Abendlied

[258] Der Tag ist hin, der Sonnen Glanz

Hat nunmehr sich verloren ganz:

Itz bricht die finstre Nacht herfür

Und öffnet uns die Sternenthür.

Auf, meine Seel', und hab' itz Acht,

Was du den ganzen Tag gemacht,

Dein Schöpfer wil, du solst ihm nun

Von deinem Wandel Rechnung thun.

Ich komm', o Vater, itz heran,

Wiewol ich nichts mich rühmen kan;

Gesündigt hab' ich diesen Tag

So, daß ich kaum erscheinen mag.[258]

O großer Gott, die Dunkelheit

Versetzet mich in Traurigkeit,

Denn welch' auf bösen Wegen gehn,

Die müssen stets im Dunklen stehn.

Wo sol ich hin? Die finstre Nacht

Hat, mich zu schützen, keine Macht,

Das Unrecht läßt sich bergen nicht

Für dir, o Gott, du großes Licht.

Nim wieder mich zu Gnaden an,

Dieweil ich nicht entfliehen kan;

Durch Jesum such' ich Fried' und Ruh',

Es decke mich sein' Unschuld zu.

Durch Jesum Christum lob' ich dich,

Daß du mich hast so gnädiglich

Beschützet diesen ganzen Tag

Für mancher wolverdienten Plag'.

Ach, Herr, ich bin ja nimmer wert

Des Guten, so du mir beschert,

Und was du sonst in dieser Bahn

Des Lebens hast an mir gethan.

Gib mir in dieser Nacht doch Ruh'

Und decke mich mit Gnaden zu,

Dein Engel bleibe stets bei mir,

Auf daß mich ja kein Unfall rühr'.

Es müssen Diebe, Wasser, Feur,

Gespenste, Schrecken, Ungeheur

Samt mancher Trübsal, Angst und Pein

Sehr fern, o Vater, von mir sein.

Herr, schütze mich in aller Not,

Laß einen bösen schnellen Tod

Auch diese Nacht mich treffen nicht,

Laß schauen mich des Tages Licht.

Verleih', Herr, wenn die finstre Nacht

Verstrichen ist, und ich erwacht,

Daß ich zu früher Morgenszeit,

O großer Gott, dein Lob ausbreit.

Hierauf nun geh ich hin zur Ruh'

Und schließe Mund und Augen zu;

Mein Vater, laß dein Kind allein

In deinen Schutz befohlen sein!

Quelle:
Johann Rist: Dichtungen, Leipzig 1885, S. 258-259.
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