war vorn übergebeugt, und die zarten Finger lagen in einander, als wären sie im Gebete vergessen, in einem Gebete, das nur lautes Reden mit Gott war über ein unaussprechliches Weh, das er ihr auferlegte, worüber sie ihn betend befrug, und ihm vorstellte, wie sie es nicht ertragen könnte. Ihr unschuldiges Herz sträubte sich unter den ersten Wunden des Schmerzes, sie dachte immer: da wird es Gott plötzlich wenden, wenn ich ihn bitte. – Sie saß, als ob sie auf ihn wartete, und sehnte sich nach ihm mehr, als nach dem Geliebten, denn sie wußte ihn damit einbegriffen, wenn Gott das sendete – was, das mußte eben Gott wissen, weil sie es nicht finden konnte; nur jedenfalls mußte es nicht Trennung sein. – So erschrak sie fast, als Leonin früher aus den Bäumen hinter ihr hervortrat, als sie das Erbetene von Gott erhalten. – Ihre Wünsche erfüllten sich bisher in dem Kreislaufe ihres Lebens von selbst, und ihr Gemüth war so milde geleitet worden, daß sie es nicht wußte, wenn ihr der Vater leis ein oder den andern Wunsch hinweg nahm, und indem sie that, was er wollte, schien es ihr immer eine Erfüllung des Selbstbegehrten. Es gehörte zu dem patriarchalischen Pathos ihrer Erziehung, ihrer Gemeinschaft mit der heiligen Schrift, ihrem wichtigsten Geschichtsbuche, daß Gott eine redende Person für sie war, der Erzvater, zu dem sie[204] mit großem Ernste sprechen durfte. Wie Abraham aus der Hütte trat und die Engel begrüßte, die der Herr sandte, Sodom und Gomorra zu zerstören; wie er mit ihnen liebreich hin und wieder redete, und ihnen die möglich dort gerecht Befundenen abhandelte, und sie ihm nachgaben, weil er nicht nachließ zu bitten – so erschien ihr ein Jeglicher zu Gott gestellt, und sie fand sich in dieser Beziehung vollkommen sicher und berechtigt. – »Ich will mich nicht von Dir trennen,« sagte sie, als Leonin sich zu ihr setzte, und richtete sich ruhig, wie für Lebenszeit, an seiner Brust ein, »und ich wartete eben auf Gott wie es werden soll.«

»O,« rief Leonin, »daß er uns den Ausweg sendete, der das Härteste von uns abhält, was uns treffen kann – und doch sehe ich ihn noch nicht!«

»Ich auch nicht,« sagte sie – »darum muß er von dort her kommen, denn ich kann Dich nicht lassen! – Aber was hast Du nur?« fuhr sie fort und richtete sich auf – »Du hast ja was Fremdes! Was ist Dir? – Du bist nicht so still – es ist Dir was vorüber gegangen?« –

Erstaunt blickte Leonin sie an und bemerkte an ihrem unruhig forschenden Blick eine Bewegung, über die er erschüttert ward.

Nachdenkend fuhr sie fort, als redete sie mit sich selbst: »Der alte Tobias sagt: Der Böse geht umher und macht erst ein Zeichen an dem, den er haben will, das kennt er wieder, wenn's auch noch so fein ist, aber die Engel merken es gleich und bemühen sich, es auszulöschen mit ihren Thränen.«

»Nun,« lächelte Leonin und zog die sanft von ihm Abgebogene wieder an sich – »wie fällt Dir das bei mir ein? Bemerkt mein Engel Fennimor ein solches Zeichen?«

»Still, still,« sagte sie mit andächtiger Furcht, »nur die himmlischen Engel kennen das, und die behüten sehr lange die[205] Menschen, damit es nicht geschehe.« – Sie richtete sich auf, und sah ihn so forschend und befremdet an, als suche sie das Zeichen. Er erhob sich nun auch lächelnd, das wunderbare Wesen betrachtend, und ihre Augen erhoben sich zu dem Aufgerichteten, als sie plötzlich den Baum streiften, der hinter ihnen stand, und sie entsetzt zusammen fahrend, an Leonins Brust stürzte.

»Fennimor! Fennimor!« rief Leonin, außer sich – »was ist Dir, mein geliebtes Kind? Fürchte Dich nicht, Du bist ja bei mir, an meiner Brust!«

»Die Schlange! die Schlange!« stöhnte Fennimor, ihr Antlitz angstvoll verbergend – »der Böse ist doch da!«

Fortgerissen von der phantastischen Erregung seines kindlichen Weibes, wandte er sich schnell um und sah noch, wie der Marquis de Souvré, der auf Crecy's Bitte nicht zugleich mit ihm hervorgetreten war, um Fennimor's Vorbereitung abzuwarten, den Kopf zwischen den an diesem jüngern Baume noch niedrig hängenden Zweigen zurückzog. Leonin konnte leicht denken, daß Fennimor, die in ihrer Bibel die Abbildung der Schlange hatte, die mit einem Menschenkopfe durch die Zweige des Baumes der Erkenntniß blickt, das bleiche, aschfarbene Gesicht des Marquis dafür angesehen hatte. Aber so natürlich die Erklärung war, so nah' es ihm lag, dem armen bebenden Kinde diese Auslegung zu geben – ein unaussprechliches Gefühl hatte seit Ankunft des eben so wunderlich verwechselten Mannes allen Lebensmuth in ihm niedergedrückt. Ein betäubendes Sinnen erfaßte ihn, das Wesen noch schützend in seinen Armen haltend, das von ihm allein das ganze Leben hoffte, und mit so leiser Ahnung die Berührung empfunden hatte, die er aus seiner alten, ihr so gefährlichen Welt erlitten. – So geschah es, daß er unentschlossen schwieg, sie sanft aufrichtend durch das Gefühl seiner Nähe, seiner Liebe, seines Schutzes.[206]

Fennimor vertiefte sich auch bald gänzlich in dieses ihr am verständlichsten gewordene Gefühl, und sagte bloß, ängstlich aus ihren Händen mit den thränenschweren Augen zu ihm aufblickend: »Was war es denn?«

»Was ich versäumt habe, Dir gleich zu sagen, theure Fennimor! Ein Freund aus Paris, den ich im Schlosse auf mich warten fand, ein Freund, dem ich entdeckt, daß Du mein liebes Weib bist, und der nun kommt, Dich als solches zu begrüßen.« –

»Ach nein, ach nein!« sagte Fennimor – »das soll er lieber lassen, denn – denn ich wollte lieber, ich brauchte ihn nicht zu sehn, da er der Schlange gleicht, vor der ich mich immer so gefürchtet habe.«

»Das wirst Du nicht finden, wenn Du ihn näher kennst, gute Fennimor; denn davon behält er nichts, wenn Du mit ihm reden wirst – und ich möchte gern, daß Du zu ihm freundlich wärst.«

Fennimor schauderte leis zusammen, aber wie ein gutes gehorsames Kind strich sie die Locken von der Stirn und sagte mit unsicherem Tone: »Wenn Du es denn gern haben willst, da will ich mich nicht mehr fürchten und will ihn geschwind sehen, damit es vorbei ist.«

Dieser zärtliche Gehorsam war so von der Angst beflügelt, daß Leonin mit innigem Mitleiden zu ihr nieder sah – ach, und wie viel hätte er darum gegeben, sie den Blicken entziehen zu dürfen, die sie so ängstlich fürchtete! Es war ihm, als könnte er sie nicht aus seinen schützenden Armen lassen, als gehörte sie ihm nur so lange sicher, als jene Welt sie noch mit keinem Hauche berührte.

Aber sie selbst machte sich los, richtete sich auf und schaute den Baum an, der nichts zeigte; dann that sie einen Seufzer, an dem sie sich erholte, und entdeckte nun selbst den Marquis, indem sie in den Wald zeigte, wohin er, ihnen den Rücken zuwendend,[207] zurückgekehrt war. Beide gingen ihm nach – Leonin eilte voran – und als er ihn erreicht, blieb Fennimor stehen – und sah ihn daher kommen neben ihrem Liebling – und die Angst stieg in ihrem Herzen auf – und sie sah, wie unähnlich sie sich waren – und es wollte ihr unmöglich scheinen, daß sie zusammen gehören könnten.

Aber Leonin lächelte ihr freundlich entgegen, das bezwang Alles in ihr, das weinerliche Gesichtchen hellte sich auf, und sie ging jetzt auch vorwärts. »Sie sind Leonin's Freund – das ist recht schön und macht Ihnen gewiß viel Vergnügen;« sagte sie, leis grüßend und das Haupt beugend, zum Marquis – »wir wollen Sie zum Vater bringen, und Sie sollen von uns allen sehr freundlich gegrüßt sein!« Jetzt athmete sie tief auf und suchte nach Luft, die mit einem Mal weg war – und blickte auf Leonin, ob er mit ihr zufrieden sei.

Ach, wie hätte er nicht, da er wußte und in jedem schwerfälligen Worte fühlte, wie gepreßt ihr Herz war, und wie sehr sie sich bemühte, ihm gehorsam zu sein. Ein Blick, der dies Alles enthielt, stärkte mehr, als jedes Andere, ihr wunderlich gelähmtes Innere.

Der Marquis konnte wohl nicht eigentlich in Verlegenheit kommen, nur verweilte er sich lange bei dem Anblicke der nunmehrigen Gräfin Crecy, und sie schien ihm unergründlich schön, das heißt eine Schönheit, der es nicht gleich nachzuweisen, warum sie es war.

»Sie sind sehr gnädig,« sagte er, sich tief verneigend, – »Jemand willkommen zu heißen, der Sie, fürchte ich, unangenehm erschreckt und das Gespräch mit Ihrem Freunde unterbrach. Lassen Sie mich hoffen, daß es mir später gelingen wird, Sie mit diesem Eindrucke zu versöhnen.« –

»Nicht wahr, Fennimor, Du bist schon wieder ganz ruhig?« rief Leonin, verlegen über das Schweigen, womit sie die Worte[208] des Marquis anhörte – »hier in unserer Einsamkeit treffen wir fast nie auf einen Fremden. – Sieh', liebes Kind, der Herr Marquis Souvré kommt von Paris von meiner Mutter.«

Augenblicklich änderte sich Fennimor's ganzes Wesen. Aus ihrer Erstarrung erwachend und Alles über diese Nachricht vergessend, schlug sie freudig die Hände in einander, und dem Gegenstande ihrer Furcht näher tretend, als sehe sie in ihm nicht mehr denselben, rief sie freudig aus: »O, sagt, sagt – von unserer lieben Mutter, von der schönen, herrlichen Fürstin Soubise? Kommt Ihr darum hieher? Soll ich gleich mitkommen? Nicht wahr, es ist ganz gleich, ob er majorenn ist oder nicht? Ihr wird das auch gleich sein. – Leonin! Leonin!« rief sie, in ihren feurigen Combinationen jetzt an den Punkt gekommen, der alle überbot – »das – das ist der Ausweg, Leonin! Dein Freund, den die Mutter schickt, der schon Alles weiß – das ist der Ausweg, den Gott sendet!«

Leonin versuchte sie an seine Brust zu ziehen. Er wollte ihr den Ausdruck verbergen, der sein Gesicht einnahm, und der ihre Hoffnungen widerlegte, aber sie hielt ihn von sich und suchte mit leuchtenden Blicken die Antwort ihm abzufragen.

»So weit ist es zwar noch nicht, mein geliebtes Kind,« sprach er sanft und traurig, »doch soll uns ein redlicher Freund, wie dieser, Trost und Rath ertheilen, und wir werden durch seinen Beistand leichter das Rechte finden.«

»O thut das,« sagte sie innig und tief bewegt, »o thut das! Seid uns ein redlicher Freund und lehrt uns, wie wir es machen müssen, um uns nicht zu trennen, denn das thut weher – weher, als der Tod!« –

Der Marquis konnte kaum das Zucken der Achseln hindern, womit er dies ihm so jämmerlich erscheinende Schäferspiel vor seinen Augen gern begleitet hätte, und er verzeichnete nur zwei Dinge in seinem Gedächtnisse, ihre romantische[209] Schönheit und Crecy's unverkennbar große Leidenschaft für sie – Hoffnung genug, ihm durch die Ansprüche, die feindlich dieser Richtung entgegen traten, die Sicherheit des Glücks zu entreißen. –

»Der Graf Crecy weiß, daß ich erst hier von dem Vorgefallenen unterrichtet ward – die Frau Gräfin hat keine Ahnung von dem Vorgefallenen, und ich kann nicht verhehlen, daß ihr vielleicht diese Nachricht mehr unerfreulich scheinen möchte, da sie bisher an das treue und vollständige Vertrauen ihres Sohnes gewöhnt war.«

»Ach,« sagte Fennimor tief seufzend, »da sprecht Ihr ein wahres, verständiges Wort! Das hat mir immer vorgeschwebt – aber ich wußte es nicht zu sagen, und muß mich jetzt recht wundern, daß es Dir und dem Vater nicht eingefallen ist. Die arme Mutter! Das hat gewiß keine Mutter verdient, und Deine Mutter am wenigsten.« – Sie hatte sich während dessen in das Moos gesetzt, und unwillkürlich thaten es beide Männer ihr nach. Wie tief bekümmert sah sie aus, und der Marquis war zu guter Menschenkenner, um nicht zu wissen, sie war die Betrügerin nicht; also der Vater – schloß er sicher weiter.

»Die Umstände,« erwiederte der Graf ernst, »haben Schritte nöthig gemacht, die, wenn sie auch der Abweichung von einer ehrwürdigen Pflicht sich scheinbar schuldig gemacht haben, doch ihre innere Rechtfertigung nicht entbehren. Ich hoffe meine Mutter hievon zu überzeugen, um so mehr, da sie einsehen wird, daß ich mir ein so seltenes Glück, als Gott mir in Deinem Besitze zuführte, nur sichern konnte, wenn ich die ehrenvollsten und sichersten Mittel zu Deinem Schutze aufrief. Als meine Gattin kann ich Dich selbst allein stehen lassen, wenn meine nächsten Pflichten dies vorerst nöthig machen, und dieser Rang wird Dir Freiheit geben, mir überall zu folgen, und mir das süße Recht, überall Dein Beschützer zu sein.«[210]

»Ach,« sagte Fennimor, erquickt durch diese Worte – »das wird gewiß Deine liebe, herrliche Mutter eben so einsehen; denn, wenn Du sprichst, dann fühle ich immer, daß Du Recht hast, und bin um Alles ruhig. Nur das Eine, nur, daß wir uns trennen sollen, das, hoffe ich immer, wird nicht geschehen, weil es so sehr unnatürlich ist. Glaubt Ihr das nicht auch, Herr Marquis, und wollt Ihr uns nicht Rath geben, wie wir Alles thun können, was nöthig ist, um dies Unglück zu vermeiden?« –

»Es stimmt vollkommen mit Eurer Unschuld und mit der völligen Unkenntniß der Verhältnisse der Welt, wie mit den besonderen des Grafen Crecy zusammen, daß es Euch so schwer fällt, einzusehen, in welche Schwierigkeiten derselbe sich durch sein Verhältniß zu Euch gestürzt hat. – Seiner Liebe zu Euch, scheint es, ist es zu schwer gefallen, sie Euch aufzudecken, und vielleicht ist darum meine Ankunft eine rettende Auskunft zu nennen, wenn ich Euch Eure wahre Lage enthülle, deren geringe Zugeständnisse Ihr dann bald einsehen werdet – oder doch unfehlbar Euer Vater, der wohl schwerlich aus Unkenntniß der damit herbeigeführten Schwierigkeiten die rasche Handlungsweise meines Freundes zulassen konnte.«

»Ich muß Euch bitten, Marquis,« hob hier der Graf mit beleidigtem Stolz an, »meine Gemahlin nicht unnütz mit den Thorheiten der Welt bekannt zu machen und ihre reine Seele durch die Ansichten zu trüben, die dort als wichtig hervortreten; sie soll von ihnen nicht getrübt werden, und ich werde das Glück meiner Verbindung nicht eher aussprechen, bis ich ihr dort die Wege geebnet und sie sicher gestellt habe gegen die abweichenden Anforderungen, von deren dort geltender Wichtigkeit sie, Gottlob, eben so wenig, als ihr verehrungswürdiger Vater eine Ahnung hat!«

»Nicht zu läugnen, daß diese naive Unkenntniß aller Verhältnisse Euch bei dieser Dame und ihrem eben so unwissenden[211] Vater ein leichtes Spiel gaben!« sprach der Marquis mit absichtlich kaum verhehltem Lächeln. –

»Meint Ihr mit diesem Ausdrucke meine Vermählung mit Miß Lester? wodurch sie für Alle, die es wissen, rechtmäßige Gräfin Crecy ist?« –

Der Marquis verneigte sich bloß, wie Jemand, der nichts erwiedern will, und als auch Leonin ungeduldig aufstand, sprach Fennimor ruhig und zutrauensvoll: »Wir wollen zum Vater gehen – denn er versteht Alles am Besten, und wenn Ihr nicht einig seid, wie mir scheint, wird er Euch angeben, wir Ihr das machen müßt.«

»Ich weiß nicht,« sprach der Marquis frostig, »ob es dem Herrn Grafen gemäß scheinen wird, einen so unwillkommenen Gast, als mich, dort einzuführen, wo er für gut gefunden hat, Verhältnisse unerörtert zu lassen, die gerade ich, von seiner verehrungswürdigen Mutter gesandt, in Erinnerung bringen sollte.«

»O,« rief Fennimor lebhaft, »theilt uns Alles mit, was diese von uns so hochverehrte Mutter Euch aufgetragen hat, da seid Ihr,« setzte sie lächelnd hinzu, »am rechten Orte – von nichts höre ich so gern, wie von der schönen erhabenen Mutter meines Leonin's, und all ihre Verhältnisse möchte ich eben gern wissen, denn Alles ist gewiß hoch-herrlich und erhaben an ihr.«

Beide Männer schwiegen einen Augenblick vor Fennimor's unerschütterlich unschuldigem Vertrauen, und wenn Leonin fast mit Andacht den sicheren Frieden anschaute, mit dem sie allen nur zu verständlichen Warnungen des unerweichten Marquis entgegen stand – so konnte dieser, der ihre Sicherheit gleichfalls erkannte, nur mit bitterem Unwillen in diesem geringen, unberechtigten Wesen dieselbe Sorglosigkeit gewahren, die immer nur auf Glück zählt, den Gegensatz noch nicht kennend, und welches dieselbe Eigenschaft war, mit der ihn Leonin so bitter erzürnt hatte.[212]

»Doch,« setzte sie mit dem ernsten Pathos hinzu, der ihr so eigenthümlich war, »doch hatte ich mir immer gedacht, ein Freund, der daher käme, zeigte größere Weisheit; denn Ihr sagt so wenig von den schönen Dingen, die man begreifen kann, daß sie dort geschehen, und dagegen viel Unverständliches. Es muß dort ganz anders sein, auch die Sprache – doch nicht wahr, Deine erhabene Mutter redet so schön, wie – etwa mein Vater – und Naimä, die Schwiegermutter Ruth's, oder die Königin Esther vor Ahasverus, oder wie die Königin Elisabeth zu dem Volke? Ach, wenn ich sie nur erst sähe und hörte! Wie habe ich mich immer gesehnt, eine erhabene Frau zu erblicken nach Gottes Willen.«

»O,« rief Leonin, aufs Tiefste gerührt, »wer kann Dich hören und sehen, und nicht überzeugt werden, Deine Welt sei die eigentlich menschliche Sphäre, alles Andere eine Larve – ein Trug – eine elende Komödie, die der Natur des menschlichen Daseins Hohn spricht, und der Absicht Gottes!«

»Nein, nein!« sprach Fennimor hastig; »was sagst Du da? – Du weißt ja, meine Welt, wie Du es nennst, ist noch eine ganz kleine, darum muß ich eben die andere dazu kennen lernen, wenn ich Gottes ganze Herrlichkeit begreifen soll – und die Welt, worin Deine Mutter herrscht, die ist eben die große wichtige, wo die Könige leben und das Volk in den unermeßlichen Ländern! – Darum denke ich an diese Mutter so gern, die mich umfassen wird und schützend verbergen, wenn ich erbeben werde vor so viel Weite, Größe und Gewalt.«

»Versteht Ihr jetzt dies Wesen?« rief Leonin halb zürnend, halb entzückt dem Marquis zu.

»Vollkommen!« erwiederte der Marquis mit einem Ausdrucke, der jede Auslegung zuließ – »und ich überlasse es Eurer eigenen Beurtheilung, welche Rolle ihr mit diesen Begriffen zufallen wird in Eurer Welt und vor Eurer Mutter.«[213]

Leonin's Herz zog sich mit einem Schmerz und einem Unwillen zusammen, wie er ihn um so bitterer empfand im Gegensatze zu der Reinheit des jetzt erst hier erkannten Lebens, welches keinen Widerspruch gegeben hatte, weil die Meinungen der sich Gegenüberstehenden immer offen da lagen, und nur ein liebevolles Forschen um das gegenseitige Verstehen eintrat, was dann leicht gefunden war, und womit sich Alle befriedigten, selbst bei hervortretender Verschiedenheit.

Nichts giebt uns mehr das Gefühl einer unübersteiglichen Schranke, als wenn wir mit unsern höheren Ueberzeugungen vor Menschen treten, welche uns weder verstehen wollen, noch können, weil auf dem Wege, den sie verfolgen, sich nur die materielle Seite der Dinge offenbart.

Je freisinniger, je umfassender, je geistiger wir das Leben zu erforschen suchen – je seltner sind wir frühzeitig fertig mit Ansichten und Meinungen, denn nur das geringere Bedürfniß schließt schnell mit dem kleineren Gesichtskreise ab. Wer mit weiterreichendem Streben den Weg beginnt, möchte nicht mit jenem Zustande tauschen, wenn er auch anscheinend in Vortheil setzt, den Dingen das Geheimniß des materiellen Gelingens, ihrer subjektiven Brauchbarkeit abfrägt und mit diesem Inhalte eine beruhigende feste Stellung zu ihnen giebt. Aber es entsteht dann von jener Seite eine ironische Ueberlegenheit, die sich durch den sichtbaren Erfolg zu rechtfertigen scheint, die sich das Lob der Menge und ihre eigene Befriedigung sichert, und den begeisterten Forscher belächeln läßt, der in dem Leben, das sie so bequem handhaben, noch einen Geist entdecken will, dessen Flügelschlag er hört, und dessen Gemeinschaft er aufzufinden trachtet in demselben Leben, das sie in ihrer Auffassung schon ausgebeutet glauben.

Wenn wir mit dem Verlangen, verstanden zu werden, in die Kreise dieser Frühfertigen gerathen, wird unsere fromme[214] Unsicherheit verspottet, und wir haben Mühe, unser Selbstgefühl zu retten, welches wir oftmals nicht durch Beweise vertreten können, da Geister sich nur citiren lassen, wo die Zauberformel verstanden wird. Rette sich, wer kann, bei Zeiten! denn der dornenvolle Weg zwischen Ergreifen und Verwerfen, zwischen Erkennen und Erblinden, zwischen Hoffen und Verzweifeln, den der sehnsüchtige Forscher wandelt, hat als Ziel, als Ideal aussöhnende Ruhe in allen Erscheinungen der Erde, vor Augen; den großen Zwecken gegenüber, vom Selbstgefühle verlassen, imponirt ihm die materielle Ruhe, die ihm so sicher von jener Seite entgegentritt, und er wird ihre sich unterordnende Beute, oder er geräth in Zweifel, die sein höheres Bedürfniß anfeinden oder es langsam zerstören.

Leonin rettete sich nicht, obwol er die Hand fühlte, die sich nach ihm ausstreckte, bereit, gleich einem Wachsbilde sein neu begonnenes Leben zu erdrücken; ein Schauer beschlich ihn, aber er war nicht geboren, das wogende Innere durch kräftige Gedanken zur Ruhe und Klarheit zu bringen; er ließ unheimliche Anregungen sich mehren, ohne sie zur Rechenschaft zu ziehen, und wartete stets auf die Hand, die von Außen kommen möchte, in ihm aufzuräumen. Und noch wachte ja sein guter Engel über ihm und hielt ihn fest auf dem heil'gen Boden, wo ihm ein so reiches, tief gehendes Verständniß geworden war.

Aber zuerst ließ Fennimor seine Hand los, um allein nach dem schon sichtbaren Hause zu gehn; ihre ahnende Seele fühlte die Gemeinschaft mit dem Geliebten verkümmert durch den Fremden, der sich von ihren Vorstellungen nicht bezwingen ließ.

Leonin genoß ihren Anblick, wie sie vor ihnen herschritt, und der Marquis prüfte mit eifersüchtiger Schärfe ihren Anstand. Wie schwer ward es ihm, über sie einig zu werden. – Dieser kindliche, spielende Schritt, dieser gleitende Fuß, der noch nie fehl trat, oder die leichte Gestalt im unebenmäßigen[215] Takte bewegte, wo hatte sie es gelernt unter ihren hohen Bäumen? Sollte er der Natur ein Recht zugestehen müssen, was hier nicht einmal vertreten ward durch den Ursprung hohen Blutes? – Er zog sich zusammen vor jeder Combination, die ihn seinem festgeschlossenen Ideenkreise entführte; aber dies Wesen streifte ihn wie ein Geheimniß, das sich nicht von selbst enthüllen wollte, und er grollte ihr um so mehr.

Beide Männer folgten so, beherrscht von demselben Gegenstande, ihrem leichten Schritte – Beide wußten sich aber nichts zu sagen, Jeder von der abweichenden Meinung des Andern überzeugt und dennoch sicher, in der nächsten Zeit sich demselben noch nicht entziehn zu dürfen.

So war Fennimor schon länger hinter den Thüren verschwunden, die von dem Wohnzimmer in den Wald führten, ehe die langsam Folgenden diesen näher kamen, und schon kehrte Fennimor zurück und öffnete leis und mit Vorsicht die doppelten Flügel, zurückschauend, ob die Strahlen der Sonne den Lehnstuhl erreichen würden, auf dem jetzt der Greis sitzend zu sehen war, der, wie es schien, vom Schlummer gebeugt, das Haupt auf die Brust gesenkt hatte. Fennimor bemerkte die Nahenden nicht; in anderer Art angeregt, gab sie sich dieser Richtung ohne Theilung hin. Die Männer sahen sie vor dem Greise niederknieen und seine Hände fassen; sie schien sie erwärmen zu wollen und legte dann ihre flache Hand auf seine Stirn – sie schauderte. »Du bist so kalt, mein Vater – wache auf!« sagte sie leise – und als er, der sonst von dem schwächsten Hauche ihrer Stimme erwachte, unbeweglich blieb – da wiederholte sie den Ruf mit einem Tone, der von der Ahnung eines unermeßlichen Weh's geschwellt war.

Leonin stürzte diesem Rufe nach in den Saal. Fennimor war aufgestanden, sie lehnte das schwere, widerstandslose Haupt des Vaters mit Mühe zurück, und bestrebte sich, die beschattenden[216] weißen Locken von der Stirn zurück zu legen. Der Ausdruck von Eifer, von Sorgfalt und Liebe in ihren Zügen, war von einem Entsetzen beschlichen, welches sie starr blicken ließ, und erbleichen; sie wußte noch den Namen nicht für die Ursache, denn sie kannte den Tod nicht. Aber Leonin war fast außer Zweifel. So prägt nur der letzte Bote an das Leben die Züge der Menschen um; widerstandslos, in heitere Träume versunken, hatte er den Greis gefunden, und ihn leis hinüber geführt, wohin seine kindliche Seele schon längst reichte, ohne durch irgend einen Kampf die Trennung zu verrathen, die schöne Hülle selbst noch ehrend und ihr einen Abglanz der Verklärung des Geistes schenkend, der sie verlassen.

Fennimor sah ihren Vater so schön, so lächelnd, als schwebe der Segen noch für sie auf den erblaßten Lippen; sie faßte nicht, was geschehen war, und schauderte doch vor der verständlichen Veränderung und der nie gefühlten Kälte.

»Der Vater, der Vater!« sagte sie immer wieder – »Leonin, der Vater!« Weiter fand sie kein Wort, die Ahnung stand dazwischen und hinderte jeden Versuch, ihr Gefühl zu bezeichnen. Endlich ließ sie die Hände ab von ihm und blickte Leonin an – und dieser Blick führte sie ihrem Schicksale näher, denn in seinen Zügen fand sie einen Schmerz, einen Jammer ausgeprägt, der sie überzeugte, er sähe mehr, als sie. »Ist er krank? ist der Vater sehr krank?« rief sie mit stockendem Athem – »sag', was fangen wir an?«

Er antwortete nicht, zog sie aber an seine Brust und fühlte mit einer unbeschreiblichen Heiligung aller seiner Gefühle, daß sie nur ihn noch auf dieser Welt habe. »Geh', Fennimor, rufe Emmy Gray – der Vater ist sehr krank – aber fasse Dich und denke, daß er mich gestern eingesegnet hat, daß ich Dir an seiner Statt Vater sein soll, wenn Gott ihn zu sich rufen möchte.«[217]

»Was sagst Du!« rief sie, verwirrt aus seinen Armen fahrend – »Gott wird ihn aber jetzt nicht wollen – nein, nein! Er lebte, wie wir in den Wald gingen – es ist nicht lang' – ich war ja nicht bei ihm – er lebt! er schläft! – Großer Gott, erbarme Dich! er schläft! mein Vater, erwache! Gott, wo bist Du? Nein, nein, Du hast ihn nicht gewollt, mein Gott; denn ich bin ja bei Dir gewesen, Du gabst mir kein Zeichen!« So kämpfte sie mit Todesangst gegen die Ueberzeugung, die sich ihr mit der Gewalt ihrer unverkennbaren Wahrheit aufnöthigte, und erlag endlich den bloß noch in Worten ankämpfenden Zweifeln, und stürzte plötzlich mit einem Jammergeschrei, der ihrem Herzen das erste Erfassen des neuen, entsetzlichen Schmerzes gab, über dem Greise zusammen. Leonin kniete in Thränen neben ihr, und so fand der Marquis die Gruppe, als er endlich die Schwelle überschritt.

»Dieser Heil'ge hat geendet!« rief ihm Leonin mit Schmerz gebrochener Stimme entgegen – »Gottlob, daß sie mein Weib ist!«

Ob wir den Tod, wo er seinen himmlischen Stempel abgedrückt, aushalten können, das möchte die Probe sein für manches im Bösen verhärtete Herz. Sie stehen fest gegen die Erscheinungen der Welt, deren höheres Misterium sie verlachen oder übersehen, und wissen dessen Beziehung von sich fern zu halten – aber der Tod ist die geheimnißvolle Macht, der sie sich nicht entziehen können, und haben sie auch die Brücke zerstört, die der Gläubige aus diesem Uebergange nach jener Welt baut – und trotzen sie auch dem Leben die Ueberzeugung ab, es sei in ihm der Anfang und das Ende ihres ihnen selbst gehörenden Daseins – ganz im Geheim erreicht sie doch das fürchterliche Grauen vor dem tiefen Schweigen, worin die Natur ihr letztes geheimnißvolles Geschäft hüllt, und sie können den Anblick des Todes nicht ertragen, der auf Einzelnen seine Zeichen zurück läßt, als einen sichtbaren höheren Fingerzeig.[218]

So jähling ward der Marquis hier vor den gehaßten Anblick geführt, daß er fast zweifelte, ob es sein könne, und um alle Fassung gebracht, war es mehr Zorn, als Theilnahme, was ihn zu lebhaften Aeußerungen trieb, von Allen jedoch überhört, bloß zur Nahrung seiner eigenen Stimmung. –

Doch war dies Ereigniß bestimmt, Leonin zu der tiefsten Erkenntniß seiner übernommenen Pflichten zu führen. – Der Reif, den der Marquis mit dem Hauche aus der alten, lang gewohnten Welt in seine frisch duftenden Blüten gesenkt, er war zerronnen in Thränen heißen Schmerzes um den Verlust eines Menschen, wie er nur selten, unter den günstigsten Conjunkturen zu reifen vermag. – Leonin hatte ihn mit seiner durch ihn gereinigten Seele zu verstehen und zu lieben vermocht; er wußte, er fand nie seines Gleichen wieder, und er betrauerte seinen Verlust mit tiefster Wehmuth und stärkte sein Herz für die große Aufgabe, die Fennimor's Loos ihm nunmehr übertrug. So neu auch alle Verhältnisse, so groß die vorliegenden und die zu erwartenden Schwierigkeiten sein mochten, sein Herz ward sein Lehrmeister, und dies giebt immer den Rath, den wir befolgt sehen von denen, die uns lieben, und welcher den Verstand und die Erfahrung zu überholen vermag, wenn es von einem wahren Gefühl erfüllt ist.

Daher konnte der Marquis auch nur die kürzeste Zeit Zuschauer dieser Verwandlung bleiben, die ihn um jeden Einfluß zu bringen drohte, weil gar nicht mehr von ihm die Rede war, indem Leonin, völlig überzeugt, der Marquis könne ihm gar nicht bei so abweichenden Verhältnissen rathen, diesen auch nie aufrief, seine Meinung zu sagen, und daher sein Kommen und Bleiben zu einer Unbedeutenheit herabsank, die er bloß zu erkennen brauchte, um ihr so schnell, als möglich, ein Ende zu machen. Dessen ungeachtet mußte er, um nicht ganz ohne alle Erfolge zurückzukehren, die Ankunft des Grafen Gersey[219] abwarten, welcher, von dem Tode des Kaplans unterrichtet, am nächsten Tage erwartet wurde.

Leonin hatte nämlich jede Unsicherheit abgeworfen und war fest entschlossen, seine junge Gemahlin sogleich mit sich nach Frankreich herüber zu führen und sie nach Ste. Roche, welches er schon als sein Eigenthum ansehen durfte, zu bringen, bis er Zeit gefunden, seine Mutter von diesem Schritte zu unterrichten und, wie er hoffte, damit zu versöhnen. Er theilte diesen Vorsatz dem Marquis mit der größten Sicherheit mit und schlug jeden Einwand desselben mit der Leichtigkeit zurück, die eben so wohl fester Wille, als Unkenntniß der ganzen Größe der ihn erwartenden Schwierigkeiten war.

»Eure Pläne«, antwortete der Marquis mit der stolzesten Kälte, »sind allerdings mit einer Schnelle und Sicherheit gefaßt, die es unmöglich machen, gegen sie einzuschreiten, und so lästig mir von Anfang an eine Einmischung in Eure Familien-Angelegenheiten war, so fühl' ich sie doch dadurch noch erhöht, der Zeuge von Euren Handlungen sein zu müssen, da mir dies die Vorwürfe Eurer Mutter zuziehen wird, welche ich allerdings schwer werde überzeugen können, daß ich wirklich Beschlüsse zulassen mußte, die so Euer nothwendiges Unglück herbeiführen müssen, und die so wenig durch die Umstände gerechtfertigt werden.«

»Es ist nicht Mangel an Vertrauen,« erwiederte Leonin ruhig, »daß ich Euren Rath so wenig gesucht habe, sondern das Gefühl, so und nicht anders handeln zu müssen, was durch keine abweichende Meinung umgestimmt werden konnte und jede Berathung darüber zu einer überflüssigen machte. Meine schnelle Vermählung, die meiner Gemahlin Schntz und Ansehn geben sollte, im Fall das Ereigniß, was wir jetzt so plötzlich erlebt, während meiner Abwesenheit eintreten möchte, giebt ihr das vollgültigste Recht, mich jetzt nach Frankreich zu begleiten, und[220] ich danke Gott, daß ich ihr in ihrem tiefen und großen Schmerze den Trost geben kann, den sie allein aufzufassen vermag, den nämlich: mich nicht von ihr zu trennen. Es scheint mir demnach dies Verfahren vollständig durch die Umstände gerechtfertigt, und ich muß Alles im Voraus zurückweisen, was Ihr andeuten wollt, indem Ihr dies nicht so anseht.«

»Wir sind also beide entschlossen,« sprach der Marquis, und es drängte sich diesen Worten aus der Tiefe seines erbitterten Inneren eine Fülle des heftigsten Grolles nach – »und wir wollen uns beide über das, was wir thun und zulassen müssen, eine Sicherheit und Rechtfertigung verschaffen, mit der wir uns vor uns selbst und den Anforderungen der Welt zu behaupten vermögen.«

»Thut das!« erwiederte Leonin und verließ seinen Gefährten, noch wohl gerüstet für seine Absichten durch die heil'gen und theuren Ansprüche, die an ihn in jedem Augenblicke ergingen.

Der Marquis hatte die Wohnung, in die der Tod eingekehrt war, nicht wieder betreten, er hatte das Schloß bezogen und erwartete, gleich Leonin, die An kunft des Lord Gersey mit größter Ungeduld.

Dagegen war seit dem Tode des ehrwürdigen Greises der junge Graf von Crecy gegen seine Dienerschaft, wie gegen die Bewohner des Schlosses unverholen mit seiner Vermählung hervorgetreten, und hatte seine Wohnung in der Abtei genommen, um seiner leidenden Gemahlin jeden Trost gewähren zu können, dessen sie so sehr benöthigt war. Zugleich war ein Bote nach Edinburg zum Grafen Gersey gegangen mit der doppelten Anzeige des Todes und der Vermählung, und nachdem die Ueberreste des ehrwürdigen Vaters der Erde übergeben waren, verständigte sich der junge Graf mit Emmy Gray über die Anstalten zur Abreise, welche er zu beschleunigen trachten mußte,[221] da er vor der festgesetzten Zeit seiner Rückkehr nach Paris, Fennimor nach Ste. Roche führen mußte, und dort durch seine Gegenwart ihrem Verhältnisse die Ehrbarkeit verleihen, die er ihm vorzüglich zu sichern trachtete.

Er fand auch, trotz der früher erwähnten Ansicht, jetzt in Emmy eine willige und bereite Stütze, der es, sobald die Dinge, denen sie dienstbar sein sollte, ihre Zustimmung hatten, keinesweges an Verstand und Ueberlegung fehlte, die sie bald in volle Thätigkeit setzte, um ihre junge Herrschaft mit allem Erforderlichen auszurüsten. Erst jetzt, nach dem Tode ihres angebeteten Herrn, sah sie die Stütze ein, die ihre junge Herrin durch ihre Vermählung erhalten, und fing an, sich um so lieber mit dieser Maaßregel auszusöhnen, da der junge Graf, ganz gegen ihre argwöhnische Befürchtung, bemüht war, sein Verhältniß auf alle Weise zu ehren, und von seinen übernommenen Pflichten vollkommen durchdrungen schien.

Zuerst ward daher der armen müdgeweinten Fennimor von ihrer eifersüchtigen Gefährtin der süße Trost zugeraunt, daß ihr Gott ja einen Gatten zur rechten Stunde gegeben, der ihr den Vater sicher ersetzen würde.

Wir können nicht läugnen, daß Emmy kein Mittel hätte ersinnen können, wirksamer, das Herz der Leidenden aus ihrem maaßlosen Grame zu erheben, als diese Worte, die ihr den Geliebten aufs Neue sanktionirten, und das von der einzigen feindlichen Macht, wie sie wähnte, die der neuen Richtung ihrer Hoffnungen bis jetzt entgegen getreten war.

Und so handelten alle drei in Uebereinstimmung, wobei Fennimor freilich nicht selbst thätig, sondern nur sich fügend anzutreffen war.

John Gray hatte seiner despotischen Gattin versprechen müssen, sich ihrem Willen in nichts zu widersetzen; und selbst wenig eigene Gedanken hegend, war er hierauf willig eingegangen.[222] Sie erklärte ihm, ihre junge Gebieterin vor's Erste nicht verlassen zu wollen, und gab ihm die Hoffnung zu ihrer Rückkehr erst, wenn die Verhältnisse derselben dort ihre Anwesenheit unnöthig machten; dagegen begehrte sie, daß er sich augenblicklich nach ihrer Abreise mit ihrer kleinen einjährigen Tochter auf den Weg nach England machen, und sie dort dem Bruder der jungen Gräfin Crecy, dem Pfarrer Lester, der in Yorkshire und jetzt verheirathet lebte, zum Schutze und zur Erziehung übergeben solle. Ob er selbst dort bleiben oder nach der Heimath zurückkehren wolle, stellte sie ihm mit der größten Gleichgültigkeit anheim; und überzeugt, der Pfarrer Lester, der Emmy Gray, als Spielkameradin und treue Pflegerin der Familie, wie eine Schwester liebte, werde ihrem Kinde die Aeltern ersetzen, glaubte sie ihr Haus völlig versorgt zu haben und widmete ihm keine Aufmerksamkeit mehr.

Fennimor meldete ihrem Bruder in einem Briefe, so ausführlich sie es jetzt vermochte, den Tod des Vaters und die eigene Schicksalsveränderung, und bat ihn um seinen Segen für ihre Zukunft. –

Auf Niemanden jedoch machte die Entdeckung des Vorgefallenen vielleicht einen größeren und unangenehmeren Eindruck, als auf Lord Gersey. Der Tod des Sir Reginald war ein so erwartetes Ereigniß, daß es ihn völlig unberührt ließ, besonders, da er mit praktischer Umsicht schon für einen Nachfolger gesorgt, und dieser bereit war einzuziehen. Was kam aber der Bestürzung gleich, womit ihn die Vermählung des jungen Grafen von Crecy erfüllte? – dieses Jünglings, der ihm anvertraut ward mit einem Aufgebote von Vertrauen, welches ihn auf sich selbst stolz gemacht hatte, den man bei ihm vor jedem bösen Einflusse gesichert gehalten, und der ihn selbst durch sein ganzes Verhalten so gänzlich zu täuschen gewußt hatte, daß er in die jämmerliche Lage kam, jetzt eingestehn zu müssen, er[223] habe diesen jungen Mann nicht zu beurtheilen vermocht, dessen Geistesfähigkeiten er doch so weit unter sich geschätzt hatte. Sein Zorn verwirrte ihn zuerst über die Macht, die ihm zustand, er wollte augenblicklich den jungen Mann zwingen, seine Vermählung widerrufen zu lassen, er war ganz außer sich, und fast in derselben Stunde schon auf dem Wege nach Stirling-Bai.

Die Zeit, die er im Reisewagen hatte, Alles noch ein Mal zu bedenken, klärte ihn zwar etwas mehr über seine bedingte Stellung gegen den jungen Grafen auf, konnte aber nicht hindern, daß er mit allen Zeichen der lebhaftesten Empfindlichkeit auf dem Schlosse anlangte.

Hier fand er zuerst den Marquis de Souvré, der, nachdem er sich ihm zu erkennen gegeben hatte, ihm die beschämende Zusicherung gab, daß die Frau Marschallin selbst in Paris den veränderten Zustand ihres Sohnes gemerkt habe, von dem der Lord in der Nähe keine Ahnung bekommen. Er ließ sich dann von ihm, seiner Ansicht gemäß, das Geschehene ausführlich erzählen, und theilte die Verzweiflung des Marquis, zu spät angekommen zu sein, um eine so recht- und pflichtwidrige Handlung verhindern zu können.

Wie lange jedoch Beide deliberirten – die Anwesenheit des jungen Grafen konnte erst ihre verschiedensten Pläne und Rathschläge zur Reife bringen, und der Lord mußte ihn zu einem Besuche auffordern lassen, so sehr er sich auch gegen ihn erzürnt fühlte.

Unterdessen hatte der Marquis Zeit, den Lord zu sondiren, und obwol er in ihm den Mann sehr bald erkannte, der außer Stande war, mit seinem Verstande einen Einfluß auf Leonin auszuüben, fand er doch in seiner stolzen beleidigenden Haltung und seiner Ansicht über die Handlungen eines Minderjährigen, Stoff genug zur Benutzung für seinen augenblicklichen Zweck,[224] den jungen Grafen in allen seinen Empfindungen zu verletzen und ihn aus der stolzen Sicherheit zu treiben, die dem Marquis unerträglich war an diesem gering geachteten Jünglinge. Zugleich fühlte er, daß der Lord ihm vollkommen vertraue, und er hoffte, ihn bei den ferneren Schritten leiten zu können.

Der junge Graf dagegen empfing die Nachricht von der Ankunft des Schloßherrn mit lebhaftem Vergnügen. Er fühlte sich so im guten Rechte, so leicht und befriedigt durch Liebe und gutes Gewissen, daß er nach dem Schlosse eilte, bloß Beides darzuthun und dann seine Abreise anzusetzen.

Schon die Dienerschaft, leicht die Umstimmungen ihrer Herrschaft errathend, empfing ihn mit bloß feierlicher Haltung, und als er in das Zimmer des Lords trat und ihn dort neben dem Marquis erblickte, – schallte ihm nicht der Ton der rauhen Lustigkeit entgegen, womit er sonst von ihm begrüßt ward, sondern man ließ ihn den Weg bis zu dem Platze, wo Beide saßen, ohne Beachtung zurücklegen, und kurz erhob sich dann der Lord, ihn zu begrüßen: »Euer Gnaden haben mir den Vorzug entzogen, Sie, wie bisher, als meinen Gast hier begrüßen zu können. Doch darf ich meine Gastfreundschaft Niemandem aufdrängen, wie ich eingesehen habe, denn wie bereit ich auch war, hierin die Wünsche Ihrer Frau Mutter zu erfüllen, ich konnte mir das Recht nur durch einige Höflichkeiten bei Ihnen erwerben, die jedoch sich unzureichend erwiesen haben.«

»Mein theurer Lord,« lächelte Crecy, völlig harmlos – »es kann Euch mit diesen Worten nicht Ernst sein; die Umstände, denke ich, rechtfertigen so vollständig diesen Umzug, daß es gar keiner Erklärung meinerseits bedarf, eben so, wie Sie mir glauben müssen, daß ich Ihnen aufs Innigste dankbar bin und den Aufenthalt bei Ihnen zu den größten Segnungen meines Lebens rechnen werde.«[225]

»Und ich, junger Mann,« schrie hier Lord Gersey, durch Leonin's Ruhe um alle Haltung gebracht, »ich werde diesen Aufenthalt wegen seiner heillosen Folgen für das fluchwürdigste Ereigniß meines Lebens halten, und nun mögt Ihr selbst danach urtheilen, was ich von dem wahnsinnigen Schritte denke, den Ihr Eure Vermählung nennt!« Er wollte bei diesen Worten aus dem Zimmer stürzen, seine eigene Aufregung befürchtend, aber dem Marquis war dieser Anfang um so weniger gelegen, wenn er zugleich das Ende sein sollte; er eilte ihm nach und hielt ihn an der Thür mit dringenden Bitten zurück.

»Laßt mich, laßt mich, Marquis!« rief der Lord, indem er zögernd widerstand, – »ich tauge nicht dazu, hier die Beichte der jugendlichen Tollheit zu hören, und bringe mit so viel Unwillen im Herzen die Sache nicht zu Stande.« –

»Und doch bedenkt, Mylord, Ihr seid es Eurer Freundin, der Frau Marschallin, die Euch ganz vertraute, schuldig, liebevoll, väterlich dem jungen Manne beizustehen. Denkt, wie seine Jugend ihm das Wort um Milde und Nachsicht spricht.« –

Er führte den grollenden alten Lord zurück, und es entstand eine ungefällige Pause unter den Dreien, weil Zwei sich im vollkommen gleichen Rechte des Zürnens wähnten, und der Dritte sich die listige Zurückhaltung zu sichern trachtete, die nur, was jene veranlaßten, ohne Nachtheil benutzen wollte. Dessen ungeachtet mußte dieser Dritte mit der Sprache zuerst heraus, denn hochroth vor Zorn blickte der Lord finster zur Erde, und ihm gegenüber hatte Crecy die kalte Haltung des Beleidigten angenommen, der das Entgegenkommen des Andern glaubt erwarten zu müssen.

»Ihr seht, Herr Graf,« wandte er sich gegen Crecy, »wie ich nicht der Einzige bin, der in abweichender Meinung von der Eurigen diese Sache ansieht, und Ihr dürft es nicht zurückweisen, einen alten Freund Eurer Frau Mutter darüber zu hören.«[226]

»Dies zu thun, kam ich hieher«, erwiederte Crecy – »und wahrlich, mit aller Achtung, die ich Sr. Herrlichkeit schuldig bin, war ich gesonnen, sowol meine Verhältnisse offen darzulegen, als den Rath des Verständigen zu hören; dies hat mir aber die augenblickliche Heftigkeit des Lords abgeschnitten, und ich muß jetzt erwarten, ob mir dies überhaupt noch möglich gemacht wird, und welche Form Mylord dazu einzuleiten gedenkt.«

»Mein junger Herr,« rief hier Lord Gersey, noch immer mit dem rauhen Tone des Zorns, »es kann, denke ich, hier von vielen Einrichtungen unter uns gar nicht die Rede sein; wie unleidlich meine Stellung durch Euer unbesonnenes Betragen gegen Eure Mutter geworden, müßt Ihr übersehen, wenn Euch auch die Leidenschaft noch so toll gemacht hat. Mir waret Ihr anvertraut von Eurer Mutter – ich sollte Euch vor Mißgriffen und Thorheiten bewahren, bis Ihr unter den Schutz Eurer Aeltern zurückkehrtet, – und ich durfte diese Verpflichtung übernehmen und sie angeloben, denn Ihr lebtet hier nur in den ehrbarsten und würdigsten Verhältnissen. Aber der Neigung zur Thorheit ist überall der Ausweg eröffnet, so mußt' ich an Euch lernen – mein Vertrauen habt Ihr betrogen; mit dem alterschwachen Greise, dessen Kenntniß der Welt von jedem Kinde überboten werden konnte, habt Ihr Freundschaft geschlossen, um Euch von der Thörin, seiner Tochter, verführen zu lassen.« –

»Haltet ein, Mylord!« rief hier Crecy, indem er mit Heftigkeit aufsprang, – »wenn Ihr es wagt, mit dieser Bezeichnung die Tochter des ehrwürdigen Sir Reginald zu meinen, so vergeßt nicht, daß sie Gräfin von Crecy und meine Gemahlin ist, gegen die jede Beleidigung zur meinigen wird!«

»Gräfin von Crecy!« höhnte der Lord – »die Tochter eines Kaplans von Stirlings-Bai! ein Mädchen ohne Rang, ohne Vermögen, die sich darum nicht einmal zur Gesellschafterin[227] meiner Töchter eignete, Gräfin von Crecy! die Schwiegertochter der Fürstin Soubise! und des ersten Marschalls von Frankreich, des ältesten Geschlechtes dieses Landes! – Junger Mann,« fügte er mit heiserem Lachen hinzu, »wem wollt Ihr das weiß machen? Wer, denkt Ihr, daß Euch dies glauben wird? Dankt dem Himmel, daß die Komödie Eurer Heirath so in allen Formen kindisch, lächerlich, formlos gewesen ist, und daß Eure Minderjährigkeit selbst die anscheinend gesetzlicheren Bande so gänzlich annullirt hätte, daß diese Thorheit wenigstens nur dem Mädchen zur Last fallen wird, die so unberufen den reichen Erben zu gewinnen dachte.«

»Es ist genug!« rief Crecy hier und erhob sich mit Ungestüm – »ich werde Euch verlassen, Mylord, um durch so unerhörte Beleidigungen nicht dahin gebracht zu werden, daß ich ganz vergesse, wie viel Dank ich Euch für Euer früheres Bezeigen schuldig bin. Die Beleidigungen, die Ihr gegen mich und meine Gemahlin ausstoßt, widerlegen zu wollen, hieße mich und diese Verhältnisse wirklich erniedrigen – ich werde sie zu rechtfertigen wissen in den Augen meiner Familie und der ganzen Welt.«

»Ich gratulire zu diesen Vorsätzen, junger Herr!« entgegnete der Lord mit verbissenem Zorne. »Wahrlich, Ihr habt nicht umsonst meine Bibliothek in der kurzen Zeit ausgelesen – Ihr führt eine vollkommen romantische Rittersprache, zum Weinen rührend. O, junger Mann, junger Mann, hättet Ihr lieber das unschuldige, fröhliche Waidmannsvergnügen mit den ehrlichen unerschrockenen Gefährten durchgemacht, als Euch in dürres, wüstes Büchergeschwätz versenkt, um Stoff zu sammeln für das Schäferspiel, das Ihr zu spielen dachtet!«

»Wir sind zu Ende, Mylord!« sagte Crecy empört – »erlaubt, daß ich mich bei Euch und diesem Hause auf immer beurlaube; ich eile zurück, um sogleich die Anstalten zu meiner[228] Abreise zu treffen, und bitte Euch nur um so viel Zeit noch in den Mauern der Abtei – die jetzt allerdings zu Eurer Bestimmung steht – bis meine Gemahlin zur Abreise gerüstet sein wird. Nehmt meinen Dank für Eure frühere Güte; es schmerzt mich tiefer, als Ihr glaubt, daß die Gefühle, die Ihr mir einzuflößen wußtet, eine so grausame Störung erfahren mußten.«

»So lasset auch uns von einander Abschied nehmen!« sprach jetzt der Marquis de Souvré zu Crecy. »Ich reise noch am heutigen Tage nach Paris ab, denn ich kann durch meine Gegenwart hier nicht länger Euren Handlungen einen Schein von Billigung geben, den ich aufs Bestimmteste verweigern muß. Dessen ungeachtet frage ich Euch, ob Ihr mir irgend eine Weisung für Eure Frau Mutter zu geben habt, aus der sie Trost zu schöpfen vermöchte, wenn ihre Fragen mich drängen werden?«

»Ich überlasse das Euch selbst; ich hatte gewünscht, der Erste sein zu können, der ihr meine Verhältnisse vortrüge – aber ich fühle, Euch die Verpflichtung zum Schweigen aufzuerlegen, wäre bei den Fragen, denen Ihr zu begegnen haben werdet, zu viel verlangt. Gott lenke daher Eure Worte! Denkt, daß so viel vom ersten Eindrucke abhängt; denkt, daß es der einzige Sohn der Frau ist, der Ihr so ergeben seid, und daß Ihr so wohl versteht, Eure Ansichten vorzutragen!« –

Kein Laut verrieth die Meinung des Marquis auf die herzliche, dringende Anrede; stumm verneigte er sich mit zu Boden geschlagenen Augen und wendete sich dann zu Lord Gersey. »Und Ihr, Mylord – was habt Ihr mir zu befehlen?«

»O, Marquis,« rief der Lord – »was soll ich Euch an die edle, tugendhafte Frau für Aufträge mitgeben, die sich durch mich verrathen glauben wird, und mir Vertrauen und Achtung versagen für immerdar. Nein, nein, niemals kann ich diese Kränkung verwinden! Sagt Ihr, ich mache keine Ansprüche auf ihre Verzeihung, und wollte ihre Feindschaft, ihre Geringschätzung[229] als lebenslängliche Strafe ertragen. Aber das fügt hinzu,« und bis zum dumpfen Brüllen steigerte sich sein Ton – »finde ich diese Copulation im Kirchenbuche verzeichnet, so lasse ich es auf offenem Platze vor der Kirche verbrennen, und John Gray und sein Weib und der Kirchendiener, die sich Zeugen zu nennen wagen, werden noch heute aus der Kirchengemeinde ausgestoßen, und der Büttel soll sie über die Grenze jagen, daß sie sich nie wieder zu Stirlings-Bai zählen dürfen!«

Schon hörte der Unglückliche, gegen den dieser neue Schimpf ausgestoßen ward, das Ende dieser zornigen Befriedigung, welche sich der Stolz und der Hochmuth eines der untadelhaftesten Barone des alten Schottlands verschaffte, nicht mehr. Mit tausendfach verwundetem Herzen, bis zur Raserei gereizt und gekränkt sich fühlend, war der ganze Himmel seines idyllischen Glückes entweiht und beschimpft, und es schien ihm, als könne er nie wieder einen Hauch des seligen Friedens empfinden, den er wenige Tage früher noch als ein unzerstörbar gewonnenes Gut betrachtete. – Vielleicht hatte er Recht; denn sein Herz hatte eine unheilbare Wunde empfangen, um so nachhaltiger, da die heftigen Worte, denen er ausgesetzt war, die Grundsätze und Ansichten, die er gehört, ein ausschließlicher Besitz seines Standes waren, unter deren Einfluß er groß geworden, und denen er überall mit dem Wiedereintritte in die Welt zu begegnen sicher war.

So stürzte er dem mechanisch gefundenen Wege nach der Abtei zu und ward sich erst seiner selbst wieder bewußt, als er in den grünen Dom der hohen Buchen trat, die ihr großartiges Naturleben in heiliger Unabhängigkeit fortführten, das kleinliche Treiben der Menschen, was seit Jahrhunderten an ihnen hingegangen, mit hohem Blicke übersehend, als wollten sie dem keuchenden Wanderer zurufen: »Geduld! Du und Deine Leiden[230] verfallen der Zeit, und Du gehst mit ihr vorüber, ein kleines Atom in dem großen Zellgewebe der göttlichen Weltordnung!« – Vielleicht nicht dasselbe, aber doch etwas, einer Erquickung, einem Troste ähnlich, drang in die blutende Brust des tödtlich Gereizten – er schlug die glühenden Augen auf, und der sonnenhelle Glanz der grünen Gewölbe leuchtete wie Himmelsthau in sie hinein. Krampfhaft preßte er die Hände in einander, einem Schrei des Schmerzes glich der Seufzer, der sich losriß, und bebend vor Aufregung stürzte er in das weiche Moos und verbarg sein Gesicht in dessen duftendem Schooße.

Wir wollen es nicht belauschen, womit auch der Mann in dem Augenblicke sich erleichtern darf, wo sein Herz die krampfhafte Starrheit sprengt, in die ein überwältigendes Ereigniß ihn versetzt; mag er der Mittel theilhaftig werden, die Gott der Menschheit gegeben, da er sie nicht schützen konnte gegen das unendliche Weh, das sie sich bereitet.

Leonin gewährte es seinem Schmerze, sich zu erschöpfen. – Er hatte kein Herz von der Natur erhalten, was sich in eigner Kraft behaupten konnte, es mußte gestützt und in beifälliger Ruhe erhalten werden durch die nächsten Menschen, durch Verhältnisse, wenn es sich selbstvertrauend bleiben sollte. Matt und todtenbleich ging er dem offenen Gemach entgegen, vor dessen Thüren das geschmähte unschuldige Opfer dieser fremden Anmaßung in der tiefen Trauerkleidung mit dem heil'gen Scheine des frömmsten Kummers um die schönen Züge, auf einem niedrigen Stuhle saß und dem lieblich lächelnd entgegen blickte, der den ersten harten Wurf der Welt nach ihrem stillen Glücke so eben aufgefangen hatte, doch nicht ohne selbst davon verwundet zu werden.

Tief bewegt von ihrem Anblicke kniete er neben ihr hin, und sie mit einem vielfach vermischten Gefühle an sich drückend, rief er wehmüthig: »O, Du armes, armes gekränktes Wesen!«[231]

Wie hätte diese feine weibliche Seele nicht die Veränderung fühlen sollen, die dem Geliebten geschehen?

»Was hat man Dir gethan?« sagte sie sanft forschend und faßte sein bleiches Gesicht in ihre beiden Hände. »War der Lord nicht, wie es Recht ist? Hast Du Dich erzürnt? Wird er mich besuchen?«

»Ach,« rief Leonin, »laß uns abreisen! laß uns in die Wälder von Ste. Roche fliehen und die Welt vergessen, und uns fern von ihr halten, die weder unser Glück versteht, noch uns ein anderes gönnen will, als was sie dafür erkennt.«

»Meinte so der Lord?« frug Fennimor – »ja, ich konnte es denken! Sie sind da oben durchaus anders, wie wir, und immer waren sie mir nicht gut genug; aber wir wollen sie lassen – die haben mich nie erzürnen können, sie waren so klein, so ungeschickt und konnten nie verstehen, wie ich's meinte.«

Dies stolze, feste Herz erschütterte mit ihren einfachen unschuldigen Worten mächtiger in Leonin die imponirende Wichtigkeit des eben Erfahrenen, als seine eigenen durch frühere Eindrücke bedingten Betrachtungen es vermocht hatten.

Er erhob sich an der festen Hoheit dieser reinen Seele, und ein Schimmer des früheren Glückes kehrte ihm wieder in der größeren Berechtigung, die sie ihm theils in ihrem eigenen Werthe, theils in der strengen Kritik über seine Widersacher gegeben. – Er raffte sich zusammen und besann sich, was ihm zunächst läge – und alle Weisheit der Liebe kehrte ihm zurück. Er eilte, die heil'ge Unschuld seines Weibes vor der Schmähung der Welt zu bewahren, und hüllte den ganzen Vorgang in gleichgültige Worte ein. Dann begab er sich zu Emmy Gray, um ihr, wenn auch nicht Alles, doch das Wichtigste seiner gehabten Unterredung mitzutheilen und die Nothwendigkeit klar zu machen, dies Haus wo möglich andern Tags zu verlassen.[232]

»Ja wohl, Herr,« rief sie mit stolzem Zürnen, »laßt uns schon morgen dies Haus verlassen, was jetzt dem gehört, für den wir zu gut sind, ihm irgend Dank zu schulden. Eben so soll John heute noch sein Bündel schnüren und nie diese Stätte wieder betreten. Gut, gut, Mylord, daß diese unweisen Männer, die ein Sakrament lästern, nicht Gewalt haben über die heiligen Dinge der Erde! Laßt es sie nicht hören, sie ist noch zu jung, um Unrecht zu begreifen, das Leben zeitigt früh genug dazu!« – So verließ sie den Grafen, und sein Selbstgefühl, was durch die Schmähungen, die er erduldet, in ihm gestört worden war, kehrte langsam unter Menschen zurück, in deren Werth er fühlte, nicht als ein Thor gehandelt zu haben. –

Die schnelle Abreise der Verfolgten verhinderte, daß die strengen Maaßregeln des Lord Gersey sie erreichten, und John Gray war schon auf seinem kleinen Karren, worauf er sein Kind und seine beweglichen Habseligkeiten geladen, längst über die Grenzen von Stirlings-Bai, ehe sich der Lord seines Vorsatzes erinnerte. Bald kehrten die mit seinem Willen Beauftragten zu ihm zurück, um ihm anzuzeigen, daß die Abtei leer von allen ihren Bewohnern sei, und nur noch auf der Landstraße nach Edinburg die Reisekutsche des Grafen von Crecy habe gesehen werden können.


Der Himmel lag so fest und grau, wie eine Kuppel von gegossenem Stahl, über dem schmucklosen Herbsttag, und der Wind streifte mit eisiger Schärfe über die leeren Felder und durch die laublosen Wälder, als wolle er die Erde zerreißen und ihr die Macht fühlen lassen, die er umsonst an der festen Nebeldecke des Himmels erprobte.[233]

Vergeblich versuchte der junge Schloßherr von Ste. Roche diesem lang vernachlässigten Aufenthalte einen Anstrich von Wohnlichkeit zu geben, an den seine junge Gemahlin gewöhnt war, und der sie nach einer langen und schwierigen Reise, der ersten ihres Lebens, so sehr benöthigt schien.

Es half ihm wenig, daß ihm die Auswahl im ganzen Schlosse frei stand, überall fanden sich Schwierigkeiten, die am wenigsten für einen Mann zu beseitigen waren, der von dem Erschaffen einer häuslichen Einrichtung so wenig Begriff bekommen hatte. In seiner bisherigen Lage, die ihm alles Benöthigte fertig überlieferte und so jene unmännliche Verwöhnung erzeugte, in welcher die Fürstin Soubise ihn so sorgfältig zu erhalten verstand, hatte er keine Gewandtheit lernen können, und es konnte daher nicht fehlen, daß Emmy Gray mit ihrem entschlossenen und thätigen Geiste nur kurze Zeit das unsichere, erfolglose Umhertappen des Grafen mit ansehen konnte. Mit glücklichem Ueberblicke wählte sie den gewandten Kammerdiener desselben zu ihrer Hülfe, und nachdem sie mit dem alten Kastellan das Schloß durchstreift, fand sie, wenn auch aus einem andern Jahrhunderte, doch kostbares und brauchbares Material genug, eine Wohnung einzurichten.

Sobald die Art der Thätigkeit sich zeigte, die erforderlich war, trat auch der junge Schloßherr mit dem liebenswürdigsten Eifer ihr bei, und die höheren Anforderungen seines Standes, die Emmy fremd geblieben, wurden durch ihn selbst und den damit vertrauten Kammerdiener zu den Nothwendigkeiten gefügt, die sie zuerst ins Leben zu rufen gewußt.

Wenn anfänglich zu fürchten war, daß Fennimor durch den Aufenthalt in einem großen wüsten Schlosse, welches mit seiner wunderbaren Gestaltung und seinen fremdartigen, uralten Constructionen jede, auch die ruhigste Phantasie mit geheimen Schauern anzuregen vermochte, sich unheimlich und erschrocken[234] fühlen würde, so zeigte sich bald, dem entgegen, eine so lebhafte, bewundernde Theilnahme für diese außerordentliche Erscheinung, daß die anderweitigen kleinlicheren Anregungen ihrer Umgebungen, von denen selbst Leonin nicht ganz frei blieb, unverstanden an ihr vorüber gingen. Ihr Geist war frei geblieben von jedem Hauche des Aberglaubens, für jeden Eindruck von übernatürlichen Erscheinungen; ihre Spielgefährtin, Beschützerin und Pflegerin war Emmy gewesen, welche, wo möglich, noch furchtloser, als ihr Zögling, diesen nicht dazu verführen konnte. An geheimnißvolle Zustände in dem Geiste des Menschen hatte sie in Schottland, diesem Lande mondsüchtiger Träumer und vom Geiste der Ahnung berührter Propheten, wohl glauben gelernt, aber alles, was an Geistererscheinungen und an das Grauen, das selbst leblose Dinge, wie Möbel und Zimmer, da durch gewinnen, streifte, verwarf sie als gemein und für sie nicht passend.

Es zeigte sich daher bald eine große Annäherung zwischen dem alten Kastellan und seiner jungen Gebieterin; denn nicht minder, als von ihm selbst, sah er die alten, werthvollen Ueberreste des einst königlichen Besitzes, von denen er die Chronik des kleinsten Gegenstandes zu erzählen wußte, geehrt.

Es fanden sich daher in Folge dieser entstehenden Zuneigung immer mehr Gegenstände ein, welche zum Gebrauche sich nützlich zeigten, und die der beunruhigte Alte zu Anfang mit eifersüchtiger Scheu zu verbergen bestrebt gewesen war.

Die Familie der Kastellane von Ste. Roche waren dieser Besitzung treuer gewesen, als die Herren derselben.

Die St. Albans waren schon unter Katharina von Medicis auf diesem Posten gewesen, und vom Urahn her hatte Sohn auf Sohn bei allem Wechsel der Verhältnisse diesen Platz behauptet. Jeder Nachkommende war unter den Chroniken von Ste. Roche aufgewachsen, und jeder Schrank, jede Tapete, jedes Geräth[235] war für sie ein heiliges Vermächtniß, was Jeder von Kindheit an hatte pflegen sehen, und was vor den Einflüssen der Zeit zu bewahren, der Stolz jedes Einzelnen ward.

Katharina von Medicis, die hier zuerst einen Hof von einigen Wochen während der Jagdzeit hielt, hatte das Fundament einer Einrichtung gelegt, da das Schloß zu weit von Paris entfernt war, um, wie bei anderen Umzügen des Hofes, für dessen kurze Anwesenheit von dort aus mit Möbeln und Geräthen ausgestattet werden zu können. – Später hatte der erste Besitzer aus dem Hause Crecy längere Zeit mit großem Aufwande hier gelebt, und aus allen diesen Zeiten befanden sich noch wohl erhaltene Ueberreste, die allerdings nur ihr Bestehen der solideren Beschaffenheit verdankten, die den Ausstattungen der früheren Jahrhunderte eigen war, und den Rang und Reichthum der Besitzer darlegen mußten.

Fennimor hatte auf der langen Reise die Muße benutzt, sich von ihrem Gemahl eine Uebersicht der Geschichte Frankreichs geben zu lassen – und mit großem Interesse alles vernommen, was sich auf Katharina von Medicis, diese angestaunte Schwiegermutter der unglücklichen Maria Stuart, bezog. Was sie durch diese Mittheilungen erfahren konnte, war ihrer Unschuld gemäß in verhüllende Andeutungen eingekleidet worden, und so jubelte sie bei dem Gedanken, in das Schloß dieser mächtigen Königin einzuziehen, worin noch ihre Zimmer sich vorfinden sollten, und Möbel und Geschirre, die ihr zugehört hatten.

Es zeigte sich, daß der junge Graf eben so fremd in seiner neuen Besitzung war, als seine junge Gemahlin, denn diese Güter wurden nur wegen ihrer Revenüen geschätzt, zum Bewohnen schienen sie der Marschallin von Crecy, die sich nie vom Hofe trennte, völlig unpassend.

Beider Geschmack vereinigte sie daher in dem Wunsche, unter Anleitung des alten Kastellans, der eine lebendige Chronik[236] des Schlosses zu nennen war, dasselbe in seiner ganzen Ausdehnung zu besichtigen und in chronologischer Ordnung mit dem ältesten Theile desselben zu beginnen.

Dieser ruhte auf dem höchsten Felsgrunde, der das Ganze trug – er ward der Klaudia von Bretagne zugeschrieben, die hier nach der Gefangennehmung ihres Gemahls, Franz des Ersten, in schwermüthiger Zurückgezogenheit bis zu ihrem Tode lebte, und deren Grabmal sich auch in der Hauskapelle als einziges Ueberbleibsel ihrer Existenz vorfand, denn dieser älteste Theil, der in der Mitte des funfzehnten Jahrhunderts entstand, zeigte nur Thurmzimmer, rohe Wände, gepflasterte Fußböden und die kleinen Schießscharten-Fenster, die wenigstens Landschlösser nicht entbehren konnten.

Die flüchtige Besichtigung erregte wegen der erloschenen Erinnerungen, die überdies in einem frommen, tugendhaften weiblichen Leben selten durch hervorragende Situationen sich lange dem Gedächtnisse der Menschen einprägen, wenig Interesse. Aber sie gewannen in der Betrachtung erst ihren Platz, wenn man dies einfache Bedürfniß der königlichen Klaudia mit dem verglich, was die stolze Medicäerin dafür nöthig hielt.

Die Räume, von Flur und Treppen an, die der Aufenthalt ihrer Leibwachen und Diener waren, und die alle noch die Ueberbleibsel von Einrichtungen zeigten, die sie zu Eß- und Trinkgelagen passend gemacht hatten, die weitläufigen Zimmerreihen, die, sämmtlich mit Namen bezeichnet, Erinnerungen an das mannigfach gestaltete Leben dieser Frau erregten, die kolossalen Möbel, Kamine, Bettnischen, die kostbaren und unverwüstlichen Tapeten von Gobelin, vergoldetem Leder und Sammet, die auch zu Teppichen und Bezügen der Stühle, Ruhebetten und Fenster-Umhängen dienten, und von Marmor, Skulpturen und Vergoldungen in reicher Ueberladung unterstützt wurden – sie zeigten ein verwegenes Ergreifen äußerer Mittel,[237] um ein Schaugerüst empor zu thürmen, wohinter sie den krankhaften Zustand ihrer aus tausend Wunden blutenden Zeit um so lieber verbarg, da sie an Heilung nicht dachte und das Wundfieber, in welchem bald diese, bald jene Partei im Wahnsinne die Obergewalt fand, bloß zu ihren Zwecken verbrauchte.

»Ach,« sagte Fennimor inmitten dieser Räume, »welch' ein Glanz! – und Klandia hatte nur ihr Bett – ihre Kapelle und ihre Spinnstube!«

Der alte Kastellan schlug die Augen nieder, als müsse er sich schämen vor den so wohl behüteten und so hoch von ihm geehrten Schätzen, und der fast unbewußten Geringschätzung, womit er die Räume der frommen Klaudia vorgezeigt – zuerst fühlte er den Gegensatz.

Er zögerte fast, weiter zu gehen, obgleich er doch noch so viele kleine Schätze hatte, die er zeigen und erklären wollte, worauf er heimlich stolz war. »Gewiß,« sprach er zuletzt, »die fromme Königin Klaudia hinterließ keine werthvollen Besitzthümer, es findet sich in den frühesten Verzeichnissen der Kastellane nichts bemerkt, was darauf hinweisen könnte, sonst würde es gewiß erhalten sein.«

»Ja, das glaube ich,« erwiederte sinnend die junge Gräfin – »sie hatte allen Schmuck in sich; das wird bei ihr gewesen sein, wie der Vater erzählte von der Mutter der Grachen.« – Freundlich gab sie sich jedoch bald den mannigfachen Gegenständen hin, die ein zu fesselndes Interesse besaßen, um ihren jugendlichen Sinn nicht zu beschäftigen, und der alte Kastellan führte, zu seiner Wohlgemuthheit zurückkehrend, seine jungen Herrschaften in den großen Banketsaal der Königin, der mit Thronhimmel und Gobelins verziert war, und an dessen Wänden reiche Schränke standen, die in Ebenholz mit Gold und Silber, die kunstreichst geschnittenen Hautreliefs aus den[238] Chroniken des alten Testaments zeigten. Sie dienten theils zur Ausschmückung, theils zum Aufbewahren kostbarer Geschirre, oder zu Schenk- und Vorschneide-Tafeln.

»Hier befände sich noch manches der Beachtung Werthe,« sprach der alte Kastellan und öffnete das kunstreiche Schloß eines der größeren Schränke, welcher noch mehrere schwerfällige Silbergeschirre enthielt, so wie eine große Anzahl Becher in Gold und Silber, mit Wappen und Sinnbildern, und einige von den schönen leichten venetianischen Glaspokalen, die, der jungen Frau noch niemals vorgekommen, ihr höchstes Erstaunen erregten.

»Diese kostbaren Geschirre,« sagte der Kastellan, »sollen alle damals hergeschafft worden sein, als die Frau Königin dies Schloß überhaupt mit so großer Pracht für den kurzen Besuch der vornehmen polnischen Magnaten ausrüstete, die sie eingeladen und lieber hier, als in Paris empfangen wollte, da sie diese Großen des damals von den verschiedensten Parteien zerrissenen Landes sich geneigt zu machen trachtete, um die Wahl des neuen Königs dermaleinst auf ihren geliebten Sohn, den Herrn Herzog von Anjou, unsern nachmaligen allergnädigsten König, zu lenken. Es ist hier nicht mehr Alles beisammen, was damals an großem Glanze diese Räume erfüllte, aber die alten Tagebücher der Kastellane, woraus die Chronik besteht, und welche sich noch vorfinden, sagen darüber große Wunder.«

»Warum ist diese Thüre mit dem eisernen Balken verwahrt?« frug die junge Gräfin, der Thüre neben dem Throne sich nahend.

»Dies sind die Geheimzimmer der Frau Königin Katharina,« erwiederte zögernd der Kastellan; »sie sind auf Befehl der Herren Grafen von Crecy immer auf diese Weise von den übrigen Gemächern getrennt gewesen.«[239]

»O, die möchte ich sehen!« rief Fennimor – »könnt Ihr sie öffnen?«

»Das steht allerdings jedem Kastellane zu bewerkstelligen frei,« sprach der Alte, »wenn es befohlen wird, aber sie sind voll böser Luft, Euer Gnaden – auch wurden sie auf Befehl weder gelüftet, noch vom Staube gereinigt – es ist für eine so zarte gnädige Herrschaft, wenn ich's zu sagen mich unterstehen dürfte, kein passender Aufenthalt.«

»O, doch, doch, guter Albans!« – rief die junge Gebieterin – »ich muß sie sehen, gerade sie! – Nicht wahr, Leonin, Du willst sie auch sehen?«

Dieser fühlte wohl, der Alte habe etwas ganz Besonderes bei diesen Zimmern auf dem Herzen, da er sich aber nicht näher erklärte und die Wünsche Fennimor's ihm das Gegengewicht hielten, so gab der Graf das Zeichen, daß er sie öffnen möchte; die verrosteten Schlösser zeigten, wie lange das nicht geschehen war – erst nach vieler Anstrengung gelang es dem Alten, die Riegel zurückzuschieben.

Es waren zwei an einander hängende Gemächer von mäßiger Größe, beide mit vergoldetem Leder bekleidet. Die Luft drang den Eintretenden wirklich mit Grabesbauch entgegen – die bunten Scheiben waren erblindet von der Zeit und den Spinnweben, und ließen daher nur ein Halbdunkel in der Beleuchtung zu. – Aber diese Vernachlässigung hatte einen andern Reiz behalten, der die jungen Schloßbewohner auch näher trieb und gerade darin lag, daß hier nichts bei Seite geräumt war, wie in den andern Räumen, sondern daß, fast zum Erschrecken, mitten in der vollen Lebensthätigkeit dieser ungeheuren Frau eine Unterbrechung, ein Stillstand eingetreten sein mußte, der die verschiedenen Gegenstände, die sie umgaben, erstarrt zu haben schien, und ihnen noch die eben verschobenen Falten der Draperien, den schief gerückten Sessel, genug, jedes Zeichen plötzlich unterbrochener Benutzung erhalten hatte.[240]

Die Mitte des ersten Zimmers ward von einem kolossalen Schreibtische eingenommen, dessen Aufsatz von schwarzem Ebenholze auf Füßen von weißem Marmor ruhte, und mit einigen künstlichen Vorrichtungen zum Schreiben versehen war, nebst einem hoch darüber ragenden Crucifixe von Elfenbein und mehreren schweren, kostbar eingebundenen Büchern. Herum standen drei Armsessel, mit dem Stoff der Tapeten bedeckt, die verschoben waren, als sei dies eben beim Aufstehen geschehen.

»Dies war ihr geheimes Konferenz-Zimmer,« sagte St. Albans leise – »dieser schöne Schrank enthielt die laufenden Akten und Briefe; in diesem mittelsten Sessel saß die Königin, hier die Räthe oder die andern betheiligten Personen – hier an der Wand, auf dieser Bank, die Hoffräulein, wenn sie bleiben durften – auch soll sie gern während der Berathungen in der Fenster-Nische über dem Stickrahmen gesessen haben, aber der damals anwesende Kastellan Hieronimus verzeichnete darüber: Alle hätte ein Fürchten beschlichen, wenn jene, so das Gesicht zur Stickerei abgewendet, Rath gehalten hätte; sie solle dann noch mehr, als gewöhnlich habe verüben können! Seht, der eingespannte Silberstoff, an dem sie damals gearbeitet, ist noch sichtbar, aber freilich erblindet, verstäubt und keine Reinigung mehr aushaltend. Ach, es sind kostbare Dinge hier nach gerade untergegangen durch den Befehl, diese Gemächer abzusperren.«

»Aber warum geschah das?« frug die junge Gräfin.

»Das hatte traurige Gründe, die Gott richten wird in Barmherzigkeit – aber, so wie Euer Gnaden es hier sehen, so ist Alles verblieben, mitten im Gebrauch! Lautes glänzendes Leben den einen Tag, am andern Morgen Alles leer, zu Pferde, zu Wagen, auf und davon, Keiner sein Gepäck nehmend oder nachfordernd – und auf Befehl der zuerst fliehenden Frau Königin wurden diese Zimmer abgesperrt, und kein Stück ihres[241] hier vorhandenen Besitzes durfte ihr nachgesandt werden; sie floh sogar in dem Pelzmantel eines Hoffräuleins. Damals hatte sie es dem ersten Grafen von Crecy-Chabanne, der hier Besitzer ward, geschenkt, und dieser gar heftige Herr hatte, wie man sagte, besondern Grund, den Befehl der Königin gut zu heißen. Da verblieb es dann so, und die tugendhaften Nachfolger dieses ersten Herrn wollten es immer so belassen.«

»Da sind wir wohl die Ersten, die das alte Gebot überschreiten?« sagte Leonin, von unheimlichen Empfindungen angeregt.

»Ob die Ersten, Euer Gnaden, kann ich nicht bestimmen – bei meiner Zeit jedoch die Ersten; denn Dero Herr Vater haben die Herrschaft Ste. Roche nie beehrt.«

Zur Rückkehr geneigt, wollte Leonin dies eben Fennimor vorschlagen, da bemerkte er, daß sie von seiner Seite in das Nebenzimmer geschlüpft war, und in demselben Augenblicke rief sie ihn von daher zu sich: »O, Leonin, komm' geschwind, und sieh', was ich hier Reizendes gefunden habe!«

Er eilte ihr nun nach und trat in das düstere Schlaf gemach der Königin, in dessen Hintergrunde das riesige Himmelbett mit dunkelrothsammetnen Vorhängen stand. Ihm entgegen aber trat Fennimor und hielt einen schönen goldenen, mit Edelsteinen verzierten Becher in der Hand. – »O Leonin,« rief sie, »welch' ein Kunstwerk! Sieh', wie herrlich das gemacht ist! O, laß' ihn mir, ich will ihn zum Andenken behalten und täglich daraus trinken!« In demselben Augenblick setzte sie ihn an die Lippen, als versuche sie ihn.

»Großer Gott, erbarme Dich!« schrie der alte Kastellan, und ehe noch die Lippen den Rand des Bechers umschlossen, riß er ihn aus Fennimor's Hand und stellte ihn dann schaudernd nieder, als habe er sich daran verletzt – aber zur Besinnung kommend, hatte er einige heftige Worte von seinem sichtlich[242] beleidigten jungen Herrn zu bestehen, und beschämt beugte der alte Mann sein Knie vor seiner jungen Gebieterin und flehte um ihre Verzeihung. »Ich habe mich schwer vergangen, Euer Gnaden, aber vielleicht vergebt Ihr mir um der Veranlassung willen. – Sehen Euer Gnaden den trüben Grund des Bechers? – Als er zuletzt gefüllt ward, ist Gottes herrliche Gabe zum Frevel benutzt worden, und der helle Wein der Bourgogne ward mit Tropfen tödtlichen Giftes gemischt – niemals hat ihn seitdem das heilige Wasser gespült, und er ist erblindet, wie Ihr ihn hier sehet.«

Schaudernd wendete sich Fennimor ab, und St. Albans winkte den Grafen bei Seite, und setzte schnell und ängstlich hinzu: »Der Herr Marquis Spinola folgte hieher seiner Geliebten, der Frau Königin Katharina – aber sie hatte Neigung, ihn los zu werden, und es fand sich dazu ein Großer ihres Hofes, den sie bevorzugte. Obwol nun der Dolch in seinem Schlafgemache auf ihn harrte, so fürchtete Katharina doch den Widerstand des muthigen Marquis; als er sie am Abend verließ, reichte sie ihm selbst diesen Becher, dessen schnelle Wirkung sie noch an der plötzlich gebrochenen Kraft des Unglücklichen beobachtete, und entließ ihn dann. Aber er ahnete das Geschehene, und als der erste Dolchstoß ihn traf und der tödtliche Schmerz des Giftes ihn zugleich zerriß, stürzte er in das Schlafzimmer der Königin zurück, von seinem Mörder verfolgt – und schrecklich hier das Geschlecht Beider verfluchend, schleuderte er der Königin den Becher an den Kopf, daß er weit hin zur Erde rollte – dann verschied er auf ihrem Bette, Bäche von Blut vergießend, so daß die Frau Königin, von seinen Flüchen verfolgt, aus diesem Bette nicht entfliehen konnte, ohne bis an die Knöchel in Blut zu waten. – Da reiste sie zur selben Stunde aus dem Schlosse, und Alles, wie von Geistern gejagt, hinter ihr her, und nie betrat sie es wieder, Niemand durfte je seinen[243] Namen vor ihr nennen. Den Becher aber rührte Keiner wieder an – es war der Königin Lieblingsbecher, darum verfluchte der Herr Marquis Jeden, der daran die Lippen setzen würde.«

Der Graf hörte mit tiefem Schauer die schnelle Mittheilung des Greises und sah sich hastig nach seinem jungen Weibe um, das zuerst den schrecklichen Bann überschritten hatte.

Sie lehnte sich bleich und erschüttert gegen das Bett der Königin, und als Leonin zu ihr eilte und sie liebevoll in seine Arme schloß, erleichterte sie ein Strom von Thränen.

Doch der Alte war ihnen nachgeschlichen und zupfte mit trauriger Miene den Grafen am Kleide. »O, führet die gnädige Herrschaft hier fort!« sprach er leise, indem er, von Fennimor unbemerkt, auf die großen dunkeln Flecke am Fußboden zeigte; und Leonin fühlte, das sie auf dem Blute des Spinola standen, der hier das Geschlecht der Crecy verfluchte; denn was der alte Kastellan aus Ehrfurcht verschwieg, war Leonin zufällig bekannt und bezeichnete in dem erwähnten Mörder den Grafen Theophim von Crecy.

Sanft strebte er, die zitternde Fennimor aus diesem traurigen Bereiche zu ziehen, willig folgte sie ihm, und der Kastellan, der schnell die Thüren dieser Unglückszimmer mit Schlössern und Querbalken wieder verwahrte, öffnete in dem Banketsaale eine Seitenthür, die nach einer offenen Gallerie führte. Wenn auch noch älter an Ursprung, war sie doch in diesem Augenblicke eine wahre Erquickung, da die Herbstsonne warm und duftig auf sie schien, und die zierlich gemauerte und vielfach durchbrochene Einfassung mit Moos und niederhängenden Eibenbäumchen durchflochten war, welches Alles dem unschuldigen Leben der Natur näher führte; obwol hier das Zeichen des überhand nehmenden Verfalls, von dem die Vegetation mit ihren vielfach anmuthigen Mitteln sogleich Besitz nimmt, deutlicher hervortrat. Hier beruhigte sich Fennimor, und ihr trübes Auge gewann seinen vollen Glanz wieder, und Lippen und Wangen ihre Farbe.[244]

»Wo sind wir denn jetzt?« – frug sie, auch sogleich zu ihrer alten Neigung zurückkehrend und die Fensterreihe hinter sich prüfend, wovor diese Gallerie entlang lief.

»Dies waren die verschiedenen Zimmer der Hoffräulein« – sprach der Kastellan; »sie sind ohne Werth, und haben eine besonders feuchte und kalte Luft.« –

»Aber jener Thurm, an dessen Thüre sich diese Gallerie endigt, wo führt er hin? – O, sieh' doch, Leonin, wie reizend dort das Ende eines Altans hervorschaut! Welch' herrliche Aussicht muß man von ihm in das Thal von Ste. Roche haben, da er mehr nach jener Seite zu liegt!« und schon eilte Fennimor auf der Gallerie voran, das Schloß an der kleinen Thür gab nach, und sie stand in dem Thurmzimmer, ehe der Graf ihr folgen konnte, was St. Albans mit sichtlichem Widerstreben that.

Auch dies war ein großes, rundes Schlafzimmer, jedoch in seiner Ausstattung von bedeutenderen Ansprüchen, obgleich diese mehr, als in den übrigen Zimmern, gelitten hatte, da der Altan zwar mit seinen großen Thüren das Fenster bildete, aber, den Unbilden des Wetters preisgegeben, Regen und Schlossen eindringen ließ. Da liefen an den vergoldeten Lederbehängen der Wände kunstreich geschnittene Bänke von Eichenholz um das Zimmer her, und neben dem Kamine von schwarzem Marmor stand das große Bett, welches, wie gewöhnlich, an Vorhängen und Verzierungen der Holzschneidekunst den meisten Aufwand früherer Zeit zeigte. Vorzüglich aber betrachtete Fennimor ein schönes Betpult mit Knieschemmel, an dem ein zusammengesunkener kleiner Harfion, eine kleinere Art dieses später erst vergrößerten Instruments, wie die Damen ihn leicht in einer Hand zu tragen vermochten. Dies kleine Instrument, wenn jetzt auch ohne Saiten, mit verrosteten Wirbeln, war doch mit dem größten Fleiße in Elfenbein und Gold gearbeitet, und zeigte an, daß hier ein Fräulein gehaust, da nur Frauen[245] dies Instrument spielten. – Die Vorhänge des Bettes waren nicht zugezogen, und Fennimor sah die Kissen und Matratzen von dunklem Damast, und die reich gestickte Decke, wenn auch Alles von Staub und Feuchtigkeit geschwärzt erschien, und kaum noch in seiner früheren Beschaffenheit kenntlich. –

Schon ein paar Mal hatte Fennimor gefragt, wem dies Zimmer gehört habe – da sie ihre Frage wiederholte und den alten Mann dabei befremdet ansah, erwiederte er schüchtern: »Es ist der Eudoxien-Thurm.«

»Eudoxia? Nun, wer war das?« frug sie weiter.

»Eudoxia, das schöne Fräulein von Nemours, war auch eine Hofdame der Frau Königin Katharina – aber sie hatte nicht Glück davon. Der König, sagt man, habe sie lieber gehabt, als erlaubt war, und er fand sie hier einstmals auf ihrem Lager, daß sie ihm blos noch die blutende Wunde in der Brust zeigen konnte, und ihm sagen, wie ihr befohlen war: die Königin habe dies gethan. – Dann ist sie verschieden. Drauf, sagt man, säße sie noch immer hier auf diesem Altane in ihrem weißen Kleide und warte auf den König, wie er sonst durch das Thal herauf zog.«

»Heil'ger Gott,« rief Fennimor und barg ihr Antlitz an Leonin's Brust, »eine Königin und morden! Ist denn das möglich? Sie sagen ja, sie sind von Gott erwählt – können sie denn da morden? Das ist vielleicht nicht wahr! O, Leonin,« fuhr sie wemüthig fort, »sprich doch, Du mußt es ja wissen!«

»Laß' das jetzt, Fennimor! Kehren wir lieber zurück – hier unten liegen unsere Zimmer auch freundlich von der Sonne erhellt, da wohnen keine schrecklichen Erinnerungen. Mein Ur-Großvater ließ sie gastlich einrichten – dort wollen wir Alles vergessen.«

»Ja wohl,« sprach der Kastellan, »von diesem guten gnädigen Herrn sind nur schöne, heitere Nachrichten in der Chronik zu finden. Er benutzte auch nie diese oberen Gemächer oder doch nur jene Seite drüben, die königlichen Prunkgemächer,[246] nie den eben besuchten Banketsaal, weil er auf den großen finstern Hof mit dem Grabmal des Herrn Grafen Theophim herabsieht.«

Die vielfach bewegten Wanderer kehrten in ihre jetzt schön und ansprechend eingerichteten Zimmer zurück, und hier erst zeigte es sich, wie tief erschüttert Fennimor war, denn bleich und wortlos sank sie in einen Stuhl am Feuer hin, hörte nicht, was Leonin sprach, und schien mit offnen Augen bewußtlos.

Leonin fühlte bald, daß er sie nicht gewaltsam wecken dürfe, und gönnte es ihr, sich selbst auszuträumen, mit seinen liebevollen Blicken ihr blos ein zärtlicher Wächter bleibend.

Mit einem tiefen Seufzer löste sich endlich ihr beklommener Zustand – sie erkannte Leonin und sank weinend an seine Brust. – »O, Leonin,« rief sie – »daß in der offenen, schönen Welt, wie sie von Gott kömmt, noch so eine finstere geheime Welt ist, die gar nicht dazu gehört, gar nicht Gottes Welt sein kann – und bei der nicht zu begreifen ist, warum die Menschen sie in die andere große Gottes-Welt hineinsetzen, und damit die andere verderben und Gott kränken! – O, Leonin, ich glaube, mein Vater wußte gar nichts von der falschen, gemachten Welt!«

»Wohl hast Du Recht,« – sprach Leonin, »daß dies nicht die rechte, sondern eine falsche Welt ist – und es schmerzt mich, daß Du mit der Kenntniß des Schlosses, die Du so wünschtest, einen so düstern Blick hinein thun mußtest. – Laß' uns diese Welt, die uns so fern liegt, vergessen, und richte Deine Blicke auf die Gegenwart, die kein Schrecken birgt. Obwol ich durch Unterricht und Lebensweise diesen Beziehungen näher getreten bin, so sind sie von mir doch noch nicht selbst erlebt, und ich ahne mehr den Stoff, dem ich zerstreut in der Welt begegnet bin, als daß ich ihn in dem eignen Leben bisher nachzuweisen wüßte. Es ist ein schwermüthiges Geschäft, sich in die Fragen zu vertiefen, die sich uns darüber aufnöthigen wollen, wie sich die Zulassung der schrecklichen Verbrechen,[247] welche die Erde besudelt haben, mit der Gerechtigkeit Gottes verträgt, wie, daß wir oft den Unschuldigen untergehen sehen und den Verbrecher triumphiren. – Laß' uns denken, daß dessen ungeachtet die göttliche Gerechtigkeit sich ausreichend erweist, daß solche Triumphe, wie das Untergehen der Unschuld nur scheinbar sind, und der innere Zustand Beider in der ausgleichenden Hand Gottes ruht.«

»Ja, so wird es sein,« – sagte Fennimor, welche ihn mit gläubiger Zuversicht angehört hatte: »aber gewiß giebt Gottes schöne Welt zum Bösen keine Veranlassung, und Jeder dürfte gut sein nach seinen Kräften.«

»Und doch ist dieser Streit, dieser Kampf nöthig – dadurch gerade, daß wir mit dem Bösen und gegen das Böse kämpfen, entwickelt sich das Höhere in der menschlichen Natur, und der, welcher den Kampf erregt, ist ein Werkzeug in Gottes Hand, eben so, wie es der Streiter für das Gute ist; wie schwer würde es uns werden, das Maaß ihres Verdienstes oder ihrer Verschuldung zu finden – das ist unserm Auge entrückt.«

»Ach, Du bist weise!« sagte Fennimor, die trüben Augen zu ihm aufschlagend. Dann ließ sie sich, von so vielen Eindrücken ermüdet, von Emmy Gray nach ihrem Bette führen, und bald heilten ihre unschuldigen Träume die Wunden ihrer Seele aus. –

Wie liebevoll auch Beide den immer näher rückenden Augenblick der Trennung vor einander zu verhüllen suchten, er nahte sich darum doch, und Fennimor rang mit der Einwilligung zu dem größten Schmerze, den sie glaubte erleben zu können. Aber noch immer sträubte sich ihre stolze und kräftige Natur gegen eine solche Zumuthung; fast zürnend blickte sie auf Umstände, die sie dazu nöthigen wollten; und wunderbar fühlte sich Leonin von dieser Forderung, die er in jedem Worte, in jedem Blicke dieses Naturkindes erkannte, verschüchtert. Alle Rücksichten, von denen er sich beherrscht erkennen mußte, versanken[248] vor einem Geiste, dem die natürlichen Verhältnisse der Menschen allein eine Geltung hatten, und er fühlte theils Scheu, ihr die Erscheinungen der Gesellschaft, wie sie ihm bekannt und bedeutend geworden, zu schildern, theils fühlte er Zweifel, ob sie ihnen den Einfluß zugestehen würde, da sie ihre Fassungskraft übersteigen mußten. – Aber wir können oft nach Außen hin uns gegen das Andringen einer gefürchteten Veränderung mit entschiedenen Worten wehren, dennoch ergreift schon die Ueberzeugung, daß wir ihr nicht entrinnen können, unsere ängstlich Wache haltenden Gedanken, und wir betreffen uns gegen unsern Willen auf kleinen Handlungen oder Einrichtungen, die nur darauf Bezug haben können, daß wir selbst jene gefürchtete Veränderung für unabweisbar halten und ihr instinktartig schon entgegen kommen.

So machte Leonin, wie Fennimor Einrichtungen und Pläne zu Beschäftigungen und kleinen Erheiterungen im Freien, die ihre Zeit auszufüllen strebten, wobei eine stillschweigende Anerkennung durchblickte, daß sie dann ihres Gatten beraubt sein würde – und doch umschlichen Beide das entscheidende Wort, und nicht selten schaffte sich Fennimor nach solchen Anregungen, die ihre Seele beklemmten, durch ein paar angstvolle Worte Luft, die jede Andeutung verläugnen sollten.

Da hatte sie der Abend vor dem hohen Lesepulte gefesselt, und Fennimor las mit langsamer Aussprache, aber richtigem Accente und dem rührend unschuldigen Tone ihrer kindlichen Stimme, die unsterblichen Stanzen des Cid von Corneille. Wie glühten ihre zarten Wangen, wie schön hoben sich im verwandten Gefühle der eigenen hochherzigen Empfindungen die schön geschweiften Lippen, um den edlen Stolz, die reine ritterliche Liebe des Helden auszudrücken, wie hätte sie lieber selbst ihm gleich geantwortet, und wie gespannt lauschte sie der Antwort Ximenen's, hoffend, es sage ihrem eigenen hochbegeisterten Gefühle zu, was sie antworte.[249]

Wer vermöchte zu schildern, mit welchen Gefühlen Leonin, zwischen Sehen und Hören getheilt, vor ihr saß; leise war er von ihrer Seite weggerückt, ihr fast gegenüber, ihren vollen Anblick genießend und sicher, daß sie in ihrer begeisterten Hingebung an den großen Dichter und seinen Helden ihn selbst vergessen würde.

Die Kerzen, die über dem künstlich geschnittenen Pulte von Eichenholz in schweren silbernen Armen ruhten, beleuchteten von oben das runde Haupt mit seinen reichen, lichtbraunen Locken und warfen das hellste Licht auf die weiße, zartgewölbte Stirn. – Der Schatten hätte den schönen Untertheil des Gesichts verhüllt, wäre nicht von dem weißen Blatte des Buches, vor dem sie gebeugt saß, ein Reflexlicht dazu aufgestiegen, welches Farbe und Form magisch verschönte.

Die kostbaren Stoffe, die Leonin seiner Gemahlin nur passend hielt, waren ihr längst im täglichen Gebrauche bequem, und der reiche blaßblaue Seidenstoff, der von ihrem schlanken Leibe in vollen Falten zur Erde fiel, ward um Schultern und Busen mit reichen Spangen gehalten. Sie trug und paßte das Alles zu einander mit dem vollkommenen Geschick, was, von der Schönheit unterstützt, so oberflächlich unter die Rubrik einer natürlichen weiblichen Koketterie verwiesen wird, und vielmehr der edeln, reinen, allgegenwärtigen Empfindung zuzurechnen ist, welche eine Frau leitet, sich selbst zur Befriedigung, nur das Schöne und Vollkommene an sich leiden zu mögen.

Gewiß fühlte Leonin mehr, wie je, den unaussprechlichen Zauber seiner Liebe, und sein Blick schweifte einen Augenblick an den hohen, schwerfällig verzierten Wänden des schönen alterthümlichen Gemachs umher, und schien die verdüsterten Familienbilder herauszufordern, ihm ein würdigeres Modell zu zeigen für die Nachfolge in ihren Reihen.

Da war Fennimor an das letzte Wort gekommen, womit Cid von Ximene'n Abschied nimmt, überwältigt schlug das feurige[250] Kind die Hände zusammen, und Leonin's Augen suchend, rief sie: »O, wie göttlich schön ist es, solchen Schmerz zu fühlen!«

Leonin eilte ihr näher, aber ein schnell hervorbrechendes Schluchzen des holden Wesens zeigte ihm, wie tief die poetische Erschütterung war, die sie erfahren, und er schämte sich fast, mehr ihrer Schönheit, als der herrlichen Dichtung gedacht zu haben.

Doch sollte ihm keine Zeit bleiben, ihr seinen halben Antheil zu verbergen. Schritte wurden im offenen Nebenzimmer gehört; der Graf ging dem eintretenden Kammerdiener entgegen und nahm ihm einen Brief ab, der so eben aus Paris mit einem reitenden Boten angekommen war, der Tag und Nacht den Weg gemacht hatte.

Es durchzuckte Leonin, als er, den Lichtern näher tretend, durch wenige Zeilen des Marquis de Souvré von dem tödtlichen Erkranken seines Vaters benachrichtigt ward, und dem Begehren desselben, seinen Sohn noch einmal zu sehen.

Er erhob den Blick von dem verhängnißvollen Blatte zu Fennimor empor, die ihn gespannt beobachtend noch an derselben Stelle saß; er wollte noch ein Mal den Eindruck zurückrufen, dem er sich einen Moment früher so ganz hingegeben fühlte, aber schon hatte der Ausdruck seiner Züge, die sie so scharf beobachtet hatte, von ihrem Gesichte jene poetische Verklärung verwischt, die nur eben in dem Zurücktreten unserer eigenen Existenz Raum findet. Ahnungsvoll blickte sie ihn an, und er fand keine Worte; stumm reichte er ihr den Brief, dessen Inhalt, in wenigen Worten bestehend, sie eben so schnell überflogen hatte. Fennimor erblaßte wie der Tod, und einen Augenblick schien der ungeheure Schmerz ihre Gestalt mit Erstarrung zu berühren. Leonin wagte nicht, sie länger anzublicken; gebeugt stand er, an das Pult sich lehnend. – Da hörte er, wie sie aufstand; bald sah er sie vor sich stehen.

»Leonin,« sagte sie leise, aber fest und innig, »das ist Gottes Gebot! Dein Vater ruft Dich! – Du mußt[251] fort – schnell reisen! O, eile, eile, damit er Dir seinen Segen giebt, Du nicht, wie ich, die stumme, kalte Leiche findest!« –

»Fennimor, heil'ger Engel, Du sendest mich selbst von Dir, Du willst mir das Allzuschwere mit Deiner frommen Kraft erleichtern!« –

»Ja, Leonin, das will ich, und Dich rüsten helfen, damit Du schnell Deinen Weg antreten kannst, und will standhaft sein und Dich nicht entkräften durch meinen Weiberschmerz, damit Du ein Mann bleibst, ein Held, wie Cid – das hätte Ximene auch gethan.«

»Ha,« rief Leonin und drückte sie an seine Brust – »Corneille, welch' ein Lorbeer sproßt heute um Deine Stirn! Das ist Dichterberuf, die Begeisterung hervorzurufen, die das empfängliche Gemüth Dir nachfliegen macht und dem Leben den Karakter der Erhabenheit aufdrängt, mit dem Du es erfüllt hast!«

Sie sah ihn fragend an – sie wußte es nicht, daß es so war – aber, als sie an ihm vorüber aus dem Zimmer schwebte, die Worte zu verwirklichen, war in ihrer Gestalt eine Sicherheit und Ruhe, eine Erhabenheit, als schwebe der Goldreif Ximenen's um ihr jugendliches Haupt. –

Und so hatte der helle Dezember-Morgen kaum den leichten Frost der Nacht in Thautropfen verwandelt, da zog durch das Thal von Ste. Roche der beflügelte Reisezug des jungen Grafen Crecy, und aus Eudoxiens Thurm wehte ein weißer Schleier als letzter Liebesgruß, während die fromm beherrschten Thränen jetzt wie Bäche aus den schönen Augen Fennimor's, vielleicht auf dieselbe Fensterbrüstung fielen, wo einst Eudoxia dem königlichen Geliebten nachgeweint.[252]

Quelle:
Henriette von Paalzow: Der Verfasserin von Godwie-Castle sämmtliche Romane. Band 1–6, Band 5, Breslau 1855.
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