[287] Ich hab' Euch verwöhnt, Maria, mit meinem vielen Schreiben. Wenn ich einmal vierzehn Tage schweige, seid Ihr schon unzufrieden. Denkt nur nicht, daß es immer so fortgehen wird. Ich bin gewiß Dir und Euch allen so zugetan wie immer und war es auch in Zeiten, wo man überhaupt nichts voneinander hörte, aber daß ich jetzt so endlose Briefe schreibe, geschieht wohl mehr mir selbst zuliebe und weil ich so viel überflüssige Zeit habe. Habe ich aber zur Abwechslung einmal keine Lust, so laßt mich in Ruhe.
Ja, also, kurz nach meinem letzten Schreiben kam ein Telegramm vom Miterben: »Beisetzung erfolgt. Testamentseröffnung verschoben, da selbes noch nicht aufgefunden. Anwalt meint vierhunderttausend pro Kopf.«[287]
Dieser unleidliche Privatdozent tut nun wirklich, als hätte ich das große Los gezogen. Ich finde ja auch, es sind recht angenehme Aussichten, aber durch die Schwierigkeiten der letzten Jahre sind meine Ansprüche ins Ungeheuerliche gewachsen, und es gibt keine Summen mehr, die ich als überwältigend empfinden würde. Das Revanchebedürfnis ist eben zu groß geworden.
Lukas handelt mit mir wie Abraham mit dem lieben Gott um die Gerechten von Sodom, wieviel ich festlegen soll und wieviel ich verjubeln darf. Ich höre andächtig zu und träume dabei von einer Reise nach Siam – ich weiß nicht, warum mich gerade das so besonders lockt – von Kleidern, Pferden, Landhäusern – kurz, ich übersetze mir die Zahlen in erfreuliche Wirklichkeiten. Vor einem halben Jahr hätte der Gedanke an ein gesichertes Dasein noch etwas Verlockendes für mich und Lukas vielleicht mehr Glück mit seinen Mahnungen gehabt... sich rangieren, auskommen, Ruhe haben... Aber das Geschick hat den Bogen zu sehr überspannt. Existenz, wirtschaftliche Basis und dergleichen sind mir zu fratzenhaften Begriffen geworden, unter denen ich mir nichts mehr vorstellen kann. Sie haben mich so greulich verhöhnt, daß ich nur noch in derselben Tonart antworten kann. Meinst Du, ich wäre je wieder imstande, ohne die qualvollsten Zwangsvorstellungen eine Wohnung zu mieten, mit einem Hausherrn zu verhandeln, Möbel zu kaufen, Dienstboten zu engagieren, Milchfrauen, Petroleum- und Kohlenmänner ins Haus kommen zu sehen? Ich fürchte, ich werde überhaupt nie wieder wohnen können, nur mehr logieren, ganz oberflächlich, vorsichtig und ohne Zusammenhang. In der[288] Beziehung ist etwas in mir gebrochen, was nie wieder ganz werden kann...
Recht ungeschickt kam gerade in diesen Tagen Doktor Baumann, der Freudianer, hier an. Ich hoffte, er sei selbst etwas erholungsbedürftig und würde sich erst ausruhen wollen. Aber nein, er brennt vor Tatendurst und wollte mich sofort seiner Analyse unterziehen. Ich meinte darauf, wir sollten jetzt doch lieber die Entwicklung der Dinge abwarten, dann wäre es vielleicht gar nicht mehr nötig, aber er läßt sich nicht überzeugen. Im übrigen ist er sehr nett, und man freut sich hier über jeden Zuwachs der Gesellschaft, so muß ich denn wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und mich von ihm behandeln lassen. Nachdem er mich hier untergebracht und akkreditiert hat, ich mich außerdem andauernd schlecht benehme und dem Professor ein Dorn im Auge bin, kann ich jetzt unmöglich sagen: Lassen Sie mich in Ruhe, ich halte Ihre Behandlung für einen Schmarrn und bin mehr als je überzeugt, daß mein Leiden nur durch positives Geld zu heilen ist. Im Gegenteil, ich bin einfach verpflichtet, auch diesen Kelch zu leeren, wie ich vorher die Wickel und Duschen über mich ergehen ließ. Wirtschaftliche Kräche haben manchmal unübersehbare Folgen... weiß der Himmel, was alles für Kuren an Leib und Seele ich noch durchmachen muß, bis die Erbschaft fällig ist.
Ich fand es anfangs ganz hübsch und stilvoll, einen Komplex zu haben, man konnte vor sich selbst und anderen sich immer darauf berufen, anstatt einfach zu sagen: ich bin verzweifelt, außer mir, schlechter Laune usw. Aber ich finde es hart, sich nun deshalb so anstrengen zu müssen, und es ist wirklich ein Stück Arbeit, bis[289] man all diese verwickelten Sachen begriffen hat. Verlange nur nicht, daß ich dir einen populär verständlichen Vortrag darüber halte. Mein Wunsch geht mehr dahin, Euer Mitgefühl zu erwecken, als Euer Wissen zu bereichern. Wie schon die Bezeichnung Psychoanalyse sagt: man analysiert die Psyche, wie wir einst in der Schule deutsche Grammatik analysierten, ohne jemals zu begreifen, wozu das gut sei. In diesem Fall analysiert natürlich der Arzt, und man hat nur darauf einzugehen. Er fragt, fragt und fragt, und ich soll nur antworten, aber eben das ist gar nicht so leicht.
Die Komplexe kommen angeblich dadurch zustande, daß man die betreffenden Dinge, Gedanken, Wünsche und ähnliches von sich weggeschoben, mit dem technischen Ausdruck verdrängt hat, natürlich immer ins Unterbewußtsein. Das lassen sie sich unter Umständen nicht gefallen, sondern brechen aus und toben dann im Oberbewußtsein herum.
Nun ist er beständig unzufrieden, weil ich nicht das antworte, was er möchte. Er begann seine Erörterung damit, fast jeder Komplex beruhe auf verdrängter Erotik – mir schien, als erachte er ihn nur dann für vollwertig und wolle auch in meinem Falle versuchen, ihn auf diesen Ursprung zurückzuführen. Etwa so: wenn jemand sein ganzes oder halbes Leben lang vor allem nach Geld trachtet, muß er viele andere, lebendigere Regungen, wie vor allem die erotischen, unbedingt verdrängen...
Daß ich in der Verdrängung der ›Erotik‹ Erhebliches geleistet habe, konnte ich nun wirklich beim besten Willen nicht behaupten... im Gegenteil, es wäre mir und meinen Finanzen sicher besser gewesen, ich hätte[290] es mehr getan. Die Sache stimmte also nicht, und wir konnten uns nicht recht einigen. Ich mußte ihm dann einiges über meinen Lebensgang sagen, was ihn wiederum enttäuschte, denn er konnte mir durchaus nichts Anomales, Psychotisches, Neurotisches und wie das alles heißen mag, nachweisen. Wieder mein altes Pech, daß ich zu unkompliziert bin, es wird einem in so manchen Kreisen und Lebenslagen übelgenommen, besonders wenn man erst Hoffnungen auf das Gegenteil erweckte.
Was für eine Rolle das Geld in meiner Kindheit und ersten Jugend gespielt hätte?... Auf diese Zeit sollen die meisten ›Komplexbildungen‹ zurückgehen. Gar keine, absolut gar keine... Du weißt, es gibt interessante Kinder, die stehlen oder schwindeln, ohne es nötig zu haben, zum Beispiel Scheine entwenden und in Gold umwechseln, um damit zu spielen, aber ich fand nichts Derartiges in meinen Erinnerungen. Wir hielten es als Kinder für überflüssig und armeleutehaft, sich um Geldfragen zu bekümmern, und sahen verächtlich auf andere herab, die gegenseitig das Vermögen ihrer Eltern taxierten und darüber Bescheid wußten. Und späterhin war es eigentlich dasselbe: Geldnot?... Das kann doch nicht Ernst sein... und selbst welches herbeischaffen müssen? Ein schlechter Scherz, zu dem man gute Miene macht, solange es nicht überhand nimmt...
»Und mit starken Unlustgefühlen verknüpft?« schaltete der Doktor ein.
»Allerdings!«
Gut, er kam allmählich auf die Spur. Es war eben umgekehrt, als wie er anfänglich gemeint hatte. Das Geld selbst war verdrängt worden, nicht die anderen Dinge,[291] und ich war also doch etwas anomal. Gott sei Dank, ich hab' so gern, wenn die anderen mit mir zufrieden sind.
Man stellte also einen Geldkomplex in absoluter Reinkultur fest, mit Erotik hatte er gar nichts zu tun. Dann ging es ungefähr so weiter, daß in den meisten Fällen durch nervöse, in meinem durch akute finanzielle Erkrankung die einst verdrängten Dinge plötzlich bewußt und nun ›überbetont‹ werden... (siehe wirtschaftliche Krisis). Mir wurde ganz elend dabei, all diese Erinnerungen wieder aufzuwühlen, aber es half nichts – die Vorgänge, die den Komplex bewirkt haben, müssen reproduziert, das heißt, noch einmal bewußt erlebt werden, damit der Arzt sie einem dann ausreden kann.
Dann fing ich meinerseits an zu fragen. »Wenn nun die Erbsache doch noch schiefginge – man kann ja nie wissen –, wie soll ich mich dann mit dem Professor auseinandersetzen? Glauben Sie, daß er sich als Gläubiger...«
»Aha, da haben wir die für den Komplex charakteristischen Angstvorstellungen«, sagte Baumann befriedigt.
»Ja, und die habe ich auch in bezug auf Sie...«
»Auf mich?«
»Natürlich... Sie haben doch hier gewissermaßen die Verantwortung für mich übernommen, und offen gesagt, mich plagt der Gedanke, daß Sie damit hereinfallen könnten, wenn...«
Er hat sich dann ausführlich nach der Erbschaft und ihren näheren Umständen erkundigt, und man vertiefte sich so in dieses Thema, daß es zu spät wurde, um mit der Behandlung fortzufahren.
Aber unerbittlich nimmt er mich jeden Tag eine Weile vor... Es ist ein Kreuz, und ich muß doch tun, als[292] nützte es etwas. Die Heilung soll nämlich dadurch geschehen, daß man dem Patienten eine andere Einstellung gibt. Bei mir gibt es nur zwei Möglichkeiten, und man braucht eigentlich keinen Psychiater, um das einzusehen. Nämlich entweder müßte man die durch Faulheit, Bequemlichkeit usw. verdrängte Energie wieder mobil machen und auf irgendeine zweckmäßige Weise zu Geld kommen, oder aber sich darauf einstellen, es unwichtig zu finden und entbehren zu können... Das ist natürlich nur ein unvollkommen wiedergegebener Extrakt, im Munde des Arztes klingt es ganz schön, ausführlich, umständlich und einleuchtend. Aber was soll man damit anfangen, das alles kann ich mir ebensogut selbst vorerzählen und ändere doch nichts damit.
Lieber schwätze ich über andere Sachen mit ihm und hetze ihn und Henry möglichst aufeinander. Henry kann es viel besser als ich, er nimmt es mit ähnlichem Ernst wie seine Spekulationen. Ich habe das Gefühl, daß er nach allen Seiten hin erwägt, wie man ein zerrüttetes Nervensystem sanieren, etwas Neues darauf gründen oder einen unhaltbaren inneren Zustand liquidieren könnte.
Genug und übergenug davon. Ich fürchte, sonst entdeckt Ihr gar noch Eure eigenen Komplexe und wollt immer mehr darüber wissen. Und ich bin doch schließlich nicht im Sanatorium, um über die Qualen, die ich hier ausstehen muß, auch noch Abhandlungen zu schreiben.[293]
Ausgewählte Ausgaben von
Der Geldkomplex
|
Buchempfehlung
Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.
146 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro