Hetären-Gräber

[540] In ihren langen Haaren liegen sie

mit braunen, tief in sich gegangenen Gesichtern.

Die Augen zu wie vor zu vieler Ferne.

Skelette, Munde, Blumen. In den Munden

die glatten Zähne wie ein Reise-Schachspiel

aus Elfenbein in Reihen aufgestellt.

Und Blumen, gelbe Perlen, schlanke Knochen,

Hände und Hemden, welkende Gewebe

über dem eingestürzten Herzen. Aber

dort unter jenen Ringen, Talismanen

und augenblauen Steinen (Lieblings-Angedenken)

steht noch die stille Krypta des Geschlechtes,

bis an die Wölbung voll mit Blumenblättern.

Und wieder gelbe Perlen, weitverrollte, –

Schalen gebrannten Tones, deren Bug

ihr eignes Bild geziert hat, grüne Scherben

von Salben-Vasen, die wie Blumen duften,[540]

und Formen kleiner Götter: Hausaltäre,

Hetärenhimmel mit entzückten Göttern.

Gesprengte Gürtel, flache Skarabäen,

kleine Figuren riesigen Geschlechtes,

ein Mund der lacht und Tanzende und Läufer,

goldene Fibeln, kleinen Bogen ähnlich

zur Jagd auf Tier- und Vogelamulette,

und lange Nadeln, zieres Hausgeräte

und eine runde Scherbe roten Grundes,

darauf, wie eines Eingangs schwarze Aufschrift,

die straffen Beine eines Viergespannes.

Und wieder Blumen, Perlen, die verrollt sind,

die hellen Lenden einer kleinen Leier,

und zwischen Schleiern, die gleich Nebeln fallen,

wie ausgekrochen aus des Schuhes Puppe:

des Fußgelenkes leichter Schmetterling.


So liegen sie mit Dingen angefüllt,

kostbaren Dingen, Steinen, Spielzeug, Hausrat,

zerschlagnem Tand (was alles in sie abfiel),

und dunkeln wie der Grund von einem Fluß.


Flußbetten waren sie,

darüber hin in kurzen schnellen Wellen

(die weiter wollten zu dem nächsten Leben)

die Leiber vieler Jünglinge sich stürzten

und in denen der Männer Ströme rauschten.

Und manchmal brachen Knaben aus den Bergen

der Kindheit, kamen zagen Falles nieder

und spielten mit den Dingen auf dem Grunde,[541]

bis das Gefälle ihr Gefühl ergriff:


Dann füllten sie mit flachem klaren Wasser

die ganze Breite dieses breiten Weges

und trieben Wirbel an den tiefen Stellen;

und spiegelten zum ersten Mal die Ufer

und ferne Vogelrufe –, während hoch

die Sternennächte eines süßen Landes

in Himmel wuchsen, die sich nirgends schlossen.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 540-542.
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Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Insel Taschenbücher, Nr.49, Neue Gedichte

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