Siebentes Kapitel

[605] Eine Lämmerwolke am blauen Himmelszelte


Es glimmte das revolutionäre Feuer unter der Oberfläche der obotritischen Ebene. Immer giftiger und drohender wurde die Stimmung des Volkes von Bützow, und jegliche Gans, die an der zwingenden Hand Grävedünkels in den Pfandstall wanderte, erschien einer jeglichen freidenkenden Seele als eine Märtyrerin, und man sah ihr nach in den Gassen wie dem Herrn von Necker, als er infolge seiner ersten Verbannung Paris verließ und sich mit dem Taschentuch vor den Augen aus dem Wagenfenster lehnte und versprach wiederzukommen. Es wurden im Laufe der Monate November und Dezember noch verschiedene Male Versuche gemacht, den hochlöblichen und hochweisen Magistrat zur Zurücknahme seines Ediktes zu bewegen, und wenn sich, wie sich das ja von selbst verstand, der größeste Teil der versammelten Väter nunmehr für die Revokation erklärte, so schlugen die Versuche doch allesamt fehl; denn der Dirigens erklärte und stemmte mit Hand und Fuß sich dagegen. Mit eiserner Festigkeit saß mein hochverehrter Freund, der Doktor Hane, auf seinem kurulischen Sessel, blitzte Verachtung herab wie der olympische Jupiter und erklärte von neuem, daß, solange er das Steuerruder des Gemeinwesens in den Händen halte, eine solche Schwäche der obrigkeitlichen Gewalt dem aufgeregten Zeitgeist gegenüber nicht statuiert werden solle.

Ein Schauder des Entsetzens ging durch die Stadt, und der Flußgott erhob erschreckt seine infolge der Jahreszeit blaugefrorene Nase aus den Fluten der eisansetzenden Warnow, als man eines Morgens an der Tür des Bürgermeisters ein Blatt Papier mit folgenden Reimen angeschlagen fand:


Der Adel und die Clerisey

Schreyn über Pöbelraserey

Und Tollwuth aller Democraten,

Woher sie rührt, ist flugs errathen; –

Vom Bisse der Aristokraten!
[605]

Der Regierende wollte seinen Augen nicht trauen, Ehrn Jobst Klafautius, der Pastor Primarius, entging nur mit genauer Not einem Anfall vom Schlagfluß, der elektrische Funke hüpfte von einem adligen Hofe der ländlichen Nachbarschaft zum andern, wurde sogar in Schwerin verspüret, und das schlimmste war, daß man den Doktor Wübbke in keiner Weise der Urheberschaft bezichtigen konnte!

Der Doktor Wübbke war nicht der Mann, welcher sich so leicht fassen ließ. Er tat klar dar, daß kein Mecklenburger einen solchen Reim gemacht habe und machen könne, und was das Abschreiben aus einem Musenalmanach und das Anschlagen an die Türe des Herrn Bürgermeisters betreffe, so halte er es unter seiner Würde als immatrikulierter Notarius, auf dahinbezügliche, freche, unverschämte und lügenhafte Insinuationen zu antworten, werde aber jedenfalls jedermann verklagen und bis in die höchste Instanz verfolgen, so ihn solchergestalt anzuschuldigen sich erlauben wurde. Was gehe ihn, den Doktor Wübbke, der Pasquillant an? fragte tiefgekränkt der Würdige; – er, der Doktor Wübbke, sei ein ruhiger Bürger und gehe gelassen seines Weges; wenn er, Wübbke, sich in die Holzfrage gemischt habe, so sei das wahrhaftig nicht seiner selbst wegen geschehen, sondern nur der leidenden und unbeschützten, der lumpigen und frierenden Unschuld und Armut halben. Er, der Doktor Wübbke, gönne einer löblichen Bürgerschaft das Warmsitzen, denn auch er, Wübbke, gönne sich gern im Winter einen warmen Ofen. Was nun aber die Gänse anbetreffe, so seien ihm, dem Doktor Wübbke, dieselbigten ungeheuer, ja sehr ungeheuer gleichgültig; er halte keine, und eingeladen zu einem solchen Braten werde er auch nicht. Daß ihm durch solche heimtückische Anklagen ein damnum irreparabile, ein unwiederbringlicher Schaden an seinem guten Ruf geschehe, müsse er in Geduld tragen, denn es sei bessern Leuten als ihm, dem Doktor Wübbke, zu allen Zeiten in gleicher Weise ergangen; übrigens stehe nach seiner, Wübbkes, Meinung die lex contra nomenclatores und die lex Cornelia de falsis gleich hinter der lex Iulia majestatis und der lex Iulia de sacrilegio, und er, Wübbke, halte den, so ihn, den Doktor[606] Wübbke, in so ehrabschneiderischer Weise, sei es schriftlich oder mündlich, angreife und beschädige, für ebenso ruchlos und vogelfrei wie den, so sich an Obrigkeit und Kirche, ja an der allerhöchsten Person Serenissimi, des durchlauchtigen Herzogs und Herrn, selber vergreife.

Also sprach der Doktor Wübbke in den Gassen und auf den Märkten und trug sein Haupt immer höher erhoben, hatte aber die zerzauste Perücke, die Brausche am Cranium und die bedenkliche Erschütterung des Cerebelli auf den steinernen Platten der Hausflur im Erbherzog doch nicht vergessen; – er warf nur ganz geheim seine Gewürze in die Suppe, welche er meinem Freunde und Gönner, dem regierenden Herrn Bürgermeister, kochte; er rührte im Dunkeln mit dem jakobinischen Quirl im Hexenkessel. Mit den wilden, rohen Genossen, den furchtbaren Sansculotten von Bützow, saß er, ein unheilvoller Thersites, in dem Nebel und arbeitete an dem Verderben; aber – mit jedem Blick der ew'gen Sterne fällt, – wie wenn die Düsternis der Alpenhöhle – mit ungewissem Glanz der Mond erhellt, – ein Strahl der Hoffnung sanft in meine Seele, – daß es ihm nicht ganz gelingen werde, dieses löbliche obotritisch-welatabisch-harmlose Gemeinwesen seinen gottlosen katilinarischen Gelüsten und Begierden in blutgieriger Wollust aufzuopfern. Daß meine Matthissonsche Hoffnung mich nicht ganz täuschte, können der günstige Leser und die liebliche Leserin daraus ersichtigen, daß es mir gottlob vergönnet ist, die Geschichte der grausamen Verschwörung aufzuschreiben.

Ich kann es nicht leugnen, daß meine Seele sich über das dumpfe Brausen des Sturmes in der Ferne erfreuete. Über zwei Menschenalter hatte ich in Bützow gelebt, ohne das Maß des Gewöhnlichen in meinen Erlebnissen überschritten zu haben; jetzt pochte das Extraordinäre an die Tür meines Museums, und ich erhob mich und machte freudig meinen Diener.

Wir wissen alle, welch ein harter Winter der des Jahres siebenzehnhundertvierundneunzig wurde, wie das Thermometer auf siebenzehn Grad unter den Eispunkt fiel, was die Armeen in den Niederlanden und in Flandern auszustehen hatten, wie die Maas[607] und die Waal zufroren und wie Pichegrü zu unserm und des Herzogs von York großem Schrecken mit seinen Neufranken darüberweg spazierte und Grave, Breda, die Bommelinsel und das Fort Sankt Andreas mit Sturm nahm. Wir wissen, wie der Erbstatthalter mit dem Engländer schleunigst nach England ging und wie der gallische Hahn mit Triumph nach Amsterdam hineinkrähete: jetzt mag die Welt auch erfahren, wie wir diese Zeit der großen Kälte und der großen Haupt – und Staatsaktionen in unserm Winkel an der ebenfalls zugefrorenen Warnow verbrachten.

Der Doktor ging im Dunkel umher mit den Gevattern Scherpelz, Haase, Martens, Schmidt, Compeer, Narbe, Hoyer und andern finstern Geistern mit andern finstern Namen. Die Mamsell Hornborstel gab einen großen Tee, bei welchem der Magister und Kollaborator Albus zuerst Ästhetik nach Johann Georg Sulzers Theorie der schönen Künste vortrug, sodann einiges Rührende und Empfindsame aus dem »Damenkalender zum Nutzen und Vergnügen für siebenzehnhundertdreiundneunzig« vorsäuselte und zuletzt mit Enthusiasmus und Inspiration seine politische Fackel vor den schönen Augen seiner angebeteten Julia leuchten ließ. Am siebenundzwanzigsten Dezember aber, einem Sonnabend, wurde die Gans der Mamsell Hornborstel in den Pfandstall geführt.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 605-608.
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