71. Calpurnia an Sulpicien.

[76] Nikomedien, den 25. Februar 303.


Bald sind es zwei Monate, seit du Nikomedien verlassen hast. Du mußt längst in Ecbatana ganz eingewohnt seyn, und noch habe ich außer einem kleinen Briefchen, das du mir unterwegs schriebst, und das eben nicht Gemacht war, mich über deinen Zustand zu beruhigen, keine Nachricht von dir und Tiridates erhalten. Ich bin sehr um dich bekümmert, und beschwöre dich, wenn meine ängstigenden Gedanken wahr seyn sollten, wenn du zu krank zum Schreiben wärest, mir durch Tiridates, durch eine Sclavin, durch wen du willst, nur ein paar Zeilen zu senden, die meine Zweifel endigen.

Ich selbst bin jetzt in einer sonderbaren Stimmung. Sehen möchte ich die Miene doch, mit der du diesen Brief lesen wirst, und die Bemerkungen hören, die du darüber machst. Abenteuer, tragische und zärtliche Scenen, Schrecken, Verwundungen, Verkleidungen – kurz Alles, was ein milesisches Mährchen anziehend machen kann, habe ich dir heute zu berichten, und ich hoffe, es wird dir im Lesen wenigstens die Hälfte von dem Schrecken und dem Vergnügen machen, das es mir in der Wirklichkeit verursachte. Schon lange hätte es ein hohes Interesse für mich gehabt, ein kleines Abenteuer zu erfahren, mein Leben floß in gar zu gewöhnlicher Alltäglichkeit hin. Nun haben die Götter und meine Laune mir eins beschert, und du sollst Alles getreulich hören.

Vorgestern war ein trüber unruhiger Tag für Nikomedien. Es galt eigentlich nur den Christen, deren Tempel auf kaiserlichen Befehl zerstört wurden, um ein[77] Mal ihrem Unwesen ein Ende zu machen, aber die ganze Stadt fühlte die Wirkungen dieses Schlags. Allenthalben fielen bald tolle, bald blutige Auftritte vor, und es verging keine Stunde, wo man nicht meinem Vater irgend ein Verbrechen oder einen Unglücksfall zu berichten kam. Mir war recht unheimlich zu Muth. Wäre ich eine Schwärmerin, so würde ich dies Gefühl für Ahnung ausgelegt haben; so aber sehe ich sehr deutlich ein, daß es nichts als eine natürliche Folge der Begebenheiten dieses Tages war. Ich legte mich spät nieder, und schlief nicht viel, denn auch die Nacht war nicht stille. Da weckte mich am Morgen das Geräusch meiner Thüre, die leise geöffnet wurde, ich fuhr auf, Drusilla trat herein – mit einem Gesichte, das schon von Weitem Uebels prophezeite. Was ist's, rief ich, was ist geschehen? »Erschrick nicht, Gebieterin,« sagte sie nach der Art dieser Menschen, und goß dadurch kalte Schauer über mich – »es ist ein großes Unglück –« ich sprang zitternd am ganzen Leibe aus dem Bette. Mein Vater – rief ich; denn nichts Geringeres als ein Unfall, der ihn oder uns Alle betroffen hätte, stand vor mir. »Nein,« sagte Drusilla, »dein Vater ist recht wohl; bleib nur und höre mich.« Ich war im Begriff fortzueilen. »Agathokles –« fuhr sie fort, und sah mich ängstlich an. – Auf ein Mal fühlte ich, wie sich die ganze Natur meiner Empfindungen änderte; ich fühlte noch Bangigkeit, aber nicht mehr jene fürchterliche Beklemmung, die mir vorher den Hals zugeschnürt hatte. Agathokles? wiederholte ich. Was ist's mit ihm? »Er ist schwer verwundet, vielleicht todt.« Jetzt erschrak ich von Neuem – ich zitterte, und mußte mich setzen, ohne sprechen, ohne Drusilla fragen zu können.[78] Sie ersparte mir's, und berichtete mir mit unerträglicher Weitläuftigkeit, daß er gestern Abends in der langen Straße beim Tempel der Ceres sich einer armen Frau angenommen, welche die Priester der Götter zwingen wollten, ihr zu opfern, daß der wüthende Haufe ihn umringt, übermannt, und mit vielen Wunden für todt auf dem Platze liegen gelassen. Seine Soldaten hatten ihn gesucht, und brachten ihn endlich in das Wittwenhaus der Christen. Dort ist er jetzt, ob todt, ob sterbend, wußte Drusilla nicht zu sagen. Der Sclave, der ihr die Botschaft brachte, wußte selbst nicht mehr, ein seltsames Gemisch von Empfindungen wogte nun in meiner Brust auf und ab, Mitleid, Sorge, Aerger über seine Schwärmerei, und Bewunderung seines Heldenmuths. Endlich siegte das Mitleid, und mit ihm wurde der Wunsch, ihn zu sehen, ihm den Antheil zu zeigen, den ich an ihm nahm, herrschend. Mein Vater hatte alsobald hingesandt, um sich nach ihm zu erkundigen. Die Antwort war beruhigend, er lebe – seine Wunden waren nicht tödtlich. Von Augenblick zu Augenblick wurde jenes Verlangen stärker in mir, und ein seltsamer aber interessanter Plan entwickelte sich in meinem Kopfe. Ich wollte Männerkleider anziehen, und so unerkannt ihn besuchen. Je mehr ich dem Gedanken nachhing, je reizender schien er mir, und so wurden denn niedliche Sclavenkleider bestellt, und Alles geheilt und verschwiegen bereitet; denn Niemand, auch mein Vater, sollte um diesen Schritt wissen, den ich mir, falls er ihn mißbilligte, weder von ihm verwehren lassen, noch geradezu wider seinen Willen thun wollte. Die Kleider kamen, ich zog sie an, sie saßen vortrefflich. Drusilla ordnete mein Haar, so gut es gehen wollte,[79] damit mein Kopf dem eines Knaben ähnlich wäre, und ich mußte gestehen, daß der Knabe, der mir da aus dem Spiegel entgegen sah, sein Lobliedchen wohl eben so gut verdiente, als Bathyll oder Antinous1. Nun, als die Dämmerung kam, warf ich einen großen Mantel meines Bruders über mich, zog die Kappe2 tief in's Gesicht, und machte mich mit dem treuen Phädo, der den Kopf gewaltig über die Mummerei schüttelte, auf den Weg. Das Herz pochte mir wohl ein wenig, ob vor Angst oder vor Erwartung, weiß ich nicht. Wir kamen glücklich vor die Stadt, und in das Haus. Hier ließ ich mich als einen Sclaven, der seinen Gebieter zu sprechen wünschte, bei Agathokles melden. Man führte mich in ein einfaches aber durchaus anständiges Zimmer – ich trat beklommen ein. – Sehr bleich, erschöpft, aber mit ruhiger Miene und heiterm Auge lag Agathokles auf dem Bette, sein rechter Arm war mit schneeweißen Binden umwickelt, sonst konnte ich kein Zeichen von Krankheit oder Verwundung an ihm entdecken. Mir ward seltsam zu Muth. Jetzt erst, da er nicht mehr zurückzunehmen war, sah ich lebendig die Sonderbarkeit meines Schrittes und der Rolle ein, die ich spielte. Doch es war zu spät. Agathokles hatte mich bereits erkannt, ich sah, daß er im Begriff war, mich zu nennen. Ich erschrak, denn nun erst ward ich eines schwarzen ganz verschleierten Frauenzimmers[80] gewahr, das an einem Nebentische mit Leinenzeug beschäftigt war. Ich faßte mich schnell, fiel ihm in die Rede, und nannte mich Callias – seinen Sclaven. Ich sah, daß er erstaunt und gerührt war; er faßte meine Hände mit seiner Linken, drückte sie heftig, und sah mich mit einem Blicke an, der mir tief in die Seele drang. Gerade in diesem Augenblicke stürzte das schwarze Frauenzimmer mit einem sonderbaren Laut, der wie Schluchzen klang, zur Thür hinaus. Agathokles wandte sich schnell nach ihr um. – »Was war das?« – sagte er; »mich dünkt, sie weinte?« So schien es mir auch, erwiederte ich. »Es ist eine seltsame Frau,« fuhr er nach einer Weile fort. »Seit gestern pflegt sie meiner mit der größten Geduld und Sorgfalt, aber ich habe ihr Gesicht noch nicht gesehen, und ihre Stimme nicht gehört; ich weiß nicht, kann – oder will sie nicht sprechen.« Ich fing ein anderes Gespräch an, ich fragte ihn um die Vorfälle des gestrigen Abends, aber er antwortete mir sehr zerstreut, indem er öfters nach der Thüre sah, und es gelang mir nur mit Mühe, ihn von dem Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit so sehr beschäftigte, abzubringen. Er fragte mich jetzt, welcher sonderbare Zufall mich in dieser Kleidung hierher führte? – »Kein Zufall, mein Freund!« antwortete ich, »sondern der Wunsch, dich zu sehen, mich selbst zu überzeugen, wie es dir geht, und ob es in meines Vaters, oder meiner Macht stehe, deine Lage zu erleichtern, etwas für dich zu thun.« Er schien bewegt, sein Auge glänzte, er faßte meine Hand, aber schnell senkte er den Blick wieder, drückte meine Hand an seine Brust, und sagte mit unterdrückter Stimme: »Ich verdiene diese Güte nicht – gewiß, schöne Calpurnia![81] ich verdiene sie nicht.« Ich war ein wenig verlegen über diese Antwort, in die sich so mancher Sinn hineindeuten ließ. Mir fiel die Geschichte mit jener Theophania und meiner Zeichnung ein. – Aber ich hatte nun einmal die Rotte der heldenmüthigen Freundschaft übernommen, ich mußte sie mit Ehren ausspielen. Ich sagte ihm also, was sich in einer solchen Lage sagen läßt, wo man weder sich, noch der Freundschaft etwas vergeben, weder seine Güte an einen Undankbaren verschwenden, noch den geschätzten Freund, den vielleicht nur Bescheidenheit so reden hieß, kränken will. Ich zog mich zum Verwundern gut aus der Sache, so, daß ich überzeugt bin, Agathokles weiß bis diese Stunde nicht recht, woran er mit mir ist, und die Unterredung nahm nach und nach einen ruhigen Gang. Er erzählte mir nun ganz kurz, und mit manchen Unterbrechungen – denn seine Schwäche erlaubte ihm nicht viel zu sprechen – die Geschichte des gestrigen Abends. Ich konnte seinem Edelmuth meine volle Achtung nicht versagen; aber der gefährliche Eindruck, den der interessante Zustand des Erzählers, und der Inhalt der Geschichte auf mein Herz hätte machen können, wurde mächtig durch die Schilderung gedämpft, die Agathokles von seinem Zustande machte, als er zu sich kam, sich bereits für todt, und die Umstehenden für Bewohner einer andern Welt hielt. Die sonderbare Beleuchtung, fügte er mit sichtlicher Rührung hinzu, der fremde Ort, die schwarzen Frauen in langen Schleiern, die blassen Gesichter trügen bei, die Täuschung zu vermehren. Ich glaubte unter den Frauen meine verstorbene Jugendfreundin zu sehen; mir war, als erkennte ich deutlich ihre Züge, als hörte ich den Ton ihrer Stimme. –[82] Es war ein Traum, setzte er tiefsinnig und mit einem schlechtverborgenen Seufzer hinzu – aber es was ein lieblicher Traum!

Ich sah, daß ihn das Reden erschöpfte, und kürzte meinen Besuch ab. Er dankte mir sehr innig für meine unaussprechliche Güte, wie er es nannte; ich versprach, ihn den folgenden Tag wieder zu sehen, wenn es mir möglich wäre. Er drückte mir die Hand, schon wollte ich mich entfernen, als sein Arzt, ein christlicher Priester, hereintrat. Mir waren die Züge dieses Mannes bekannt, ich sah ihn genauer an. Stelle dir mein Erstaunen vor – es war der Alte von Synthium, der Vater jener byzantinischen Wittwe, der geheimnißvollen Theophania. Mir ward ganz sonderbar zu Muth bei dieser Entdeckung. Ist er hier – so ist auch wohl seine Tochter nicht weit – vielleicht als Wittwe eines Christen hier im Hause – und, erfährt es Agathokles? – Ich war besonnen genug, nichts von meiner Verwunderung zu äußern, und froh, daß der Alte mich nicht erkannte, eilte ich eben nicht sehr, dem Kranken, meine Entdeckung mitzutheilen. Wer weiß, wie viel oder wenig Besuche ich noch in dem Wittwenhause machen werde! Indessen beschäftigt das Verhältniß eben, weil es verwickelt und seltsam ist, meinen Geist und meine Einbildungskraft sehr angenehm, und daß es mein Herz ja nicht mehr, als meine Ruhe erlaubt, besonders bei der Nähe dieser Theophania, beschäftigte, darüber soll meine Vernunft und meine richtige Schätzung des männlichen Geschlechts wachen. Leb' wohl! Ich sehe mit Neugier, mit Ungeduld, aber wahrlich ohne Sehnsucht der Stunde der[83] Dämmerung entgegen – ich will die Freude genießen, so lange sie vernünftiger Weise währen kann, und sie, wenn es die Vernunft befiehlt, ohne Verdruß oder Reue aufgeben. Leb' wohl!

Fußnoten

1 Bathyll war Anacreons, Antinous Kaiser Hadrians Liebling; beide sind ihrer Schönheit wegen berühmt, und die Bildsäulen des letzteren haben zu manchem gelehrten Streite Anlaß gegeben.


2 Die Römer trugen Mäntel wider die Kälte und den Regen, welche von dichtem Wollenzeuge, und mit einer Kappe versehen waren.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 34, Stuttgart 1828, S. 76-84.
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