Der sechste Auftritt

[243] Sir Willhelm. Sir Robert. Sir Karl und Lucie.


WILLHELM zu Robert. Unterstütze mich, wenn meine Seele nicht unter ihren Leiden erliegen soll.

LUCIE die sich zu des Sir Willhelms Füßen werfen will, der sie aber zurückhält. Sehen Sie eine Verbrecherin zu Ihren Füßen, die unter der Furcht der grausamsten Ihrer Strafen und der Hoffnung Ihres Mitleidens zittert. Aber verdienet eine Undankbare, eine Heuchlerin einen einzigen Blick ihres Mitleidens? Ist es etwan noch die Lucie, die bloß durch den Mangel unglücklich war, wenn sie anders bei dem Überflusse ihrer Unschuld unglücklich sein konnte? Es ist eine Unwürdige, die nie von einer Tugend wie die Ihrige geliebet zu werden verdienete; die ihr Herz einer unglücklichen Leidenschaft preisgegeben hat; die sich selbst noch mehr durch das Geständnis dieser Leidenschaft erniedriget; und die ihre Verbrechen dadurch noch vermehret, daß sie den gütigsten, den tugendhaftesten Mann als den Urheber ihrer Verbrechen anklaget. Warum empfanden Sie doch einen einzigen Trieb des Mitleides und der Menschenliebe gegen mich? Warum waren Sie nicht ebenso grausam als meine barbarischen Eltern und ließen mich in dem Mangel um kommen, in dem Sie mich fanden? Ohne Ihre Liebe wäre ich glücklich gewesen, da ich jetzt durch dieselbe unglücklich geworden bin –

KARL. Und Ihr Sohn wird ewig ohne den Besitz seiner Lucie ebenso unglücklich sein. Können Sie die Natur selbst verleugnen? Sollen, vergeben Sie, meine Seele selbst zittert vor dem Gedanken, sollen Lucie und Ihr Sohn die einzigen sein, die den Mann verfluchen müssen, den alle die übrigen Menschen segnen? Ach! mein Vater, wo ist die Wollust hin, welche Ihr Auge verriet, wenn Sie ehedessen Ihren damals noch glücklichen Sohn[243] und Ihre Lucie in Ihre Arme schlossen und den Himmel baten, sie glücklich zu machen? Können diese Bitten Ihr Ernst gewesen sein? Und sind gleichwohl einem Herzen voll Liebe andre möglich gewesen?

ROBERT sachte zu Sir Willhelm. Willhelm, dies ist der entscheidende Augenblick. Du weißt, was du zu tun hast.

LUCIE. Ich lese die Bekümmernis, die ich Ihnen verursache, und den Zorn, den ich verdiene, in Ihrem Stillschweigen. Rächen Sie sich und geben Sie mich dem Elende wieder, dem Sie mich entrissen haben. Senden Sie mich zu dem unnatürlichen Vater zurück, der mich verstieß. Ich will dadurch, daß ich ihn durch meine Gegenwart quäle, an ihm die Seufzer rächen, die ich in Ihrer Person der Tugend selbst gekostet habe. Schmerz ist der Dank, den ich Ihnen für Ihre Wohltaten zurückgeben muß. Ich ward von der Natur verdammt, die Qual meiner Nebenmenschen zu sein. Es war nicht genug, daß ich es für diejenigen war, die mich gebaren. Ich mußte auch noch die Ihrige werden. Ungütige Natur, warum ward ich von dir durch ein Leben bestraft, um das ich dich nie gebeten habe?

WILLHELM. Lucie! Lucie! Dieser Seufzer ist der erste von Ihnen, der meinen Zorn verdiente. Nur der ausschweifenden Hitze kann das zärtlich gesinnteste Herz gegen Sie denselben verzeihen. Fürchten Sie, daß der Himmel ihn vielleicht schwerer verzeihen möchte. Ach, könnte ich Sie glücklich machen! Mein Blut –

ROBERT. Vergebliche Umschweife! Lucie, Ihre Geburt –

WILLHELM sachte zu Sir Robert. Willst du alles vergessen, was du der Scham und Behutsamkeit schuldig bist?

LUCIE. Nein! Sir Robert, reden Sie fort. Sie sind weder der Scham noch der Behutsamkeit etwas schuldig. Ja, ich weiß, meine Geburt ist das unglückliche, das rechtmäßige Hindernis. Ich bin sie unfehlbar einem Verbrechen schuldig, welches eine durch ihre Leidenschaften unglückliche Person mehr in die Welt gesetzet hat. Wie konnte sich Stolz und Unsinn in Lucien so weit vergessen, daß sich dies Herz, das ewig unter einer unverdienten Schande zu seufzen bestimmt war, so vieler Hoffnung erkühnen durfte? Aber gleichwohl ist diese Geburt das einzige, was mir diese Hoffnung raubet. Sie kennen alle meine Gebrechen, meinen Stolz, meine Hitze, Sir Willhelm. Wie oft empört sich dies Herz wider seine heiligste Pflicht. Wie oft will es diesen Vater einen Bösewicht nennen, der die Ursache ist, daß ich unglücklich bin! Wie oft will es diese Mutter wegen ihres Verbrechens[244] anklagen! Verdienen diese Eltern nicht bloß die Rache des Himmels wegen der Schmerzen, die sie Ihnen durch mich gemachet haben? Doch ich weiß, Sie sind großmütig; Ihr Beispiel selbst wird mich lehren, den Himmel anzuflehen, daß er denenselben die Strafen dieser Rache, die sie verdienen, schenken möge.

ROBERT zu Sir Willhelm. Deine Verzögerung verdienet alle die Qual, die ich dich empfinden sehe.

WILLHELM. Könnten Sie mein Herz sehen, Lucie! Sie würden mich mehr bedauern, als Sie Mitleiden von mir verlangen. Fordern Sie alles von mir, nur meinen Sohn nicht. Nie kann ich Ihnen meine Einwilligung zu einer Vermählung mit ihm geben. Man lasse mich allein mit Ihnen, und Sie sollen mein ganzes Herz sehen. Du aber, Karl, höre den letzten Befehl eines gütigen Vaters. Nimmermehr sollst du Lucien als deine Gemahlin umarmen dürfen.

KARL. Und weder Sie noch der Himmel selbst sollen sie aus meinen Armen reißen.

WILLHELM der sie mit Gewalt aus den Armen seines Sohnes herausnimmt. Zittere, Bösewicht, daß die Rache ihren Donner bereits wider dich aufgehaben hat.

KARL. Ungerechter Vater, wollen Sie mir meine Gemahlin rauben? Wissen Sie, daß ich dasjenige nunmehr durch die Gerechtigkeit von Ihnen erzwingen will, was ich durch Liebe vergeblich von Ihnen zu erhalten gesuchet habe. Ich bin diesen Augenblick mit ihr vermählet. List und Liebe haben alle Ihre Grausamkeiten hintergangen. Wir haben die wenigen Augenblicke genutzt, die uns Ihre Nachlässigkeit erlaubet hat. Rauben Sie mir noch Lucien, wenn Sie können? Ich bereue nichts als das unnütze Vertrauen, das ich zu Ihrer Gütigkeit gehabt habe, daß Sie der Liebe einen Fehltritt verzeihen würden. Nein! meine Lucie, hier ist kein Mitleiden zu hoffen. Kommen Sie, meine liebe Gemahlin (süßer Name!), kommen Sie, lassen Sie uns einen grausamen Vater fliehen und in der einsamen Glückseligkeit der Liebe seine Drohungen vergessen. Er will sie wegführen.

WILLHELM. Wohin? Bösewicht! Geh allein aus meinem Gesichte, so weit dich die Rache des Himmels gehen läßt, und nimm den Ruhm mit dir, daß du der Mörder deines Vaters geworden bist. Bleiben Sie hier, Lucie, wenn Sie nicht noch alle Empfindungen der Tugend verloren haben. Mit dem Blute seines Vaters muß er Ihren Besitz erkaufen.[245]

KARL. Erinnern Sie sich an die Gelübde, meine Gemahlin, die Sie mir diesen Augenblick in dem Angesichte des Himmels getan haben, und folgen Sie mir.

WILLHELM. Wünsche, daß sie der Himmel nicht gehöret haben möge. Erinnern Sie sich an die Pflichten, die Sie meinen Wohltaten schuldig sind.

LUCIE. Ich verfluche Ihre Wohltaten, ich verfluche mich selbst. Gehen Sie, gehen Sie, Karl, daß ich nicht noch mehr Lästerungen ausstoßen muß.

KARL. Meine verdammte Leichtgläubigkeit! Warum hoffte ich doch von Ihnen Vergebung zu erhalten? Hätte ich mich mit meiner Gemahlin gleich in Sicherheit begeben, ich würde nunmehr, ohne den Himmel zu beleidigen, über den unbilligen Zorn eines Vaters lachen können. Doch Sie sollen mir Lucien nicht länger mehr zurückehalten. Ich will sie besitzen, und wenn ich mir Ihren Besitz durch meiner Seelen Seligkeit erkaufen soll. Geht voll Mut ab.

WILLHELM. Robert, eile ihm nach und versuche, ob noch ein Mittel übrig ist, den Verlornen aus dem Abgrunde zu retten, in den er sich stürzen will. Ich will hier indessen Lucien zu beruhigen suchen.


Quelle:
Die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren. Leipzig 1934, S. 243-246.
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