|
[348] Auf einem der äußersten Vorberge des Gebirges, eine gute Stunde hinter jenem Hochwalde, lag eine elegante Villa von jener jedem Stil, aber auch jeder Bequemlichkeit sich fügenden Bauart, in welcher es die jetzige Zeit zu einer so großen Vollkommenheit[348] gebracht hat. Zierliche und wohleingerichtete Nebengebäude und Stallungen, ein schöner Blumengarten mit Springbrunnen und Terrakotta-Figuren – alles an dem rechten Platz – umgaben das Haus. Ein künstlerischer Sinn und eine sachverständige Hand hatten das Grundstück für den Zweck aus der Wildnis herausgegriffen, es mit Mauerwerk und Pflanzenwuchs bedeckt und mit einem hübschen eisernen Gitter umzogen. Eine Wiese stieg im Rücken der Villa aufwärts am Berge bis an den Wald. Aus den Fenstern und von den Balkonen der Vorderseite sah man hinunter über den Garten auf eine kleine Stadt mit mittelalterlichen Türmen und den Logierhäusern, den Restaurationen eines frisch und waldduftig in den Reisebüchern Deutschlands und des Auslands aufgetauchten Badeorts für Leute, die eben nicht ins Bad reisen wollten. Über das Städtchen weg lag auch hier die Norddeutsche Ebene vor den Augen, das heißt ein gut und wohlbebaut Stück von derselben mit Städten, Dörfern, Eisenbahnlinien bis in die weiteste Ferne hinaus.
»Ein gewisser Unterschied zwischen der Villa Bebenroth und der Villa Veitor läßt sich nicht in Abrede stellen«, sagte der Justizrat Scholten, als er im vorigen Sommer seine Freundin zum erstenmal in ihrem Sommeraufenthalt besuchte und denselben gründlich inspizierte. »Wahrlich, Jehova ist groß, und es wundert mich gar nicht, daß sich immer noch Leute finden, die Panier für euren alten Rachegott aufwerfen, da er dergleichen aus dem Handel mit alten Kleidern und neuen Papieren aufwachsen läßt.«
Die Frau Salome hatte herzlich gelacht und erwidert:
»Als mein seliger Mann vor sechs Jahren sich dieses idyllische Winkelchen einrichtete, war man sofort so freundlich, ihm eine Telegraphenlinie an den Fuß des Berges nachzulegen: die Gelegenheit, Ihre Überraschung nach Berlin, Wien, London, Petersburg und Paris kundzugeben, ist Ihnen also aufs bequemste geboten. Mein seliger Mann –«
»Bleiben Sie mir mit Ihrem seligen Mann vom Leibe!« hatte Scholten fast wütend gegrunzt, und die Baronin Salome Veitor hatte von neuem gelacht, aber dann doch nach einem Seufzer tief[349] aus der Brust Atem geholt und gemeint: »Lieber Freund, ich glaube zwar mit Ihnen, daß das Schicksal uns im Grunde nur deshalb zusammengeführt und zu so guten Bekannten ge macht hat, damit wir einander heiter die größtmöglichen Sottisen sagen, allein wir wollen uns die guten Stunden doch nicht stets von vornherein verderben. Lassen wir die Toten ruhig unter ihren Steinplatten im Tale Josaphat; die Lebenden machen uns wohl genug zu schaffen, vorzüglich, wenn man eine große Verwandtschaft hat wie ich und einen bei den Namen Wien, Berlin und Frankfurt am Main eine Gänsehaut am heißesten Sommertage überkommt. Ich bin eine geplagte Frau, Scholten, und es ist durchaus nicht notwendig, daß auch meine Freunde ihre Lazzis an meine Wände schreiben wie ein Teil meiner jüngern und ältern Nachbarschaft aus der Stadt da unten die seinigen an mein Gartentor.«
Das war im vorigen Jahre gewesen, und seitdem hatten sich der Justizrat und die Frau Salome noch um vieles besser kennengelernt; und auch die Bekanntschaft eines ziemlichen Teils des großen Kreises lieber Verwandten der Dame hatte der alte Scholten gemacht. Er wußte ganz sicher, daß die Baronin Veitor eine geplagte Frau war und daß ihr der »Ichor« in ihren Adern das Dasein keineswegs gemütlicher machte. Die so weit über ganz Europa verbreitete Blutsverwandtschaft gab nichts auf den Ichor, sie ärgerte sich sogar dann und wann an dem Ichor, sie ließ es die Kusine häufig merken, daß der Ichor keinen Kurs bei ihr habe. »Was tue ich mit dem Ichor?« fragte die Verwandtschaft; und die Frau Salome, die, wenn sie in Leidenschaft geriet, sofort immer in den jüdischen Akzent und Inversionsredestil fiel, sagte zu ihrem guten Freunde:
»Es ist immer dasselbe gewesen mit mir und es wird mit mir bleiben immer das nämliche. Ich habe in einer feinen Wiege gelegen –«
»Meine Wiege hätten Sie mal sehen sollen«, warf der Justiz rat ein.
»Und ich bin geboren mit einem großen Ekel vor vielen Dingen, und alles, was mir zuwider ist, ist listiger und mächtiger als[350] ich. Und auch ich bin aus Affrontenburg wie mein Stammesgenosse, der gute Heinrich Heine, und ich bin ein armes Mädchen und Weib gewesen, und ich habe mich ducken müssen vor jedem Affront, der mir angetan worden ist zu Affrontenburg.«
»Haben Sie das wirklich?« fragte Scholten, und dann kam ein Strahl von dem uralten scharfen Geierblick, wie er durch die Bücher von den Königen funkelt und in den Büchern der Makkabäer vor Antiochus dem Syrier.
»Ja, sie hätten es gern gehabt, wenn ich hätte auch gelächelt zu jeglichem Affront; aber ich habe dann und wann gelacht! Ich habe auch meine Zähne, und sie sind echt und sind echte jüdische Zähne. Ich habe gebissen, wenn ich gleich keine bissigen Gedichte und Lieder drucken lassen konnte wie der Pariser Poet, mein talentvoller Herr Vetter aus dem Morgenlande. Ich schillerte bunt und lieblich – purpurn, golden, grün und violett und zeigte ein rot Zünglein wie eine fremde Schlange in der Menagerie. Es war aber gefährlich, die Hand in den gläsernen Behälter zu senken! Das Gleichnis paßt nicht ganz. Der Mensch blieb draußen vor dem Zelt: wir waren ganz unter uns, und es waren auch recht noble Charaktere unter uns: der stolze Löwe, der brave, kluge Elefant, der biedere Bär, das würdige Kamel! Aber die Füchse, die Luchse, die Wölfe und dergleichen Nachbarschaft war schlimm, und vor allem anderen die Affen.«
»Es geht ordentlich ein Geruch von Ihrer Schilderung aus, meine Beste«, meinte der Justizrat mit innigster ungeheucheltster Teilnahme. »Na, auch ich war in Arkadien, bin sogar noch immer drin, und Sie brauchen nichts weiter zu sagen.«
»Gott sei Dank!« rief dann die Frau Salome. »Manchmal komme ich mir nicht vor wie eine gefangene Schlangenkönigin im Glaskasten, sondern wie ein arm keuchend Häslein, und dann ist es immer ein Trost, einem Kameraden zu begegnen, der gleichfalls hinkt und mit allen Hunden gehetzt wurde.«
»Nun, ich bin ein alter Rammler, und wie ich gebraten schmecken werde, weiß ich nicht. Horazische Oden wie mein Landsmann, der Professor Ramler aus dem Preußenlande, lasse ich auch nicht drucken; aber den Horaz lese ich und den François[351] Marie Arouet dazu. Ich komme schon durch und weiß fertig zu werden mit Berlin und Hannover.«
»Und ich mit Affrontenburg!« rief die Frau Salome mit einem sozusagen glücklichen Lächeln. »Darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee einschenken, Scholten?«
Die Sonne geht wohl glorreich, klar und würdevoll vernünftig auf; aber die Menschen, die auf die Berge klettern und dort in wüsten Hirtenhütten und unkomfortablen Hotels übernachten, um den Sonnenaufgang zu sehen, haben gewöhnlich ermüdete, überwachte Leiber, heiße Stirnen und fieberisch trockene Zungen und Hände und wenig Vergnügen von dem Pläsier. Der, welcher die Sonne wirklich aufgehen sieht, merkt eben nichts davon; es versteht sich ihm von selbst, daß die Sonne aufgeht und er an seine Arbeit. Diese Bemerkung geben wir zum besten, weil der zweite Sonnenaufgang nach der kühlen Mondscheinnacht, in der Eilike Querian von dem Dache ihres Vaters verschwand, einen außergewöhnlich heißen Morgen, eine seltsam schwüle Temperatur brachte. Und alles zu Berg gestiegene Touristenvolk im Harz behauptete, nie die Sonne so wundervoll und eigentümlich emporsteigen gesehen zu haben.
Es war etwas daran. Auch die Arbeiter auf dem Felde tauschten vom ersten Erscheinen der roten Kugel ihre Bemerkungen darüber aus und hielten von Zeit zu Zeit ein mit ihrer Beschäftigung, um sich um und nach oben zu schauen. Es war ein Dunst in der Luft, den der Mittag nicht zerstreute, und in der Ferne, über der Ebene im Norden, Nordwesten und Nordosten lag dieser Dunst zusammengeschichtet, doch nicht zu massigem Gewölk, sondern wie ein dunkler Schleier. Gegen elf Uhr morgens wurde die Hitze schier unerträglich; der dichteste Waldschatten gab keinen Schutz vor ihr; die Tiere in der Gefangenschaft wie in der Freiheit fingen an zu merken, daß nicht alles richtig sei in der Atmosphäre, und die Menschen fragten einander: »Nun, was soll denn das mal wieder werden?« Am verwundertsten aber sahen sich die Bergleute in der Oberwelt um, wenn sie aus ihrem unterirdischen Reich zu Tage auffuhren. Älteste, Knappen und Jungen schüttelten in gleicher Weise die Köpfe, sobald sie den Druck dieses[352] glühenden Firmaments auf ihnen verspürten, und sie huben einer wie der andere an, von allerhand gefährlichen Vorkommnissen da unten in ihrem Reich, von den bösen Wettern und den Bergwassern, vom Einsturz und dergleichen zu sprechen, und erinnerten sich gegenseitig an einzelne Fälle, wie das damals war, als das und das geschah und die und die zugrunde gingen da unten in der Tiefe. –
Trotz geschlossener Jalousien und niedergelassener Vorhänge war die Hitze auch in der Villa Veitor arg zu spüren. Die bunten Farben auf Wänden und Decken linderten sie nicht, die bunten Glasscheiben machten sie nur noch bemerkbarer, und das Rauschen des Springbrunnens im Garten gewann in der niedergedrückten Phantasie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Singen und Brodeln eines überkochenden Kessels auf dem Kohlenfeuer. Die Frau Salome hatte den Kampf bereits aufgegeben; sie lag hingestreckt wie die büßende Magdalena auf dem Bilde Correggios, jedoch mit keinem Totenkopfe vor sich, sondern umringt von einem Kreise zerknitterter deutscher und ausländischer Zeitungen. Gar sehr verwunderte sie sich, als sie, das Journal des Débats zu den übrigen werfend, jetzt unter ihrem Altane eine fremde Stimme im Verkehr mit ihrer Dienerschaft vernahm.
»Besuch? Mein Gott, was ist das für ein Menschenkind, das zu dieser Stunde und bei dieser Temperatur mich sprechen will? Wer es auch sei und was ihn zu mir treiben mag: wenn er nicht schwitzt und wenn er mir drei vernünftige Worte im logischen Zusammenhang mitbringt, so ist der Äquator sein Vater, die Wüste seine Mutter und der Schirokko sein rechter Bruder – o ihr Götter, es ist ja Scholten! – Scholten, sind Sie es denn wirklich? Eben habe ich da noch gelesen, daß man wieder einmal die Stadt München mitten in den sibirischen Steppen als Spiegelbild in der Luft gesehen habe: ich bitte Sie, Scholten, reden Sie auch, geben Sie mir die Gewißheit, daß Sie kein Produkt der Fata Morgana sind!«
»Jawohl – leider bin ich's, und heute mal ich zu Esel!« ächzte der Justizrat, in den nächsten Sessel fallend und die Mütze in[353] die fernste Ecke schleudernd. Halstuchlos, mit aufgerissener Weste, stierte er um sich, und wenn's auf Schwitzen ankam, so gehörte er nicht in die Verwandtschaft, welche die Baronin ihm soeben zurechtgemacht hatte. Er schwitzte gräßlich.
»Zu Maulesel – im Galopp zu Esel bin ich da; das heißt, was noch von mir übrig ist. Warten Sie nur – es ist eine Kunst, drei verständige Worte zusammenzubringen. Ah, den ganzen Kant und Aristoteles für ein Glas Selterswasser mit einer Nuance von Kognak! O Jesus, meine Beste, und Sie haben es sogar bei dieser Witterung fertiggebracht, sich mit der Orientalischen Frage zu beschäftigen?«
Das letztere war mit einem kläglichst matten Blick auf den Zeitungshaufen gesagt. Die Baronin fand zwischen den Aufträgen, welche sie in aller Hast dem Diener betreffs der Aufrichtung und Erfrischung des lieben und liebenswürdigen Besuchers gab, die Zeit, mit fröhlicher Miene zu erwidern:
»Sie kennen doch meine Stellung zu der Lehre von der Seelenwanderung, Scholten? Vor dritthalb tausend Jahren kam ich aus Saba zum König Salomo.«
»Jetzt lassen Sie mich gütigst mit alledem in Ruhe, Frau Salome! Auf der Wanderschaft befindet sich meine Seele augenblicklich auch, und ich wollte nur, sie hätte das Eisbärenfell schon gefunden, in das sie am liebsten aus ihrem jetzigen abgeschmackt unerträglichen Futteral sich verziehen möchte. Uh – oh, am Nordpol ist es schön!«
»Aber das Dach der Witwe Bebenroth ist an einem solchen abnormen Sommermorgen wie der heutige, gegen einen Eselritt von dritthalb Stunden gehalten, auch nicht zu verachten?!«
Da sprang der Justizrat Scholten, vor Ärgernis pfeifend, in die Höhe und schrie:
»Glauben Sie etwa, meine Gute, ich sei pour vos beaux yeux jetzt hier? Da könnten Sie sich ebensogut einbilden, Frau, mein Esel habe mich gesattelt und gezäumt, um auf mir zur Visite nach der Villa Veitor zu reiten! Alle Teufel, Sie Närrchen – meine Gute, Liebe, Beste, der Teufel reitet mich freilich und nicht mich allein, sondern das Dorf, den Querian, die Eilike, kurz uns[354] alle! Die Eilike ist seit gestern verschwunden und bis heute noch nicht wiedergefunden; Querian ist vollständig toll geworden, und ich – ich war drunten in der Stadt auf der Kreisdirektion, um als braver deutscher Staatsbürger daselbst bescheidentlich anzufragen, was unter den obwaltenden Umständen zu tun sei. Glauben Sie wirklich, ich habe ganz und gar vergeblich Jurisprudenz studiert? Glauben Sie, ich wisse ganz und gar nicht, woran der germanische Mensch in seinen Nöten sich zu halten habe- he?«
»Ich weiß nur, daß Ihr Studium und Ihr Germanentum Sie nicht hindern, einer der ausgezeichnetsten Grobsäcke zwischen der Weichsel und dem Wasgau zu sein; und ich glaube versichern zu können, daß die heutige etwas schwüle Witterung eine mildernde Wirkung auf Ihr Temperament und Ihre Ausdrucksweise nicht ausgeübt hat.«
»Und Ihr Eiskeller ist so vortrefflich, und Ihr Rheinwein dito – ah, noch ein Glas Soda! So? Ich grob, Liebste? Außer mir bin ich – weiter nichts! Verrückt bin ich – hundertmal toller als Querian, und das ist das Ganze, und dann kommen noch die Leute, die hier auf dem Diwan liegen und die kühlen Bergwasser in ihre Trägheit, um nicht zu sagen Faulheit, hineinsprudeln hören, und wollen von Grobheit reden! Verrückt, verschroben und toll bin ich: Querian und Schwanewede, aufeinander gepackt, reichen längst nicht mehr an den armen Scholten heran. Und nun falten Sie einmal Ihre glatte, kluge Stirn, Frau Salome; raten Sie, helfen Sie! Die Polizei allein tut's nicht, zumal wenn die Landreiter über Land geritten sind und heute abend erst nach Hause kommen werden.«
»Nehmen Sie noch ein wenig Eiswasser und versuchen Sie dann, mir ruhig zu erzählen, was vorgefallen ist. Vor allen Dingen aber, was ist mit dem Kinde, das ich vorgestern bei Ihnen kennenlernte?«
»Das Mädchen ist fort, und mein kuriöser Freund Querian behauptet, man habe es ihm gestohlen. Und ich soll es ihm gestohlen haben! Wutschnaubend hat er mir seine dahingehende Ansicht von der Sache in die Zähne gerückt.«[355]
»Und dieses ist nicht der Fall? Sie haben keine Schritte getan –«
»Ich habe nichts getan. Nach Pilsum an Peter Schwanewede habe ich geschrieben um Rat; und in der Nacht, während ich schrieb und Sie nach Hause ritten, muß das Ding davongegangen sein. Da ist ein Halunke im Dorfe, ein armer geistesschwacher Kretin, halb blind und ganz taubstumm, August sein Name, und mir sonst als Charakter ziemlich verdächtig, der hat zu Protokoll gegeben, daß er das Mädchen im Mondschein von ihres Vaters Dach kletternd und im Walde laufend gesehen habe. Seine Mutter hat ihn geprügelt, und jedesmal, wenn ihn seine Mutter geprügelt hat, so hat sich der Hydrocephalus, der Wasserkopf und der Kropfmensch, in den Schutz der Eilike begeben, das heißt unter einem überhängenden Stein im Busch hinter ihrem Hause seine Zuflucht genommen. Er sagt nun aus, die Eilike sei an ihm vorbeigeschlüpft, und ich glaube nicht, daß der Tölpel dieses Mal lügt. Fort ist sie, und dann ist am Morgen Querian zu mir gekommen – seit langer Zeit zum erstenmal am hellen Tage hat er sich aus seiner Höhle erhoben – und hat seine Fräulein Tochter von mir zurückverlangt. Da hat es Auftritte gegeben in der Idylle bei der Witwe Bebenroth und auf der Dorfgasse, die mir den Aufenthalt auf Patmos für alle Zeiten verleidet haben. Der ganze liebenswerte Ort ist zu einem Tollhause geworden, und alles Bergmannsvolk hat für den primus inter pares, für meinen Freund Querian, Partei genommen. Wahrhaftig, da leben wir mitten im erleuchteten neunzehnten Jahrhundert und erleben es, daß einem die Tierheit, der Unverstand die Tor mit den Köpfen einrennen und Recht verlangen für ihren weisen Meister! Sie nennen ihn wirklich und wahrhaftig ihren weisen Meister, und sie haben vor meiner justizrätlichen, whistklub- und landtagswahlfähigen Nase auf den Tisch geschlagen und es sich verbeten, daß ich mich in – ihre Angelegenheiten mische! Sie haben behauptet, ich habe das Kind fortgeschickt; und Querian, selbstverständlich Methode in seinen Wahnsinn bringend, hat mich sehr verständig gefragt, ob ich in der Tat nicht die Absicht habe, mich in seinen Haushalt einzumischen und ihn in dem Seinigen[356] zu stören. – Nun komme einer einem Narren wie er mit der Kreisdirektion und der Polizei! – Dem Vorsteher muß ich es lassen, er hat sich als ein vernünftiger Beamter gezeigt, und auf einen Teil der Bauern konnten wir gleichfalls zählen als verständige Männer. So haben wir den Wald abgesucht bis zum gestrigen Abend, die Eilike jedoch nicht gefunden. Und nun sitzt der Querian wieder und hat sich noch fester verbollwerkt in seiner Behausung, und die Bergleute haben die heillose Geschichte unter die Erde getragen und verarbeiten sie da weiter. Frau Salome, in dem Augenblick, wo Sie als klare israelitische Baronin und europäische Bankierswitwe und ich als hannoverscher Justizrat hier am hellen Tageslichte verhandeln, wird da unten in der Tiefe auch verhandelt, und wenn sie uns nicht eine Kompanie Musketiere schicken, ist kein Gedanke daran, daß wir den Querian in ein Asyl für Nervenkranke und die Eilike in unsere Hände und ein Erziehungsinstitut für junge Damen besserer Stände kriegen. Alles unterirdische Volk ist für Querian, die Waldarbeiter sind schwankend, und nur die Bauern, wie gesagt, sind zum Teil für uns, wollen aber natürlich erst wissen, was der Herr Kreisdirektor zu der verfluchten Geschichte sagt. Jawohl, die zuständige Behörde da unten in der Stadt wartet ab, daß ihre Landdragoner nach Hause kommen, und hier sitze ich. Mein Reittier steht in der Goldenen Forelle, und mein Brief an Peter von Pilsum befindet sich auf der Eisenbahn, auf der Reise nordwestwärts. Sollte man da nun nicht selber rappelig werden, zumal an einem solchen mörderlichen Tage, wo die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks sich einem im Hirnkasten zu schneiden scheinen und einem der Gleicher grade üb er die Nase herunterläuft?!«
»Die Unglücklichen!« seufzte die Frau Salome, und sie meinte den Vater und das Kind in dem aufgeregten Dorfe hinter den Bergen. »Was für einen Rat wollen Sie von mir in dieser traurigen Sache? Nehmen Sie mich mit sich; ich werde sogleich den Befehl geben, anzuspannen, und wir können auf der Stelle abfahren. Ich will mit dem unseligen Menschen reden; ich will ihn sehen; – oh, ich weiß, ich kenne ja noch gar nichts von ihm! Sie[357] haben mir von ihm gesprochen, aber von seinem Leben, seinen Anfängen und seinem Entwicklungsgange kaum etwas erzählt, Scholten.«
»Da ist eben wenig zu erzählen, gute Frau. Ich, Schwanewede und Querian sind sämtlich aus Quakenbrück, drei Wiedehopfe aus einem Neste – Schulgenossen, Jugendgenossen. Studienfreunde, wir alle drei zusammen –, aber drei geborstene Töpfe machen keinen ganzen und heilen. Jeder von uns ist seine eigenen Wege gegangen, und hier sind wir angekommen; jeder mit seinem Sprunge vom Henkel bis zum Boden, und nur ich von der alten Drahtbinderin Notwendigkeit für den ferneren notdürftigen Lebensküchengebrauch notdürftig konserviert. Ich nehme es nicht zu sehr übel, wenn Sie mich für den Vernünftigsten von den drei edeln Quakenbrückern halten wollen. Daß ich Jurist bin, wissen Sie; Schwanewede hat Theologie studiert und Querian eigentlich alles und die Bildhauerei noch obendrein. Da er der Begabteste von uns war, so fuhr die Welt natürlich am schlimmsten mit ihm. Um irgendeinen Halt zu haben, heiratete er und hat sein Weib bald genug in lauter Liebe und Zärtlichkeit zu Tode gequält. Ja, Frau, ich lasse meinen Esel in der Goldenen Forelle an der Krippe, und Sie lassen anspannen, und wir fahren zusammen. Sie sollen Querian sehen und mit ihm reden. Als er in die Welt fiel, purzelte er auf den Rücken wie ein Käfer. Er hat auch sechs Beine oder Krallen wie ein Käfer, und damit zappelt und greift er in der Luft umher und hat es immer noch nicht aufgegeben, den Halm zu finden, an dem er sich aufrichten könne. Bis dato ist er auf dem Rücken liegengeblieben und hat jenen Halm oder Strohhalm nicht gefaßt. Im fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert würde er vielleicht ein großer Mann geworden sein, ein Alchimist und Archimedikus am Hofe von Burgund, ein Professor zu Bologna, Prag oder Wittenberg oder ein fürtrefflicher Skulptor in der Bauhütte des Kölner Domes. Es ist schade um ihn; ich versichere es Sie, Frau Salome! Im Gefolge Eurer Königlichen Majestät von Saba würde er sich auch gar nicht übel ausgenommen haben – er hat eine leichte Hand und schneidet ausgezeichnet gut Krähenaugen aus; auf der Universität hat er sie[358] mir oft ausgeschnitten. Ach, wie es jetzt ist, wird ihm wohl kein Hofmarschallamt bei seinem Begräbnis eine Hofkutsche nachschicken! Ja, lassen Sie anspannen, Frau Salome, und fahren Sie mit mir zu meinem armen Freunde Querian!«
»Wie ist er in dieses Dorf gekommen?«
»Grade wie Sie auf diesen Vorsprung des Gebirges, Frau Salome. Sie bewohnen hier die Villa Veitor, weil Ihnen der Lärm, der Geruch und die Verwirrung dort in den Städten der Menschen zuviel werden. Er hatte wohl noch zwingendere Gründe. Mit einem goldenen Löffel schöpfte er nicht vom süßen Brei dieser besten Welt. Ei, und die Tollen sind schlau! Es geht eigentlich nichts über die List der Wahnsinnigen, und es ist ein großes Glück für uns, daß sie selten so heimtückisch sind wie die vernünftigen Leute. Querian ging nur schlau den Leuten durch, die ihm nicht gefielen; – habe ich Ihnen nicht gesagt, daß die größere Hälfte des Volkes hier auf ihn schwört?«
Die Baronin zog die Glocke und befahl, den Wagen hervorzuziehen und die Pferde anzuschirren. Der Justizrat Scholten lobte noch einmal den Wein, das Wasser und den Eiskeller seiner Gastfreundin, dann sprach er mit gedrücktem Tone:
»Ich warne Sie, Liebste. Es gibt keine gefährlicheren Verbindungen als mit Menschen, welche die Rolle, die sie nur spielen sollen, ernst nehmen. Mit dem mächtigen Kaiser Octavianus Augustus ließ sich vortrefflich auskommen und höchst angenehm verkehren; aber mit dem armen hintersinnigen Schlucker, meinem Freunde Ernestus Querianus, läßt sich verdammt schlecht Kirschen essen. Wer bürgt Ihnen dafür, beste Frau, daß nicht die Verflechtungen und Verpflichtungen, in welche Sie vielleicht durch diese Fahrt geraten, Ihnen die Sommerfrische hier an den Bergen ganz so verleiden, wie sie mir bereits zuwider gemacht worden ist?! Ist's die Witterung oder etwas anderes – ich traue dem Tage nicht.«
»Ich bin aus Affrontenburg und fürchte mich vor keinen Verwicklungen.«
»Schön«, sagte der alte Scholten. »Neulich traf ich da unten im Kurgarten eine recht patriarchalische Familie, deren greisendes[359] Oberhaupt eben einen von einem jüngeren Sprößling unter dem Nebentische zwischen den Füßen der Nachbarschaft gefundenen Silbergroschen mit hundert Prozent Agio bezahlte. Lange hat mir nichts so wohl gefallen. So richtet man in der richtigsten Weise für alle Vorkommnisse des Lebens ab! Die liebe Familie war auch aus Berlin, Frau Salome! Eine sehr christliche Familie, Euer Gnaden.«
»Seien Sie nicht allzu unvorsichtig, Scholten!« sagte die schöne Frau lächelnd. »Sie wissen, ich beiße, wenn man die Hand zu vermessen in mein gläsern Haus und Gefängnis steckt.«
»Beißen Sie!« rief Scholten. »Davor fürchte ich mich auch nicht; ich kenne den Saft, der in die zierlichen Wunden fließt. ›Sie alter Schmeichler, Sie!‹ werden Sie sagen; nicht wahr, Frau Salome? Übrigens wartet der Wagen, und wir können abfahren.«
Dem stellte sich noch ein Hindernis entgegen.
Ausgewählte Ausgaben von
Frau Salome
|
Buchempfehlung
Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro