|
[56] Der Herr Magister schlug noch einmal die Hände zusammen, nachdem sich die Tür hinter den zwei armen Tröpfen geschlossen hatte. Er schüttelte auch noch einmal das Haupt und ächzte schwer auf; doch dann zeigte er sich auch wieder als der Mann, der wußte, daß in dem Drange der Zeiten mehr als ein Einiges Not tue. Er zog den Stuhl an den Tisch, den Napf mit der kaltgewordenen, nur noch sehr schwach dampfenden Breisuppe heran, ergriff den Löffel, sprach:
»Alle gute Gabe kommt von oben herab!« und – nahm etwa sein Abendmahl bedächtig zu sich? O nein, er löffelte zu, hieb ab vom Brote und packte sein Salzfischlein, wenn nicht so gefräßig wie ein Küster, so doch mit richtigem Schulmeisterappetit! O, trotz der Not der Zeiten schenkte auch er dem Klosteramtmann von Amelungsborn nichts, und so war's nicht ganz ungerechtfertigt, daß er vorhin denn auch ein wenig zu seinen Gunsten redete. Der Streiter vom Odinsfelde, den sein Hunger jetzt entweder verwogener oder zutraulicher machte und der laut krächzend sein Teil forderte, bekam zu seinem Brot nur des Fisches Gräten. Aus seiner Verwundung schien er sich wenig zu machen, denn als sein Gastfreund Teller, Napf, Löffel und Messer zurückschob, verfügte er sich in den Ofenwinkel zurück, zog den Hals, den Kopf ein ins Gefieder und entschlummerte sanft. Er wußte schon ganz genau, als ein gescheuter Vogel, daß er nach der Schlacht bei einem braven Mann Quartier[57] gefunden habe, und in der mißlichen Welt verhältnismäßig sehr in Sicherheit sei.
Letzteres Gefühl freilich hatte Magister Buchius trotz seiner »noch einmal durch die Güte des allbarmherzigen Gottes stattgehabten Ersättigung« nicht.
Er konnte noch nicht zu Bette gehen. Der Gott der Träume, der ihm selten nahe kam, entwich ihm heute ferner und ferner. Der emeritierte alte Herr erfreute sich eines tiefen, traumlosen Schlafes und er schlief auch gern lange; doch in dieser Nacht dachte er fürs erste nicht an sein Bett. Er wollte freilich bloß noch ein wenig nachdenken; an – die Erfahrungen im Fleisch, die ihm die herbstliche Finsternis für die Zeit bis zum ersten Hahnenschrei aufgehoben hatte, dachte er natürlich ebenfalls mit keinem Gedanken.
»Armes Volk! arme Leute! arme Kinderköpfe!« murmelte er, und dann füllte er seine irdene Pfeife von dem wenigen Kraut, das er vor der letzten Einquartierung geborgen hatte, blies die erste dünne Rauchwolke mit einem Seufzer von sich und zog wie mechanisch erst die Lampe und dann des Iburgischen Schloßpredigers Theodori Kampf Wunderbaren Todes-Boten zu sich heran, und schlug ihn auf bei der dritten Frage im zweiten Kapitel: »Ob das Hundeheulen, Eulen- und Leichhünerschreyen von Gott oder vom Teufel?«
Mit kopfschüttelndem Lächeln schob er das Buch wieder zurück und zitierte:
»Quis dedit gallo intelligentiam? Wer gab dem Hahnen das Verständnis?«
»Krah!« murmelte der Schwarze im Ofenwinkel und schien seinerseits im unruhigen Traum die Schlacht vom Abend noch einmal durchzufechten. Der Magister aber fuhr ob des Tones erschreckt auf und um und rief:
»Merkest du schon, Kumpan, daß auch von dir die Rede sein mag? Oder – meldest du dich mir selber als ein Zeichen vom[58] Willen des Herrn, das ich mir unbewußt heute abend vom Blachfeld auf die Stube getragen habe? Wächset mir, wie hier auf Seite Vierzig dem wohlangesehenen Mann zu Osnabrück, den Herr Kampf selbst gekannt hat, ein Sarg in der Hand?«
»Krah!« sprach der Rabe, doch Magister Buchius winkte ihm ab und sprach lächelnd mit einer Gelassenheit, die freilich mehr aus dem Lucius Annäus Seneca als aus dem Iburgschen Hofprediger Theodor Kampfius stammte: »Nun, es wäre in solchen Zeiten schon etwas, in diesen Tagen nicht in die Erde oder gar den Bauch deiner Brüder zu kommen, wie die Hunderttausende draußen! Hm, hm, wie doch des Menschen Selbstsucht aus jeglichem auf seinem Wege sein eigen kleines Wohl und Übel herauszuklauben sich bemühet! wie er alles als eine Anzeige tecte oder aperte für sich selber nimmt, der arme bedrängte Narr. Ihr seid wohl wahrlich des alten, invaliden Schulmeisters wegen zu eurer Bataille auf dem Odfelde zusammen gekommen! Da ginge wohl auch dieser dritte Krieg um Schlesien jetzo schon in das sechste Jahr, bloß um dem Magister Buchius zu seiner Unterhaltung zu dienen oder ihn in Nöten und Ängsten wach zu halten? Welch eine Torheit, Freund! Genüget es dir nicht zu jeglicher Zeit bei Tage und bei Nacht, im Kriege und im Frieden, was der Psalmist im Achtzehnten, Vers zwölf singet: Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden.«
Er schlug das Buch zu und schob es von sich. Doch nachdem er seine Pfeife von neuem gefüllt hatte, zog er es doch wieder heran und blätterte drin hin und her. Es gab ihm in seinen gegenwärtigen Nöten und Sorgen jedenfalls eine Unterhaltung und führte durch die bängliche Nacht weiter und weiter aus der Gegenwart fort in Reiche, zu welchen ihm seine Selbstsüchtigkeit gewißlich nicht folgte, sondern bloß seine Gabe, die Welt als ein großes Wunder oder – wie er sich ausdrückte – als ein kurieuses, subtiles Mysterium anzuschauen – Deo optimo,[59] maximo regnante. Dabei schlug die Uhr im Turm der Klosterkirche die Stunden, und jedesmal wenn sie schlug, nickte der Magister mit dem Kopfe und zählte den Glockenklang nach. Er hielt das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im Frieden in Ordnung erhalten. Nun war ihm auch das ein Trost, daß es ihm jetzt auch im Kriegsgetümmel nicht aus dem regelmäßigen Gange gekommen war. Er hatte wohl recht, sich selber still darob zu loben; vorzüglich bei seiner jetzigen Lektüre in der Nacht vor dem Abmarsch des Herzogs Ferdinand von Braunschweig aus dem Hauptquartier zu Ohr. Der Donator des Buches würde sich wohl selber über die Stimmungen verwundert haben, die sein ironisch Geschenke dem alten Herrn, dem närrischen alten Knaben, dem abgerollten fünften Rad am Wagen der weiland hohen Schule zu Amelungsborn, in dieser Nacht gab. Je seltsamere, wunderlichere, geheimnisvollere Beispiele von den zweyerley Wegen, durch welche Menschen zu einer Wissenschaft der Stunde ihres Todes zu gelangen pflegen, der Magister las, desto ruhiger wurde es ihm zu Mute, desto mehr befestigte sich in ihm die Gewißheit, daß ihm in Person heute noch keine praedictio, kein praesagium zu Teil geworden sei. Durch Gleiches wurde auch hier Gleiches kuriert, und von Stunde zu Stunde vergaß der Magister mehr und mehr über seiner seltsamen Lektüre, über des Iburgischen Schloßpredigers schrift- und vernunftmäßigen Untersuchungen die eigene Not und die der Zeiten.
Um neun Uhr las er, und zwar laut, seiner Unruhe besser Meister zu bleiben:
»Johannes Jessenius, ein Böhme und sehr gelehrter Mann, ward bey seiner Wiederkunft aus Ungarn gefänglich eingezogen und Anno 1619 nach Wien gebracht, bald aber gegen einen Italiener vertauschet und in Sicherheit geführet. Als er nun aus dem Gefängnis entwich, hat er an der Wand diese Buchstaben geschrieben zurückgelassen: I.M.M.M.M. – Ihrer viele bemüheten[60] sich vergeblich, diese Schrift zu erraten, bis endlich Ferdinandus II. Kaysers Matthiae Nachfolger ins Gefängnis kam, und es also auslegte: Imperator Matthias Mense Martio Morietur (Kaiser Matthias wird im Monat März sterben). Er nahm aber ein Stück Kreide und schrieb darunter: Jesseni Mentiris, Mala Morte Morieris (Jessen, du lügst, du wirst eines schlimmen Todes sterben). – Als dieses Jessenio hinterbracht ward, sagte er: gleich wie ich nicht gelogen habe, also wird Ferdinandus auch dahin trachten, daß seine Worte nicht erlogen seyn. Es traf auch beydes ein: Matthias starb den 10. Martii 1619, und Jessenius ward nach der Böhmischen Niederlage Anno 1620 gegriffen und 1621 am Leben gestraffet.« ...
»Krah!« murrte der Rabe im Traum; aber –
»Schweige doch,« rief der Magister und las:
»Als Anno 1632 im Monat Dezember der Kayserliche General Holke durch den Rittersgrüner Paß ins Gebürge einfiel und an vielen Orten übel hausete, träumete dem Substituten in Elterlein, Johann Teuchern, als wenn er dreimahl geruffen würde, darüber er erwachet, aufstehet und zum Fenster hinaussiehet; als er aber niemand siehet noch höret, fället er in große Wehmuth, betet und befiehlt sich Gott; des folgenden Tages ergriffen ihn die Kayserlichen Trabanten um zehn Uhr und hieben ihn samt siebenundzwanzig Bürgern nieder. – Anno 1686 wurde Magister Benjamin Heyde, Oberpfarrer in Schneeberg, frühe, da er predigen sollen, in seinem Bette tod gefunden. Abends zuvor rufte dreimal eine Stimme, welche seiner ersten Frauen Stimme gleichete: Herr! Herr! Herr! worauf denn sein Tod erfolget.«
Bei der letzten Historie schüttelte der Magister Buchius zu Amelungsborn den Kopf, der Rabe im Winkel aber hielt sich still.
»Als der König in Schweden Gustaphus Adolphus vor Lützen tod geblieben, hat sich über dem Schlosse zu Stockholm in der Luft eine Jungfrau sehen lassen, welche in der einen Hand[61] eine brennende Fackel, in der andern ein Schnupftuch gehalten. Gleich darauf haben sich alle Thurm-Thüren, obgleich mit festen Riegeln und Schlössern verwahret, von selbsten geöffnet, und endlich haben alle Glocken in ganz Smalland zu leuten angefangen. – Als Barnimus, Herzog in Pommern, im 27. Jahre seines Alters in der Odersburg vor Stettin gestorben, so sind kurz nach seinem Tode alle verguldete Knöpfe auf den Gebäuden in einer Nacht ganz schwarz geworden. – So hat sich auch zu Osnabrück begeben, daß da ein Studiosus Medicinae auf der Reise in Italien Todes verblichen, sich ein Hund zu selber Zeit Abends mit einem entsetzlichen Geheul zu dreyen malen für des Verstorbenen Eltern Hause, seinen Kopf unter der Thür ins Haus haltend, hören lassen –«
»Ei, was hat denn der Hund?« fragte der Magister Buchius, Ehrn Theodori Kampfii wunderbaren Todesboten zum zweitenmal von sich schiebend; und er hatte Recht zu der Frage; es entstund auf einmal ein greulicher Lärm von Hunden innerhalb der Mönche Ringmauern um Kloster Amelungsborn.
Einer schlug an. Der gab den Alarm weiter, und zehn Minuten lang war's ein Gebell, Gekläff und Gewinsel, daß es mit allem Nachdenken fürs erste aus und zu Ende war. Aber auch noch andere Leute wurden durch das Vieh aufgestört. Der Magister glaubte des Amtmanns Stimme zu vernehmen; – da wurden wahrscheinlich Knüppel und dergleichen unter das Volk geworfen.
»Dieses passete freilich ganz und gar zu des Herrn Schloßpredigers letzter Historie,« murmelte kopfschüttelnd der Magister, in seiner Zelle auf- und abschreitend, und der Rabe vom Odfelde, aus seinem Ofenwinkel kommend, hüpfte jetzt schon ganz vertraulich hinter ihm drein. In diesem Augenblicke gab die Kirchuhr wiederum die volle Stunde an, und der Magister zählte die Schläge nach:
»Neun – zehn – elf! Ei, ei, schon so spät? Wie doch das[62] Studium dem Menschen über die Zeit hinweghilft – von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Was sind wir armen Kreaturen mit unsern Sorgen und Ängsten? was bekümmern wir uns zu erraten, was die nächste Stunde bringet. Es kommet doch immer etwas anderes, als was wir in unserer Lebensangst heraussannen. Einer ist Meister. Hörst du, Schwarzer, ob ich dich nun hereingeholt habe auf die Stube als einen finstern, bösen Unglücks- und Todesengel oder als einen guten Kameraden und Freund für des Winters Einsamkeit, sintemalen dich des höchsten Gottes Fürsehung mir vor die Füße flattern ließ, sollst du mir in Ruhe und Gelassenheit willkommen sein. Χαιρε.«
»Krah!« sagte der Rabe, den Kopf auf die Seite legend und seinen kuriosen Beschützer seinerseits mit schlauer, verständnisvoller Zutraulichkeit, mit vollem Vertrauen darauf, daß alles, was geschehe, mit rechten Dingen zugehe, ins Auge fassend.
Magister Buchius aber hatte den Theodorus Kampf beim zweiten von sich Abschieben aufgeschlagen gelassen; nun nahm er mechanisch das Buch noch einmal her. Er wollte es eben nur zuklappen; aber da fiel sein Auge doch noch auf ein Exemplum drin, und er war nicht der Mann, der ein Gedrucktes gleichgültig ins Fach stellte, wenn es sein Auge in Wahrheit getroffen hatte.
Er las:
»Johann Wilhelm, Herzog zu Sachsen, hat kurz vor seinem Ende im Schlaf eine liebliche Musik gehöret und eine Menge Engel, und unter denselben einen großen gesehen, auf dessen Rücken geschrieben gestanden: Bringet mir diesen zur Ruhe. Welches göttliche Gesichte er dann frühe Morgens seinen Räthen erzählet, auf sich gedeutet, und keiner weltlichen Sachen sich mehr angenommen.«
Fast in Behagen sich schüttelnd sprach Magister Noah Buchius: »Und keiner weltlichen Sachen sich mehr angenommen. Wie[63] oft hab' ich dieses im Verlauf sauerer Schuljahre des Abends beim Zubettegehen mir vorgesagt und einen guten Schlaf getan?«
Von allen zu Kloster Amelungsborn war der Magister der, welcher dem Siebenjährigen Kriege am meisten gewachsen war.
Aber vielleicht auch grade darum gelangte er in dieser Nacht fürs erste noch nicht ins Bett. Es hatte ihn wohl noch jemand zu nötig; er aber, der Magister Noah Buchius, hatte jedenfalls nicht die geringste Ahnung davon, wie weit der Schein seiner Blechlampe aus seiner Wohn- und Schlafzelle hinausleuchtete in die sturmvolle Finsternis des Jahres Siebenzehnhunderteinundsechzig.
Ausgewählte Ausgaben von
Das Odfeld
|
Buchempfehlung
Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.
52 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro