Siebente Szene

[97] Vorige.


OFFIZIER. Sie fliehen! Freiheit siegt!

DER GOUVERNEUR. Verwirrung unter die Gewalt! Gerettet! Die Gewalt sprang ab vor Menschenwillen. Seht, wie das Schiff klein dort unten schwindet! – Ihr, Sternbrüder, seid ihr nun Eurer Kraft gewiss? Das neue Leben liegt vor uns!

ALLE. Gerettet – sie fliehen!

NAUKE. Gerettet! Ich hab uns gerettet Werd's mir merken. Allein durch meinen Willen. Man steht still, tut gar nichts, bläst durch die Lippen – und hast du nicht gesehen, ist der andere auf und davon! In die feinsten Restaurants geh ich so! Zahlen? – ist nicht mehr! Kellner, eine gute Zigarre und eine Flasche Sekt: Mein Wille – pfft! Weg mit dir, Dummkopf! Mein Wille! Freiheit!

KLOTZ. Wir sind frei. Ewig frei. Wir haben uns gerettet. Nun müssen wir die Menschheit retten!

ERSTER WÄCHTER. An Land! Ich komme auf die neue Erde. Habe mich mein Leben lang geduckt, bin gekrochen, hab die Gefangenen gepeinigt. Wir legen an. Es gibt keine Vorgesetzten mehr, nur Brüder.

OFFIZIER. Ich habe befohlen, habe die Soldaten gequält, ich war dumpf, hab Befehlen gehorcht, ich hab gemordet. Jeder Blutstropfen zerrt an mir, zu den Menschen herüberzuspringen und zu helfen. An Land!

ANNA. Ich strich an den Zellen des Gefängnisses vorbei, und jedes Stöhnen fand mich taub. Aber nun weiß ich, was das Licht ist, und ich will, daß die Reinheit wie ein Feuer durch die Menschen brennt!

ALLE außer Klotz, dem Mann und dem Gouverneur. Freiheit, Hoffnung. An Land. Die Stadt!

NAUKE. Ans Ufer. Anlegen!

DER GOUVERNEUR. Nein! Wir können nicht anlegen!

NAUKE. Wir können alles, was wir wollen! An Land!

DER GOUVERNEUR, DER MANN, KLOTZ. Unmöglich!

DIE FFRAU. Unmöglich?

KLOTZ. Wir können nicht an Land. Merkt ihr nicht längst, wo wir sind? Drüben am Ufer ist kein lebendes Wesen[97] mehr. Tot, tot! Die Städte sind tot, verkommen, ausgestorben!

DER MANN. Spürt, wo ihr seid, Mut, Kameraden. Aus dem Wasser um uns steigt Tod: Das ist der Untergang für uns, es dringt in alle Poren, wer kann noch atmen, ohne zu wanken!

DER GOUVERNEUR. Brüder, Mut! Um uns ist Tod! Das Land ist tot! Wir fahren durch den Tod. Auf dem Wasser herrscht die Pest!

NAUKE, ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GEFANGENER, ERSTER WÄCHTER, OFFIZIER. Die Pest! Die Pest um uns! Hilfe! Hilfe!

DER GOUVERNEUR. Uns hilft niemand, wir sind allein!

OFFIZIER. Zu Hilfe: die Pest!

NAUKE. Teufel noch einmal, Zins und Kapital, die Pest! Und der Rum ist ausgetrunken. In keiner Flasche mehr ein Tropfen!

DER GOUVERNEUR. Brüder, wir dürfen uns nicht verlieren. Unser Wille muß stärker sein als Todesgefahr. Jede Welle, durch die das Schiff schlägt, spritzt die Seuche um uns hoch. Aus den Turmspitzen der toten Städte drüben fliegt die Seuche zu uns herüber. Jede Mauer will uns zu klebrigem Moder machen. Um uns lebt nichts mehr, Seuchendunst steigt um uns, das Wasser ist zitterndes Grün. Wir sind Menschen. Nur die Zukunft hält uns stark. Wir müssen leben für die Freiheit. Glaubt eurem Willen; er rettet uns aus Einsamkeit der Todeshölle!

OFFIZIER. Verloren, verloren! Mitten in der Seuche. Ich hasse mich, daß ich mich je von Worten hinreißen ließ. Ich hasse euch!

ERSTER GEFANGENER. Du hassest mich, du Lump? Lieber zwanzig Jahre im Kettenkerker, als in der Seuche verrecken. Betrüger!

ZWEITER GEFANGENER zum ersten Gefangenen. Ich hab mir den Kopf zermartert für die Menschheit, du hast höhnisch dazu gemäkelt, verfluchter Zinsenhans! Ich, ich will nicht zurück ins Gefängnis, geh allein, du Schwindler.

DER GOUVERNEUR. Kameraden, glaubt an euer Leben. Wir leben, wenn wir in diesem Todesrasen fest aneinander glauben!

ERSTER WÄCHTER. Was hab ich von diesem Tod? Meine[98] Tochter – eine Fremde! Mein Zimmer verlassen, meine Frau, mein Ansehen, mein Auskommen – für eure Freiheit! Ich will mein Vogelbauer zurück haben, gebt mir mein Sofa wieder!

KLOTZ. Ist alles vorbei? Zu spät! Im Stich gelassen von allen! Die Kameraden fallen ab wie Leichentücher! Haß! Wie allein, wie allein! Haßt nicht! Haßt nicht, ihr dürft nicht hassen! Erinnert euch, wer ihr seid! Von uns bleibt nichts in der Welt, wenn ihr noch haßt!

ANNA. Sterben! Habe ich Liebe gehabt? Wo bleiben die Menschen? Tod, und nie die Menschenfreiheit gespürt! An Land, wenn wir an Land tot hinfallen, ist's gleich, so haben wir doch das ferne Land berührt!

DER MANN. An der Seuche vermodern, wo es zur Freiheit ging! Noch ehe die Menschheit aus der Erde aufstehen konnte, werden meine Arme und Beine blau geschwollen abfallen, mein Kopf wird grinsen, dieses Gehirn soll stinkend schwarzer Teig sein? Ich kann nicht allein sterben. Wenn ich sterbe, wer wird dann noch leben?

DIE FRAU. Hilft mir niemand? Ich will nicht sterben! Ich habe schwache Menschen verlassen, ich habe Menschen Unrecht getan für die Freiheit! Ich kann nicht sterben!

DER GOUVERNEUR. Brüder, wir leben! Ihr seid nicht allein! Wir blicken uns in die Augen, und jeder von uns ist die ganze Erde bis an den Himmel! Wir schleudern den Tod von uns!

NAUKE. Tod! Ihr habt alle den Tod verdient! Wenn ihr krepiert, ich will der Letzte sein!

OFFIZIER, ERSTER GEFANGENER, ZWEITER GEFANGENER, ERSTER WÄCHTER, ZWEITER WÄCHTER. Ihr Verräter, nieder mit euch Verrätern.

DER MANN, DIE FRAU, ANNA, KLOTZ. Anlegen. Leben! An Land!

DER GOUVERNEUR. Wollt ihr meinen Tod? Ich geb ihn, er nützt euch nichts. Wir müssen unsern Weg fahren, wir müssen! Wo ihr hintretet, ist die Pest!

ALLE außer dem Gouverneur. Zu Hilfe! Die Pest! Sie sind im Begriff, übereinander herzufallen.[99]


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 97-100.
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