Die Stimme

[27] O Mund, der nun spricht, hinschwingend in durchsichtigen Stößen über die gewölbten Meere.


O Licht im Menschen an allen Orten der Erde, in den Städten fliegen Stimmen auf wie silberne Speere.


O Trägheit der kreisenden Kugel, du kämpftest gegen Gott mit fletschenden Tierlegionen, Urwäldern, Säbeln, Schüssen, bösem Mißverstand, Mord, Epidemien:


Aber der Lichtmensch sprüht aus der Todeskruste heraus. In den Fabriken heulen Ventile über die Erde hin. Er hat seine Stimme in tausend Posaunen geschrien.
[27]

Eine Stimme schnellte hoch, glasschwirrend ein harter Stahlpfeil, der in Glut blank zerknallt.


Eine Stimme über Amerika, unter schweißigen Negern, die demütig das Weiße der Augen drehen; unter deutschen Flüchtlingen, bärtig zerpreßten Bettlern, unter hungernden Juden, die das glitschige Ghetto finster zusammenballt.

Eine Stimme unter den entkräfteten Arbeitern, drei Millionen, die alle Jahr einsam absterben nach neuen Fabriksystemen,

Eine Stimme unter zerfressenen Frauen im bunten Hemd, denen die Bordellmeister das Geld abnehmen.

Unter starren Chinesen im Hungergeruch, die Tag und Nacht feine Wäsche waschen,

Eine Stimme über den Broadways, wo Arbeitslose nach fortgeworfenen Speiseresten haschen.


Eine Stimme schwang zart wie der dünne steigende Schrei des Dampfs, eh die vieltönigen Wasserblasen aufkochen.

Sie sprang wie Windsand in stumme Münder hinein, sie glitt wie Flötenkraft müden Schleppern über geduckte Knochen.


Durch steilschwarze Stuben schwebten Sonne und Mond, die Sterne zogen durch stinkende Tapeten aus rissigen Flecken.

O vielleicht geht das himmlische Wunderlicht auf, bevor alle zu Aas verrecken!

Eine Stimme flog und sog sich voll aus schmutziger Werkstättenzeit,

Die Wut und die Hoffnung kreisten wie Blut, und der Haß, der naß bespeit.

Eine Stimme haucht schwarz über schlechtes Papier aus bankrottierten Druckermaschinen,

Eine Stimme las das Flüsterwort: Streik! in den roten Schächten der Coloradominen.

Sie liegt wie heißer Rauch auf schaukelnden Häfen; mißtrauischen Kneipen; im verhungerten Dorf; wenn der geplünderte Bauer sät;[28]

In Städten schreit sie Signalgeklirr über wirre Versammlungen hin, wo Polizei die Türen bespäht.


O Münder, daraus die Stimme des Menschen brennt!


O trockene Lippen, sechzigjährig, trauernd schlaff umstoppelt, die sich flach öffnen, weil vor dem Tod Einer bekennt.


O irre rote Zungenglut hinter weißen Negerzähnen, die Stimme gurgelt im Glücksgesang.


O Mund, rundes schallendes Tor, Hall und Lust, Volkschoral, daß der Saal mitschwang.


O bitterer Nähmädchenmund, der nach Gerechtigkeit klagt und schrill Groschen und Wiegpfunde zählt.


O faltiger Rednermund, der auf und nieder wie Eulenaug geht, und Effekte wählt.


O Mann im blauen Hemd, der in Fabrikpausen hastig Propaganda treibt.


O sorgfältiger Beamter, der nach allen Poststationen Briefe und Werbelisten schreibt.


O Demütiger, verlegenes Herz, der nur einmal einem Guten die Hand drücken mocht.


O Stummer, der zum erstenmal spricht, und in einem Satz sich prasselnd verkocht.


Eine Stimme flammt über Europas gehetzten Menschen, über krummen schweigsamen Kulis im Australischen Strauch.


O Münder, wie viele warten auf Euch, Ihr schallt, und sie öffnen sich auch!


Auf der runden Erde floß das Meer im Wind über den Strand und zurück.
[29]

Schlapphutredner im Lichtstrahl, hinter Pulten, bei geheimen Zusammenkünften, an nassen Kneiptischen, sprachen geläufig immer dasselbe Stück.


Schwindler warben um Geld. Fastende Heilige schmuggelten verbotene Zeitungen über die Grenzen,


Gymnasiasten in ihren Aufsätzen wollten zum Zorn der Lehrer mit neuem Wissen glänzen.


Einsame wurden über die runde Erdkugel hin von Worten getroffen wie Hafenstädte von aufgefischten Flaschenposten.


In allen Häusern drängen Frauenleiber ans Fenster, um das vorbeifliegende Abendlicht zu kosten.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 27-30.
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