Erste Szene

[86] Nauke. Erster Gefangener. Zweiter Gefangener. Der Offizier.


NAUKE. Eßt, Jungens, eßt! Wenn ihr nicht satt seid, eßt weiter. Das ganze Schiff ist für euch da! Seit wir unterwegs sind, tue ich auch nichts anderes.

DER ERSTE GEFANGENER. Freiheit. Es ist so gute Luft; hab ich schon zwölf Jahre nicht mehr geschluckt.

NAUKE. Gute Luft? Find ich nicht. Seit wir vom Meer in den Fluß gelaufen sind, legt sich's mir dick über die Nase.

ZWEITER GEFANGENER. Kann der Offizier nicht seine Uniform abtun? Das bohrt mir die Augen ein, ich bin noch nicht ganz in die Freiheit gesprungen, solang ich die Streifen sehe.

NAUKE zum Offizier. Zieh den Rock aus. Zwölf Jahre lang hat dem Alten die Uniform das Leben verdorben. Der Offizier zieht den Rock aus. Das ist das neue Leben, seht ihr? Wir werden noch manchem den Rock ausziehen.

ERSTER GEFANGENER. Gerad das stand auf den Blättern gedruckt, deswegen sie uns eingesperrt haben. Der Staatsanwalt sagte ...

NAUKE. Ach, laß den Staatsanwalt, es gibt keinen Staatsanwalt mehr! Als ich noch ein Junge war, hab ich mir schon hinter jedem Polizisten gesagt: einmal bin ich groß, und dann: den Rock herunter. Da seht ihr – wir haben jetzt die neue Welt, alle müssen den Rock ausziehen!

ZWEITER GEFANGENER. Genau das hab ich in meiner Verteidigungsrede vor Gericht gesagt, ich sagte ...[86]

NAUKE. Laß das Gericht, Bruder, es gibt kein Gericht mehr. Wir reden nicht mehr, wir machen das wirklich. Was? Das ist ein Spaß, wie's jetzt alle Tage geht. Wir heran an ein Schiff, überrumpeln, die Mannschaft festlegen, dem Kapitän die Uniform vom Leibe und alle herunter ins Verdeck zu den Gefangenen schmeißen! Ich hab's geahnt – als Schiffsjunge, als Schornsteinfeger, als Scherenschleifer hab ich's schon geahnt, daß es so kommen mußte. – Offizier, hast du auch satt gegessen?

OFFIZIER. Bin nicht hungrig. Ich esse, wenn wir anlegen.

NAUKE. Hungre, Bruder Mörder, hungre ruhig, hier kann jeder essen und hungern, wie er will. Das ist die Freiheit, seht ihr! –

ERSTER GEFANGENER. Wenn wir anlegen, dann adieu ihr da drüben, das alte Land hat mich geschmeckt.

NAUKE. Wie, du willst fort?! Das gibt's nicht, Kamerad!

ZWEITER GEFANGENER. Was, ihr haltet uns fest?

NAUKE. Festhalten? Aber Bruder, wo steckt ihr? Jetzt beginnt es doch erst! Das Schiff legt an jeder Stadt an, wir heraus, und unter die Leute. In jeder Stadt! Wir legen bei jeder Stadt am Fluß an. Machen Kameraden, die mit uns kommen!

OFFIZIER. Aber dann?

ERSTER UND ZWEITER GEFANGENER. Und was sollen die tun?

NAUKE. Was die tun sollen? Brüder, Jungens – was die tun sollen? Mit uns kommen, den Offizieren die Röcke herunterreißen, den Polizisten den eigenen Säbel zwischen die Beine halten, die Staatsanwälte ins Loch sperren und mit uns kommen, mit uns kommen! Von einer Stadt in die andere. Hier auf dem breiten Fluß, auf dem Meer, den Schiffen die Ladung abnehmen, die feindliche Mannschaft ins Zwischendeck sperren, in den Städten die Vorratshallen aufmachen. Jeder nimmt sich, was er braucht. Die Freiheit, Freunde! Was fragt ihr? Seid ihr denn Männer? Meine Mutter hätt euch das schon sagen können: die rein zum Bäcker gelangt, und mit dem Brot unterm Rock raus, dem Schutzmann ein Bein gestellt, daß er über seinen eigenen Helm stolpert – und das war doch nur 'ne arme gejagte Matrosenhure!

ERSTER GEFANGENER. Und dann an die Banken, und den[87] Zins beseitigt! Ich hab zwanzig Jahre lang daran gerechnet. Das ist das Wichtigste!

NAUKE. Zins? Geld? Ihr armen Kerle habt im Zuchthaus die Zeit verträumt. – Das wissen wir heute ganz genau: Von Geld ist überhaupt nicht mehr die Rede. Jeder nimmt, was ihm vor der Hand liegt: den Topf, das Haus, das Schiffstau. Die Erde ist groß genug für alle Hände. Wir tauschen alles, zuletzt uns selbst. Freiheit! Freiheit! Nieder mit der Gesellschaft!

DER OFFIZIER. Wann legen wir an? Wann kommt die erste Stadt? Wann? Oh, die Mörder aus der Welt schaffen! Nieder mit der Gesellschaft!

ERSTER UND ZWEITER GEFANGENER. Nieder mit der Gesellschaft!

DIE SCHIFFSGEFANGENEN unten im Zwischendeck noch unsichtbar. Laßt uns heraus! Leben! Wir wollen leben!

DER OFFIZIER. Was ist das? Sie schreien.

NAUKE. Die gefangene Mannschaft, die wir im Zwischendeck haben. Die sind sicher. Die stören uns nicht mehr.

DER OFFIZIER. Ist jemand von uns bei ihnen?

NAUKE. Die sind eingesperrt – das sind doch Feinde! Kümmere dich nicht um die, wir haben Wichtigeres zu tun! – Kamerad, du machst es an Land bei den Soldaten. Solche wie du gibt es noch mehr. Einer muß nur das Beispiel geben.

OFFIZIER. Und die Frauen?

NAUKE. Die Frauen machen's auf die andere Art. Das weiß ich von meiner Mutter, daß ein Weib die halbe Stadt umlegen kann. Die Frauen gehen zu den Lauen, denen, die uns Gutes wünschen und sich nie getrauen werden, mit anzupacken. Dann sag ich euch, ehe so ein Tag um ist, hat bald alles den Kopf erhoben, und es kommt ein Wutgebrüll wie von den Löwen in den Käfigen. Auf einmal, seht ihr, sind wir da. Und die neuen Kameraden haben schon die Fäuste den andern vors Gesicht gehalten, ehe sie's selbst noch wissen!

OFFIZIER. Die Frauen am Schiff!

ERSTER UND ZWEITER GEFANGENER. Die Frauen! Die Frauen, kommt herauf![88]


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 86-89.
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