Geburt der Venus

[549] An diesem Morgen nach der Nacht, die bang

vergangen war mit Rufen, Unruh, Aufruhr, –

brach alles Meer noch einmal auf und schrie.

Und als der Schrei sich langsam wieder schloß

und von der Himmel blassem Tag und Anfang

herabfiel in der stummen Fische Abgrund –:

gebar das Meer.
[549]

Von erster Sonne schimmerte der Haarschaum

der weiten Wogenscham, an deren Rand

das Mädchen aufstand, weiß, verwirrt und feucht.

So wie ein junges grünes Blatt sich rührt,

sich reckt und Eingerolltes langsam aufschlägt,

entfaltete ihr Leib sich in die Kühle

hinein und in den unberührten Frühwind.


Wie Monde stiegen klar die Kniee auf

und tauchten in der Schenkel Wolkenränder;

der Waden schmaler Schatten wich zurück,

die Füße spannten sich und wurden licht,

und die Gelenke lebten wie die Kehlen

von Trinkenden.


Und in dem Kelch des Beckens lag der Leib

wie eine junge Frucht in eines Kindes Hand.

In seines Nabels engem Becher war

das ganze Dunkel dieses hellen Lebens.

Darunter hob sich licht die kleine Welle

und floß beständig über nach den Lenden,

wo dann und wann ein stilles Rieseln war.

Durchschienen aber und noch ohne Schatten,

wie ein Bestand von Birken im April,

warm, leer und unverborgen, lag die Scham.


Jetzt stand der Schultern rege Waage schon

im Gleichgewichte auf dem graden Körper,

der aus dem Becken wie ein Springbrunn aufstieg[550]

und zögernd in den langen Armen abfiel

und rascher in dem vollen Fall des Haars.


Dann ging sehr langsam das Gesicht vorbei:

aus dem verkürzten Dunkel seiner Neigung

in klares, waagrechtes Erhobensein.

Und hinter ihm verschloß sich steil das Kinn.


Jetzt, da der Hals gestreckt war wie ein Strahl

und wie ein Blumenstiel, darin der Saft steigt,

streckten sich auch die Arme aus wie Hälse

von Schwänen, wenn sie nach dem Ufer suchen.


Dann kam in dieses Leibes dunkle Frühe

wie Morgenwind der erste Atemzug.

Im zartesten Geäst der Aderbäume

entstand ein Flüstern, und das Blut begann

zu rauschen über seinen tiefen Stellen.

Und dieser Wind wuchs an: nun warf er sich

mit allem Atem in die neuen Brüste

und füllte sie und drückte sich in sie, –

daß sie wie Segel, von der Ferne voll,

das leichte Mädchen nach dem Strande drängten.


So landete die Göttin.


Hinter ihr,

die rasch dahinschritt durch die jungen Ufer,

erhoben sich den ganzen Vormittag[551]

die Blumen und die Halme, warm, verwirrt,

wie aus Umarmung. Und sie ging und lief.


Am Mittag aber, in der schwersten Stunde,

hob sich das Meer noch einmal auf und warf

einen Delphin an jene selbe Stelle.

Tot, rot und offen.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 549-552.
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