94. Agathokles an Phocion.

[21] Laureacum, im August 304.


Seit wir uns zu Athen auf meiner Hieherreise sahen, ist mein Leben eine ununterbrochene Kette von eben so wichtigen als unangenehmen Geschäften gewesen. Die wenigen Briefe, die ich dir senden konnte, werden dir schon ziemlich eine Vorstellung von meinen Verhältnissen gegeben haben; so brauche ich dir nur zu sagen, daß sie noch immer fortwähren, und daß ich nicht absehe, wann[21] und wie sie aufhören werden. Ich habe in diesen Gegenden für Constantin und meine Glaubensgenossen viel zu sorgen, zu wirken und zu bereiten. Es kommt die Zeit, sie ist vielleicht näher, als wir denken, wo große Entschlüsse reifen, Alles umfassende Veränderungen eintreten, und die neue Form der Dinge ganz neue Maaßregeln erfordern wird. Diocletian liegt noch krank in Salona, wo Constantin seiner mit Achtung und kindlicher Sorge pflegt. Galerius verstärkt seine Macht täglich auf geheimen und offenen Wegen. Es ist Constantin in seiner Lage nicht möglich, das Gleiche zu thun, ohne Verdacht zu erregen, da er nur des Cäsars Sohn, nicht wirklich Cäsar ist. Was geschehen kann, und unabänderlich geschehen muß, wenn nicht alle Plane scheitern sollen, muß also theils in Geheim durch ihn, theils durch seinen Vater geschehen. Es ist schon Vieles gethan, aber noch weit mehr zu thun übrig, und ich hoffe mit Zuversicht viel Gutes und Großes für die Menschheit von dem, was jetzt bereitet wird.

Du zwar, mein geliebter Freund! wirst nicht ganz in unsere Plane einstimmen. Deine Ansichten sind verschieden. Ich werde es nicht unternehmen, sie zu bekämpfen, noch weniger sie unrichtig zu nennen, aber ich fühle mein Herz erleichtert, wenn ich dir die Beweggründe, die mich handeln machen, genau auseinanderlegen, und so mein Inneres dir, dem Lehrer und Leiter meiner Jugend, unverhüllt zeigen kann.

Du hast mir in deinem letzten Briefe zugegeben, daß Religion für die Menschen überhaupt nothwendig, und daß sie, weil der Mensch auch im rohesten Zustand Spuren von übersinnlichen Begriffen zeigt, gewissermaßen in[22] seiner Natur gegründet sey. Aber du ließest ihn, den unsichtbaren Urheber des Ganzen, den Schleuderer des Blitzes, den Spender der Ernten nur mit dem Verstande aufsuchen und finden, und bist überzeugt, daß jene Vermuthungen, auf welche die freiwirkende Vernunft des Menschen durch bloße Betrachtung der Natur führt, folglich die bloße Idee eines höchsten Wesens und einer Fortdauer nach dem Tode, hinreichend zur Sittlichkeit und Glückseligkeit des Menschen auf jeder Stufe der Cultur sey.

Ich will nichts davon sagen, daß bis jetzt weder die ältere noch neuere Geschichte uns ein Beispiel eines, wenn auch noch so kleinen, Volkes aufstellt, das sich mit dieser bloßen Vernunft-Religion begnügt hätte! Ich bitte dich blos umherzusehen, und unter den Menschen, welche sich gesittet, gebildet, gelehrt nennen, mit scharfer Prüfung diejenigen auszusondern, deren Seelen erhaben und reich genug wären, um zum Guten und Schönen keines andern Antriebes, als der heiligen Stimme in ihrer reinen Brust zu bedürfen. Wie klein wird diese Anzahl seyn! Und kann es wohl mehr als ein schöner Traum genannt werden, wenn wir hoffen wollten, die ganze Menschheit einst auf einer hohen Stufe der Cultur zu sehen? Würden nicht selbst in dieser mehr als platonischen Republik die Menschen noch immer dem Irrthum der Sinne, den Grübeleien, den Täuschungen der Vernunft unterworfen, dem Einfluß und der Gewalt der Elemente, der Naturwirkungen hülflos blos gestellt seyn? Was können spitzfindige Systeme gegen die Macht des Unglücks? Was vermag die so oft irrende Vernunft, die über die wichtigsten Punkte nichts als Vermuthungen[23] hat, gegen die furchtbare Gewalt des nagenden Zweifels, wenn er einmal angefangen hat, die Grundfesten unserer Ruhe zu untergraben? O Phocion! Denke deinem Schicksale nach – meine Hand würde zittern, wenn ich jene alten, vielleicht jetzt nicht ganz geheilten Wunden berühren sollte – denke deinem Schicksale nach, und wenn du wünschest, daß das Menschengeschlecht nur durch Vernunft zu fester Ruhe und Sittlichkeit gelange, so erinnere dich jener Stunden, in welchen die Hand des Geschicks schwer auf deinem Herzen lag, dies Herz durch keine Vernunftgründe sich vor stechenden Zweifeln schützen konnte, und alle Systeme der Philosophen, die dein vielgebildeter Geist sich gegenwärtig hielt, nicht hinreichen, dir Beruhigung zu verschaffen, weil eben dein hoher Geist ihre Lücken und Blößen schmerzlich in diesem Augenblick erkannte.

Nein, Phocion, es ist nicht möglich! Diesem vielgestaltigen, jeder Täuschung unterworfenen, jeder Form sich anschmiegenden Wesen kann die Vorsicht unsere Ruhe, unser Glück nicht allein anvertraut haben. Denke an die erst genannten Secten, deren jede nachfolgende die vorhergehenden aufzuheben, und Alles, was vergangne Alter mit Mühe ersannen und für wahr hielten, Lügen zu strafen scheint; denke an die Versammlungen des Senats, an jede noch so kleine Verbindung mehrerer Menschen, wo jeder mit gleich starken Gründen den Satz vertheidigt, der ihm wahr und ausgemacht ist, und jeder sich rühmt, die Vernunft auf seiner Seite zu haben! Sollte es wirklich diese vielgetäuschte und vieltäuschende Erkenntniß seyn, in der wir Alles suchen und finden müssen, was wir zu unserer Beruhigung so nothwendig bedürfen?[24]

O nein, Phocion, es muß etwas Anderes sein, Etwas, das in allen Menschen gleich ist, das in dem wilden Gothen, wie in dem weichlichen Bewohner Asiens, in einem Caligula, wie in einem Sokrates liegt, und nur durch Clima, Erziehung und Gewohnheit gestimmt, sich stärker oder schwächer äußert – das Gemüth, das, was wir mit einem metaphorischen Ausdrucke das Herz, den Sitz aller Empfindung, alles Willens, des innersten Lebens nennen! Hierin sind alle Sterblichen gleich. Alle fliehen sie den Schmerz, Alle suchen sie die Lust, sie mögen sie nun setzen, in was sie wollen; Alle streben glücklich, ruhig zu seyn, wie das Wasser aus jeder Störung durch jedes Hinderniß nach seiner horizontalen Lage strebt – Alle hassen, Alle lieben auf gleiche Art, nur verborgener oder offenbarer, stärker oder schwächer, je nachdem Sitte oder Wildheit, Unschuld oder Verstellung ihrem Gefühl Schranken auferlegt, und in das Herz, in das Gemüth des Menschen hat der Schöpfer die Religion gelegt. Mit dem Gemüthe sollen wir ihn suchen, und mit festem Glauben ergreifen, wenn er sich uns durch sinnliche und übersinnliche Wege offenbart. Die Vernunft soll nur dazu dienen, das, was jene geheimen Stimmen sagten, durch ihre kalten Erfahrungen zu bestätigen. So ist unser Glaube an Unsterblichkeit, an einen allweisen Schöpfer des Ganzen, an seine nie schlummernde Vatersorge, an eine künftige Vergeltung, an eine allgemeine Brüderschaft des ganzen Menschengeschlechts nicht blos Resultat grübelnder Untersuchungen und kalter Schlüsse; es ist ein lebendiger Glaube, eine feste Ueberzeugung, die keine neuerfundene Theorie wankend machen kann, denn sie ist aus[25] mehr als menschlichen Quellen geflossen, und in dem Ewigen und Heiligen unserer Brust niedergelegt.

Wenn jetzt der Frühling dem Christen in der rings erwachenden Natur das wiederkehrende Leben zeigt, wie Alles neu entsteht, und vom Winterschlafe sich fröhlich losringt, dann lockt ihn nicht gereizte Sinnlichkeit, nur überall den Trieb der Liebe zu suchen und zu erkennen, er feiert keine Nachtfeier der Venus1 mit üppigen Gesängen und Tänzen. Ihm ersteht die todte Natur in neues Leben, ihm keimt Unsterblichkeit aus dem Grabe, ihm erhebt sie sich in der Person seines göttlichen Meisters und Lehrers mit dem Strahl der Morgensonne siegreich aus der umschließenden Felsengruft. So belebt jeder kommende Frühling mit neuer Kraft die hohe Zuversicht in seiner Brust, und durch sinnliche Wahrnehmungen und vernünftige Schlüsse wird der Glaube in ihm fest und unerschütterlich.

Ich könnte dir in unsern übrigen Glaubenssätzen, in unsern Offenbarungen noch mehr Beispiele dieser Art liefern, wenn eine solche Auseinandersetzung nicht für einen Brief zu weitläufig würde. Kann es mir auch nicht gelingen, dich ganz zu überzeugen, so wünsche ich doch, dir meine Handlungsweise und die Gründe, die mich dazu bewegen, in einem solchen Lichte zu zeigen, daß du bekennen müßtest, mein Ziel sey würdig des Strebens, und daß deine Freundschaft, wenn ich vielleicht unter diesen Bestrebungen erliegen sollte, mir einst das Zeugniß gebe: sein Wille war gut. Leb' wohl.

Fußnoten

1 Die Nachtfeier der Venus des Catull wird nach Bürgers Uebersetzung wohl den Meisten bekannt seyn.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 21-26.
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