Orpheus. Eurydike. Hermes

[542] Das war der Seelen wunderliches Bergwerk.

Wie stille Silbererze gingen sie

als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln

entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen,

und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel.

Sonst war nichts Rotes.


Felsen waren da

und wesenlose Wälder. Brücken über Leeres

und jener große graue blinde Teich,

der über seinem fernen Grunde hing

wie Regenhimmel über einer Landschaft.

Und zwischen Wiesen, sanft und voller Langmut,

erschien des einen Weges blasser Streifen,

wie eine lange Bleiche hingelegt.


Und dieses einen Weges kamen sie.
[542]

Voran der schlanke Mann im blauen Mantel,

der stumm und ungeduldig vor sich aussah.

Ohne zu kauen fraß sein Schritt den Weg

in großen Bissen; seine Hände hingen

schwer und verschlossen aus dem Fall der Falten

und wußten nicht mehr von der leichten Leier,

die in die Linke eingewachsen war

wie Rosenranken in den Ast des Ölbaums.

Und seine Sinne waren wie entzweit:

indes der Blick ihm wie ein Hund vorauslief,

umkehrte, kam und immer wieder weit

und wartend an der nächsten Wendung stand, –

blieb sein Gehör wie ein Geruch zurück.

Manchmal erschien es ihm als reichte es

bis an das Gehen jener beiden andern,

die folgen sollten diesen ganzen Aufstieg.

Dann wieder wars nur seines Steigens Nachklang

und seines Mantels Wind was hinter ihm war.

Er aber sagte sich, sie kämen doch;

sagte es laut und hörte sich verhallen.

Sie kämen doch, nur wärens zwei

die furchtbar leise gingen. Dürfte er

sich einmal wenden (wäre das Zurückschaun

nicht die Zersetzung dieses ganzen Werkes,

das erst vollbracht wird), müßte er sie sehen,

die beiden Leisen, die ihm schweigend nachgehn:


Den Gott des Ganges und der weiten Botschaft,

die Reisehaube über hellen Augen,

den schlanken Stab hertragend vor dem Leibe[543]

und flügelschlagend an den Fußgelenken;

und seiner linken Hand gegeben: sie.


Die So-geliebte, daß aus einer Leier

mehr Klage kam als je aus Klagefrauen;

daß eine Welt aus Klage ward, in der

alles noch einmal da war: Wald und Tal

und Weg und Ortschaft, Feld und Fluß und Tier;

und daß um diese Klage-Welt, ganz so

wie um die andre Erde, eine Sonne

und ein gestirnter stiller Himmel ging,

ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen – :

Diese So-geliebte.


Sie aber ging an jenes Gottes Hand,

den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,

unsicher, sanft und ohne Ungeduld.

Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung,

und dachte nicht des Mannes, der voranging,

und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg.

Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein

erfüllte sie wie Fülle.

Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel,

so war sie voll von ihrem großen Tode,

der also neu war, daß sie nichts begriff.


Sie war in einem neuen Mädchentum

und unberührbar; ihr Geschlecht war zu

wie eine junge Blume gegen Abend,

und ihre Hände waren der Vermählung[544]

so sehr entwöhnt, daß selbst des leichten Gottes

unendlich leise, leitende Berührung

sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit.


Sie war schon nicht mehr diese blonde Frau,

die in des Dichters Liedern manchmal anklang,

nicht mehr des breiten Bettes Duft und Eiland

und jenes Mannes Eigentum nicht mehr.


Sie war schon aufgelöst wie langes Haar

und hingegeben wie gefallner Regen

und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat.


Sie war schon Wurzel.


Und als plötzlich jäh

der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf

die Worte sprach: Er hat sich umgewendet –,

begriff sie nichts und sagte leise: Wer?


Fern aber, dunkel vor dem klaren Ausgang,

stand irgend jemand, dessen Angesicht

nicht zu erkennen war. Er stand und sah,

wie auf dem Streifen eines Wiesenpfades

mit trauervollem Blick der Gott der Botschaft

sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen,

die schon zurückging dieses selben Weges,

den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,

unsicher, sanft und ohne Ungeduld.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 542-545.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Neue Gedichte
Neue Gedichte
Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Insel Taschenbücher, Nr.49, Neue Gedichte

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon