Von Schimpff das 562.

[321] Ein Fogel sang eim Brůder 300 Jar.


Es was ein geistlicher Brůder in einem Kloster, laß allemal den Verß in dem Psalter: (Quoniam mille anni ante oculos tuos. Ps. 89) ›Dusent Jar vor deinem Angesicht sein eben wie der gesterig Tag.‹ Diser Brůder kunt das nit glauben und bat Got den Herren, er solt im das zögen. Nun was er Custos der Kirchen, das er ordinet zů lüten, und uff einmal[321] nach der Mettin an dem Morgen nach seiner Gewonheit bleib er in seinem Gebet. Da kam ein schöner Fogel singen und flog vor im. Er gieng dem Fogel nach und meint, er wolt in fahen, und er zoch in so lang, das er in in den Wald bracht. Da saß der Fogel uff einem Baum, und der Brůder stůnd und hört im zů. Und hindennach gedacht er: ›Du můst gon heisen zů Prim lüten.‹

Da er an das Kloster kam, da het sich das Kloster verendert, und kant keinen me, und kant man in auch nit. Der Apt fragt, wer er wer. Er sprach, er wer nit me dan ein Stund da gestanden und het einem Fogel zůgehört singen. Sie giengen über die Bücher und funden, das der Apt, von dem er sagt, in drühundert Jaren nit gelebt het. Die Zeit was er da gestanden, und het in Got behüt vor Ungewitter und vor Hunger und vor Durst.

Quelle:
Johannes Pauli: Schimpf und Ernst. Teil 1. Berlin 1924, S. 321-322.
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