52. Agathokles an Phocion.

[89] Nisibis, im October 302.


Hier bin ich – in Nisibis. Das Haus, das ich bewohne, liegt in derselben Straße, in der ich vor zwölf Monaten mit Demetrius lebte. Es hat den Cäsarn gefallen, diese Stadt auf der äußersten Grenze des Reichs gegen Persien zum Schauplatz der Friedensunterhandlungen zu wählen, die Narses nach der erlittenen Niederlage eröffnet hat, und sehr eifrig zu verlangen scheint. Constantin, als der Sohn des abendländischen Cäsars, durfte nicht dabei fehlen, und ich folgte meinem Fürsten, meinem Freunde, weil er es wünschte. So ist es gekommen, daß ich diese Stadt wieder gesehen, die mir ewig unvergeßlich, und ewig zu schmerzlicher Erinnerung seyn wird. Als Constantin zuerst den Wunsch äußerte, daß ich ihn begleiten möchte, warnte mich eine innere Stimme,[89] dieser Bitte nicht zu willfahren. Aber ich trotzte auf die Macht der Zeit, die jeden Eindruck schwächt, auf die Zerstreuung durch die Geschäfte, die meiner hier warteten, endlich auf die Stärke meines Herzens. Es war thöricht, es war vermessen, dies zu hoffen. Als ich von Weitem diese Mauern erblickte, wo ich so schöne, so selige, so schmerzliche Stunden verlebt hatte – erwachte die ganze Vergangenheit und das Gefühl meines Verlustes mit unwiderstehlicher Kraft in mir, und keine Zerstreuung, keine Beschäftigung hat diesen Eindruck bis jetzt schwächen, kein Kampf ihn besiegen können. Constantin weiß nicht, was er von mir gefordert hat; es wäre unedel, es ihm jetzt zu sagen, und seinem Herzen die drückende Last einer solchen Verbindlichkeit aufzuwälzen. Ueberhaupt ist es wohl eben so vergeblich als unbillig, Andere, die nichts dazu beitragen können, es wieder herzustellen, mit dem steten Anblick unsrer trüben Mienen, mit der Anhörung unsrer alten Klagen zu quälen. So suche ich mich zu beherrschen, und glaube wenigstens durch diese Uebung meiner Willenskraft einigen Nutzen für mein besseres Selbst zu finden.

Es ist seltsam, wie unauslöschlich tief manche Eindrücke bleiben, indessen andre kaum die Zeit ihrer gegenwärtigen Dauer überleben, und noch seltsamer und übler für uns Sterbliche, daß jene meistens unter die traurigen gehören, und die frohen schnell verschwinden. Warum hält des Menschen Sinn den Schmerz so fest, und vergißt so schnell, was ihm wohlgethan hat? Das ist nicht gut, es führt zur Undankbarkeit gegen Gott und Menschen, und eben darum ist vielleicht auch die Begierde nach Rache bei rohen Menschen der mächtigste und unauslöschlichste Trieb. Für mein Gefühl ist keine Zeit zwischen jenen selig düstern Tagen und dem gegenwärtigen Augenblick. Alles steht hell vor mir, Alles lebt um[90] mich wie damals, nur Eins, Eins fehlt, und dies Eine! – Es ist kein Wahn, kein Werk der erhitzten Einbildungskraft – ich werde dies Eine nie vergessen!

Warum sind die freundlichen Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt in Nikomedien, an Alles, was sich dort vereinigte, um ihn mir zu einem schönen hellen Punkte in meinem Leben zu machen, so ganz verschwunden? Warum drängt sich, wenn ich sie ja zuweilen geflissentlich zurück rufe, um mich zu zerstreuen, nur der einzige Schatten, der darauf liegt – die Eitelkeit und Absichtlichkeit des Wesens, das sonst so liebenswürdig ist, mächtig hervor, und wirft seinen düstern Schein auf das ganze Gemälde, und macht seine fröhlichen Farben erblassen, und kehrt, indem er mich auf den scharfen Gegensatz zwischen Calpurnien und meiner verkärten Jugendfreundin hinweiset, den Stachel grausam gegen mein Herz?

Doch, wo gerathe ich hin? Was ich noch kurz zuvor als löblich und nöthig anpries, unterlasse ich sogleich selbst, und breche gegen dich, mein väterlicher Freund, was ich gegen Andere zu beobachten mir streng vornehme. Verzeih, wenn zuweilen ein schnelles Gefühl mich hinreißt! Ich sehe die Zwecklosigkeit und Lästigkeit ewiger Klagen ein, und es ist mein fester Vorsatz, sie nicht laut werden zu lassen. Du aber, der du weißt, wie vieler Nachsicht, Geduld und Liebe mein Herz von jeher bedurfte, um zufrieden zu seyn; du, der du sie so oft mit mir hattest, und mich Verwaisten mitleidsvoll an das deine schloßest, trage sie noch ferner, und sieh mir gütig nach, was eine schnelle Empfindung, der Vernunft zum Trotze, verbricht.

Constantins Freundschaft ersetzt mir viel – und ein stilles Band, das sich mit jedem Tag mehr und mehr um meine Seele schlingt, kann nicht anders, als uns noch näher vereinigen. Er ist ein Christ, wie du weißt, und daher stets mit vielen seiner Glaubensgenossen umgeben,[91] welche sich um ihn als einen festen und erhabenen Mittelpunkt sammeln. Mit ihm besuche ich ihre Versammlungen, und finde – ich weiß, daß trotz ihrer Verschiedenheit unsrer Denkart mein Vertrauen dich nicht beleidigt – immer mehr Grund, die gute Meinung und die schönen Hoffnungen, die ich von den Wirkungen dieser Lehre auf die Menschheit hege, zu nähren und zu vergößern.

Ihr Gottesdienst, so weit ich als Ungeweihter demselben beiwohnen darf – denn bei der Feier ihrer Mysterien muß nicht allein der Nicht-Christ, sondern auch der noch auf niedrigen Stufen stehende Glaubensgenosse sich entfernen – also ihr Gottesdienst, so weit ich Zeuge davon war, besteht in gemeinschaftlichen Gebeten und Gesängen, Vorlesungen aus ihren heiligen Büchern, der Lebensgeschichte ihres Meisters, und in zweckmäßigen Reden darüber. Wie oft hat, wenn du mit mir die Reden des Cicero, des Hortendus, des Demosthenes lasest, ein stilles Feuer meine Brust ergriffen, und in schmerzlicher Erinnerung das Bild jener schönen Zeit vor meine Seele geführt!. Da sah ich die versammelten Quiriten, ich sah den Redner vor den Rostris1 stehen, und voll glühender Vaterlandsliebe, mit begeistertem Tone die würdigen Gegenstände, die das Wohl oder Wehe des ganzen Volkes betrafen, würdig und hinreißend vortragen; ich sah die Menge an seinen Lippen hangen, jetzt von edlem Unwillen, jetzt von großen Entschlüssen bewegt, der Gemüthsstimmung des Redners willig folgen, und in sympathetischer[92] Rührung seine Gefühle theilen. Erhaben und über Alles groß erschien mir dann dieser Beruf, und göttlich die Macht, ein ganzes Volk nach eignen Einsichten durch die sanfte aber unwiderstehliche Gewalt der Sprache zu leiten, der Sprache, dieses Himmelsgeschenks, das ganz eigentlich und allein den Menschen über das Thier erhebt, worin seine Perfectibilität, seine schönsten Vorrechte liegen. Das sind die goldnen Ketten, die vom Munde des Hermes fließen. Aber verstummt ist der Mund der Suada, verschwunden das kräftige selbstständige Volk der alten Comitien, die Ketten des Hermes sind verrostet. Nur Sophisten und Rechtsgelehrte mißbrauchen noch zuweilen ihre entweihten Geheimnisse, um vor Unwürdigen einen unwürdigen Zweck zu erreichen.

Aber in den Tempeln der Christen erhebt sich diese so gesunkene Kunst wieder in ihrer alten Reinheit und Stärke, und wenn auch die Gegenstände, an denen sie sich übt, nicht von so allgemein bemerkbarem Einfluß, die Menge, vor der sie sich zeigt, nicht ein ganzes selbstständiges Volk ist, so sind jene, die sie wählt, nicht minder würdig und gemeinnützig, und ihre Wirkung auf die versammelte Gemeinde nicht minder groß und wichtig. Mit erhebendem Gefühl, mit Rührung habe ich manche dieser Redner gehört, und mich durch Erfahrung überzeugt, daß jene schimmernden Bilder von der Macht der Beredtsamkeit und Declamation, die mir damals vorschwebten, kein jugendlicher Traum, keine Täuschung waren. Es liegt eine sympathetische Kraft in der lebhaften Rede. Noch ehe uns die vorgebrachten Gründe überzeugt haben, hat das sprechende Auge, die ausdrucksvolle Miene, der bewegte Ton uns überredet. Es ist ein Mensch, ein Wesen wie wir, das wir sich freuen, leiden, zürnen sehen; und wir leiden, zürnen und jubeln mit ihm. Der Mensch spricht zum Menschen, die Natur ergreift uns mit[93] unsichtbarer Gewalt, und reißt uns fort, wohin zu folgen wir nicht widerstehen können.

Ich bin überzeugt, daß, wenn es mir möglich wäre, dich zum Zeugen einer solchen Feier zu machen, ein grosser Theil deiner Abneigung gegen die Christen verschwinden würde. Da es nun unsre Pflicht ist, überall Wahrheit zu suchen, und die Möglichkeit, dich von dieser zu überzeugen, überall in deiner Nähe ist, wo sich ein Christentempel und ein geschickter Redner befindet, so bitte ich dich um deiner Liebe zu mir, um der Beruhigung willen, dich meiner Ueberzeugung näher kommen zu sehen – besuche eine solche Versammlung, höre ihre Redner, und schreibe mir dann, welche Wirkung dies auf dich hatte. Leb' wohl!

Fußnoten

1 Rostra war ein Gebäude auf dem Hauptplatze von Rom, das aus den Schiffschnäbeln einer besiegten Flotte errichtet worden war, und vor welchem die öffentlichen Reden gehalten wurden. Hermes oder Merkur ist auch der Gott der Beredtsamkeit, und wird als solcher mit goldnen Kettchen gebildet, die von seinem Munde an die Ohren der Zuhörer gehen.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 33, Stuttgart 1828, S. 89-94.
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