[303] Nun findet sich in den Waldheimatschriften auch noch ein klein Stück Wanderleben, das in seiner Art das seelische Jugendbild vervollständigen soll.
– Es war zu Pfingsten. Da stand am Vorabende des Festes in einer Schneiderwerkstatt des oberen Mürztales ein junger Mensch von der Arbeit auf, zog seinen braunen Sonntagsrock an und sagte: er wolle nun zum Feierabend einen kleinen Spaziergang machen.
Er ging über die Wiese hin gegen das Wäldchen, durch dieses hinaus auf einen Acker und dann am Wege entlang, der nach Mürzzuschlag führt. Weil die Sonne noch hoch am Himmel stand, so dachte der junge Mensch, er könne von Mürzzuschlag aus auch noch ein bißchen der klaren Mürz entlang gehen, wodurch er in ein paar Stunden nach Neuberg kam. Dort blieb er bei einem Bekannten über Nacht, und weil am nächsten Tag das Pfingstfest war und der Spaziergänger das Kirchlein zu Mürzsteg und die berühmte Engschlucht zum Toten Weib noch nicht gesehen hatte, so wanderte er wohlgemut flußaufwärts. Beim Toten Weib begegneten ihm Wallfahrer, welche sagten, daß es nur mehr vier Stunden nach Mariazell sei. Eine bessere Gelegenheit gibt's doch nicht mehr, den Gnadenort zu sehen. Er wanderte also weiter, denn er war ein schwärmerischer Junge, wie es überhaupt unter den[304] Schneidern ganz seltsame Leute gibt. Der nächste Morgen war ein Pfingstmontag, an dem es nicht regnete. Also meinte der junge Mensch, weil er hier in Mariazell schon so nahe dem eigentlichen Hochgebirge sei, so wolle er es auch einmal ansehen, und ging über Gußwerk bis Weichselboden, das hart unter dem Gewände des Hochschwaben liegt. Von Weichselboden wanderte er in den viele Stunden langen Gebirgsschluchten an der Salza bis Wildalpen und am nächsten Tage zur Enns hinaus, dann durch das Gesäuse, das damals noch keine Eisenbahn hatte, sondern eine menschenleere, sausende Wildnis war, bis Admont. Und wieder am nächsten Tage ging er durch das sonnige Ennstal und an dem grimmigen Grimming vorüber bis Aussee. Dort fragte er einen Mann, warum der Ort Aussee heiße, worauf er die Antwort erhielt: »Heißt Aussee, weil man da schon bald ausse kumt aus Steiermark und ins Österreichische übri.«
Ist der junge Mensch stutzig geworden und hat nachgedacht darüber, wie weit er auf seinem kleinen Spaziergang gekommen, und daß er schon fünf Tage lang auf der Wander ist. Was der Meister dazu sagen wird, wenn er sich solange Pfingsten macht? Nach solchen Erwägungen kehrte er um und eilte auf dem kürzesten Wege, nämlich über das Kammergebirge, die Sölkeralpen, die Murtalalpen, über Deutschlandsberg, Leibnitz, Gleichenberg, Riegersburg, Hartberg und Vorau ins Mürztal zurück. Zu diesem kürzesten Wege brauchte der Bursche neun Tage. Ein Büchlein hatte er im Sack, in welches er sonst seine Arbeit und seinen Taglohn hineinzuschreiben pflegte, in das schrieb er nun seine Reisebegebnisse, wobei er manchmal verrückt ward wie ein Dichter. Aus diesem unterhaltsamen[305] Büchlein sollen hier etliche Blätter herausgedruckt werden, als ein Beispiel, wie zwanzigjährige Schneidergesellen ihre Spaziergänge machen.
Über das körperliche Fortkommen unseres Wanderers gibt die folgende Bemerkung auf Seite 6 Aufschluß: »Reisegeld? Wozu? Meine Reise ist ein Feldzug, und bei einem solchen kommt es nicht auf Geld an, sondern auf tapferes Fechten.«
Hernach das Wanderlied:
»Wanderer, Wanderer,
Heut' bist du ein anderer!
Sonnen und Monde und Sternengewimmel
Wandern und Winde
Wolken und Winde
Ziehnen geschwinde
Hin übers Land.
Weilet die Quelle, wo sie entsprossen?
Hüpft zu Genossen
Über die Wand.
Mensch, nicht die Füße, einen zum andern?
Frei mit den Vöglein
Schwingen und singen.
Gestern noch zagen,
Heute frisch wagen,
Wanderer, Wanderer,
Heut' bist' ein anderer!«
Klingt fast wie ein Gedicht.
In den ersten Blättern ist viel die Rede von Mühlen und dergleichen, daß man sich baß fragt, wie es komme, daß dieser Schneider so sehr am Rade hängt.
Das wird anders.[306]
Von Mariazell bis hinaus gegen die Enns hatte unser Spaziergänger einen munteren, helläugigen Genossen – den Salzafluß gehabt. Mit diesem führte er einmal folgendes Gespräch:
»Woher des Weges?«
»Aus dem Österreicherlandel,« antwortete der Fluß.
»Und wie weit noch?«
»O Gott, wie weit!« rief der Fluß rauschend. »Heute nur bis zur Enns hinaus. Morgen bis zur Donau, dann ins Schwarze Meer, dann um die Welt, dann in die Wolken, dann wieder vom Berg herab und so weiter.«
»Warum so hastig voran?«
»Immer Eile, immer Weile!« rauschte der Fluß.
»Warum denn so ungeduldig? so aufwallend, wenn sich dir ein Stein entgegenstellt?«
»Du fragst so?« lachte der Fluß, »du, der die Leidenschaft selber ist? Bist es nicht du, der bei jedem Hindernis, das ihm im Wege steht, vor Zorn schäumt oder vor Herzweh gröhlt? Und mir verübelst du den Sprung, den ich gen Himmel tue, wenn die Steine mich verwunden?«
»Ha, deine Wunden, die im nächsten Augenblicke wieder heil sind! sage mir einmal, Fischblutwasser, kennst du die Liebe?«
»Ich habe mir's gedacht,« antwortete das Wasser. »Du siehst mir danach aus. Du bist gerade in den Jahren, wo einen jede Woche eine andere unglücklich macht.«
»Es gibt nur eine!« rief der junge Mensch empört ob solcher Unterstellung. »Die oder keine!«
»Alsdann wahrscheinlich keine,« flüsterte und schmunzelte das Wasser vor sich hin.[307]
»Du sollst ja die Müllerstöchter kennen,« sagte der Wanderer zum Fluß. »Die Meinige ist eine solche. Aber ein gottverdammter Müllersbursche daneben. Mit dem tut sie lieb und mich laßt sie laufen,«
»Wer sich zwischen zwei Mühlsteine zwängt!« sagte das kluge Wasser.
»Ich habe mich nicht dazwischengezwängt,« versicherte der Bursche, »der Weißlappen hat sich dazwischen gedrängt; denn für mich allein hat sie Gott erschaffen und ich kann einfach nicht leben, wenn mich die nicht mag.«
»Und hast du ihr das schon gesagt?«
»Gesagt nicht, aber sie kunnt sich's denken. Am ersten Maitag sind wir uns auf der Wiese begegnet, hab' ich ihr ein Blümel Vergißmeinnicht gepflückt, sie hat's genommen und an ihren Busen gesteckt, just mitten hinein, daß ich gemeint hab', toll müßt' ich werden vor Freud'. Jetzt tut sie nichts desgleichen und geht mit dem andern. Desweg' bin ich fort.«
»Wohin willst denn?«
»Gleichgültig.«
»Junger Freund,« sprach nun der Fluß. »Wenn du dir die Lieb' so schwer leg'st, wirst du noch viel aushalten müssen auf der Welt. Vergißmeinnicht! Schau', da am Ufer hin und hin wachsen ihrer mehr als genug. Ziegenfutter, Milchkraut. Das Weib, mein Lieber, das mußt du nicht für einen Mann halten, sondern für ein Weib. Beständigkeit! Treue! – Des Weibes einzige Tugend ist die Schönheit.«
»O Wasser!« rief der junge Mensch, »sprichst du aus Erfahrung?«[308]
»Gestern hat ein Bauerndirndel in mir gebadet. Bald darauf ein sommerfrischlerisches Stadtfräulein. Ich habe keinen Unterschied gesehen, eine wie die andere; im Beichtstuhl und im Wasser geben sie sich wie sie sind.«
»Du meinst also, daß man sie nicht ernst nehmen soll?«
»O, im Gegenteile, sehr ernst! Genau so ernst, wie man einen frischen Trunk Wassers nimmt, wenn man Durst hat.« –
Später ging er am Fuße des Grimming hin. An der Straße war ein Steinbruch; von welchem gerade zwei Arbeiter eilends hinwegliefen und dem heranschreitenden Burschen zuschrien, daß er stehenbleibe. In demselben Augenblick krachte es und die Trümmer des zersprengten Felsens flogen am Haupte des Wanderers vorüber. – Verfluchte Unvorsichtigkeit! dachte der Bursche, tat hierauf einen gellenden Schrei und stürzte zu Boden. Die erschrockenen Arbeiter sprangen herbei, da erhob sich der Gefallene langsam und sagte: »Es ist gut, aber möglich wäre es. Ein andermal rufet dem arglosen Geher ein rechtzeitiges Halt zu!« – Sie dürften sich's gemerkt haben.
Als er hernach seines Weges weiterging, kam ihm ein gelbhaariges Almdirndel mit einem Handbündel nach, griff seinen Arm an und fragte: »Ist dir wirklich nichts geschehen?«
Der junge Mensch gab die kecke Antwort: »Wenn du dich überzeugen willst, kein Splitterl!«
Sie gingen eine Stunde lang miteinander. Auf seine Frage, wohin sie wolle, lachte sie und sagte, das wisse sie selber nicht. Sie sei vom Ennstal, dort habe sie ihr Dienstherr verjagt und jetzt suche sie einen neuen Platz.[309]
Warum er sie verjagt habe? Auf diese seine Frage wurde sie rot und meinte: »Na, halt so.«
»Na, halt so! Der Grund ist mir zu wenig,« sprach der Wanderer.
Sie blickte ihn von der Seite an und sagte hernach: »Was soll ich's leugnen! Meine Bauernleut' haben aufgebracht, ich hätt' die Mannsbilder zu gern, und deswegen hab' ich fort müssen.«
»Und ist das auch wahr?« fragte der junge Mensch.
»Ho!« lachte sie auf, »freilich. Ich hab' alle Leut' gern.«
»Das ist ja ganz christlich,« meinte er.
Sie schaute ihn genauer an und sagte: »Du bist gewiß so einer, der auf Geistlich studiert, weil du vom Christlichsein was sagst?«
Soll ich sie anlügen oder nicht? dachte der junge Mensch bei sich. Da fiel ihm ein, der kürzeste Weg zu einem guten Ziele wäre doch allzeit die Wahrheit.
»Ich bin kein frommer Student,« sagt er, »sondern ich bin ein ganz weltlicher, lustiger, sündhafter Schneiderjung!«
»Das macht nichts,« antwortete sie, »wir sind alle sündhaft.«
»Da hast eh recht,« sagte der junge Mensch.
»Ich leugne es gar nicht,« hierauf sie, »daß ich mich mit Mannsbildern lieber unterhalt' als mit Weibsbildern; und eine, die anders redet, ist eh schon schlecht.«
»Das ist ganz gescheit,« sagte der Bursche.
»Heiraten kann unsereins sowieso nicht,« sagte sie.
»Wüßtest dir einen?«[310]
»O, ihrer genug. Aber aufs Geld gehen sie. Hat eine Geld, so ist sie allemal auch brav.«
»Du bist pfiffig!« sagte der Bursche.
»Jetzt, das Jungsein möcht' eins doch auch g'spüren.«
»Freilich möcht' eins das Jungsein g'spüren.«
»Dauert eh nit lang auf der Welt.«
»Nur ein kleines Ruckerl. Kaum fingerlang dauert das Jungsein.«
In solcher Verständnisinnigkeit gingen die beiden nebeneinander her. Da fragte das Almdirndl plötzlich: »Heißest du Hansel?«
»Nein.«
»Nicht? Jetzt hab' ich geglaubt, du heißest Hansel.«
»Warum?«
»Wenn du Hansel geheißen hättest, so hätte ich deinen Namen erraten. Die Hanseln errat' ich alle. Wie heißt denn nachher dein Namen?«
»Den kannst lang' suchen.«
»Hast du eine starke Brust?«
»Meine Brust ist nicht schlecht.«
»Nachher geh' und schrei' deinen Namen in den Wald hinein, wenn du ihn mir nicht willst anvertrauen. Dort drüben im Wald ist ein Felsen, und ein schöner Widerhall, wenn man hingeht und schreit.«
»Bei Weichselboden unten ist auch ein schöner Widerhall,« sprach der Bursche, »wenn man hinschreit: Guten Morgen! so ruft es zurück: Auch soviel! Und wenn man recht laut niest, so ruft es »Zum Wohlsein!«
»Plauder' nur weiter,« sagte das Dirndl, »ich laß mich gern foppen. Sollst doch mit mir zum Felsen hinübergehen und den Widerhall probieren.«[311]
Wir sind – heißt es wörtlich im Büchlein – jetzt halt in das Waldl hineingegangen, aber kein Weg und Steg, lauter Heidelkraut und noch nichts reif. Sie voraus, habe sie so angeschaut und gedacht: Die Schönheit ertragst leicht. Aber gesund. Die Ärmel hat sie aufgestreift. Bleibt am Weißdornstrauch ihr schwarzseidenes Kopftüchel hängen. Heiß ist's auch. Und Eidechsen. Kommen alleweil tiefer ins Strauchwerk. »Verführst mich ja!« sag' ich. »Was denn?« sagt sie und pflückt Steinnelken und anderes Geblümel, was sie mir nachher ins Knopfloch steckt. Wie sie so steht, geht sie mir just bis aus Kinn, so daß ich sage: »Gehst mir just bis aus Kinn.«
»Das macht ja nichts,« sagt sie, »'s Bübel soll allemal eppas länger sein wie's Dirndl.«
»Wo ist denn der Felsen?« frage ich.
»Uj Gott!« sagt sie, »jetzt denkt der noch an Felsen!«
So weit geht's, da fehlen im Büchel plötzlich drei Blätter. Von Seite 15 bis 21. Sie sind herausgerissen worden.
Wenn es gestattet wäre, diese schauerliche Lücke mit Mutmaßungen auszufüllen, so könnte man folgendes annehmen: Den Echofelsen haben sie endlich gefunden. Der junge Mensch hat fortwährend den Namen der Müllerstochter auf ihn hingerufen und der Felsen hat denselben Namen fortwährend hergerufen. Darüber ist dem Almdirndl langweilig geworden, es hat ihn einen »tapperten Buabn« geheißen und ist davongelaufen. Der Spaziergänger ist hierauf sehr zufrieden mit sich selbst seines Weges gegangen. – Es wird auch sicher nicht anders gewesen sein.
Wie auf Seite 22 die Beschreibung weitergeht, ist der[312] junge Mensch über alle Berge. Er ergeht sich von nun an in vernünftigen Gedanken, ruhigeren Schilderungen und ernsthaften Betrachtungen. Nur als er nach Tagen zum Murflusse kommt, spricht er zu diesem: »Du gehst auch ins Schwarze Meer. Wenn du dort die Salza begegnen solltest, so sage ihr einen Gruß vom wandernden Gesellen.«
Als der junge Mensch am fünfzehnten Tage des kleinen Spazierganges nach Hause kam, begegnete ihm als die erste die Müllerstochter.
»Da ist er!« rief sie hell.
Als der Geselle ins Haus seines Meisters eintrat, sagte dieser: »Da ist er!« Der Ruf war rauh. An des Meisters Seite saß bereits ein neuer Gehilfe, der in unerklärlicher Abwesenheit des anderen aufgenommen worden.
»Wanderer, Wanderer.
Heute bist ein anderer!« –
trällerte der junge Mensch, suchte sein Felleisen hervor und ging es von neuem an. –
Ich meine, wir lassen den Burschen laufen. Ob als Handwerksbursche, ob als Studiosus, ob als Waldsang, ob als Bergsteiger, ob als Jauchzender auf der Höhe oder als Rufer in der Wüste. Gott mit ihm! Wir müssen noch einen letzten Blick tun in das dunkle Waldbauernhaus, um das Ableiden der Alten zu betrachten.
Ausgewählte Ausgaben von
Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit
|
Buchempfehlung
In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro