Zweite Szene

[108] Vorige. Anna.

Anna steigt aus der Versenkung herauf.


DIE DREI REVOLUTIONÄRINNEN. Wo sind wir? Dort ist es dunkel. – Halt, Geräusch! Ah! – Wer ist da? Anna im Licht. Wo kommst du her?

ANNA. Vom Flusse!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Wer bist du? Du bist nicht von uns!

ANNA. Ich komme zu euch. Man hat uns gehetzt wie Fledermäuse im Licht. Wir schleichen tagelang durch Löcher, Schutthaufen von Häusern, durch Keller und Gänge zu euch. Unsere Brüder dringen durch die Mauern und Steine zu euch in die Stadt, wie Wassertropfen durch Erdreich.

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Ihr kommt zu uns? Und wir wollen hinaus!

ANNA. Ihr wollt hinaus? Wohin wollt ihr?

DIE DREI REVOLUTIONÄRINNEN. Zur Freiheit.

ANNA. Ich bringe euch die Freiheit!

DIE DREI REVOLUTIONÄRINNEN. Die Freiheit?[108]

ANNA. Warum zweifelt ihr! Vor einer Wundersekunde nur wart ihr noch so sicher in eurer Freiheit.

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Die Stadt ist bedeckt von schwarzer Luft, Tausenden, an glatter Haut brechen plötzlich Wunden stinkend auf, Abgezehrte fallen in die Knie und bleiben tot liegen; die Seuchen, wie vom Feind gesandt, blasen Signale durch die Häuser – und ich bin gewählt, für die Spitäler zu sorgen. Ich bin zu schwach.

ANNA. Bist du zu schwach? Das ist gut. Dann wirst du einmal stärker sein, als du jemals gehofft hast!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Was kann ich noch tun? Wir haben in den Fabriken keine Kohlen mehr, keinen Strom, die Treibriemen sind dürr und fettlos und reißen am Rad, die Sicherungen brechen im Metall und saugen die Arbeiter in den Tod. Können wir denn noch arbeiten? Was kann ich machen?

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Brot brauchen sie! Brot! Nur dies erste. Das Brot. Es ist nichts da. Nichts mehr. Diese Freiheit ist die Verantwortung, die auf jedem Menschen liegt. – Ich kann nicht länger an ihr tragen. Wer bin ich noch? Ein Nichts. Für die andern – eine Lüge.

ANNA. Wo seid ihr, Schwestern? Ihr seid fern von euch. Ihr brecht zusammen unter Kindern, die nicht eure Geburten sind. Ihr seid nur noch die Buchstaben eurer Namen. Ihr seid Beamte, Minister, Leitende – aber rollte das aus euch? Müßt ihr erst euch noch mit eurem Hirn hersagen, daß ihr lebt und handelt für die Idee? Oh, dann seid ihr verloren! Das erste Geständnis vor euch selbst, und ihr seid verloren, die Stadt verloren, die Freiheit ist verloren!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Unser größter Mut war, daß wir die Verzweiflung verbargen. Da unten, das Volk glaubt uns stark – wüßten sie, wie wir uns fesseln, um nicht in den Wahnsinn des Nichts auszubrechen, so würden sie an Hoffnungslosigkeit sterben wie Regenwürmer auf ausgedörrtem Stein!

ANNA. Aber ihr seid verloren, wenn ihr euch vom fremden Sinn lenken laßt! Ihr wollt die Freiheit? Ihr selbst seid die Freiheit: Ihr braucht nicht zu flüchten, ihr braucht nichts zu verbergen. Wie? Ihr leitet? Ihr verfügt? Ihr versammelt, ordnet an, gebt Aufträge, seid Zahlen-Nenner,[109] macht Zahlen? In welcher alten Welt lebt ihr? Wollt ihr die Kadaver eurer selbst bleiben?

ERSTE, ZWEITE, DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Was sollen wir tun?

ANNA zur ersten. Laß deine Krankenhäuser.

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Ah – aber sie werden zerfallen!

ANNA. Die Kranken werden gesund, du wirst sie pflegen! – Zur zweiten. Laß du deine Fabriken!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Und die Arbeit, die stillsteht? Die Leere, dieses Elend, wenn nichts mehr gemacht wird?

ANNA. Sie soll stillstehen. Du selbst wirst arbeiten! – Zur dritten. Kümmere du dich nicht mehr ums Brot!

DRITTE REVOLUTIONÄRIN. Hunger! Hunger! Weißt, was du herbeirufst: Hunger!

ANNA. Du backe selbst Brot! Das Volk braucht euch nicht! Ihr braucht die andern, weil ihr euch selbst braucht!

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Aber das ist Auflösung!

ANNA. O wär sie doch schon unter uns in der Stadt, die helle, ehrliche Stille, das Atemanhalten der Treibriemen!

ERSTE REVOLUTIONÄRIN. Und sind wir dann noch nütze? Wird diese Stille nicht uns selbst verschlingen?

ANNA. Wir sind nicht allein. Glaubt ihr, daß wir auch nur stehen könnten, wenn nicht aus allen Städten der Welt Arme zu uns sich herüberstreckten! In alle Mauern hinein bohren sich Augen, hinauf in den Himmel brennen Augen. Zu uns, zu uns! Zu uns blitzen sie her, verzweifelt, so wie ihr verzweifelt seid. Jeder Schrei, der aus uns auffliegt, kommt aus den Millionen Mündern. Glaubt nicht, wir hätten nur Kraft, wenn wir in Regimentern einherstampfen. Blickt hindurch durch die Mauern, springt über die Grenzen! Stürzt zu allen Frauen, die lieben! Millionen Frauen in jedem Land stehen wie auf einsamer Insel, um sie strudelt Verzweiflung, sie warten auf euch. Millionen sind da, bebend bereit zu unserm Kampf! Blickt hin, wie diese Erdkugel von Frauen, eng gedrängt starre Leiber, und doch noch unverbunden, aus dem Dunkel aufsteigt, noch geschlossene Augen, gekreuzte Hände, noch ein enger Riesenfriedhof von Haarkränzen, aber ein Schrei aus euch, ein Schrei zu Verwandten: die Arme breiten sich, Augen in tiefer Kraft finden euch, und ein Herzschlag gemeinsam zittert durch die Haut der Erde,[110] daß einen Atemzug lang jede Hand stillhält, jede Arbeit ruht, jede Fabrik versinkt, jeder Mörderschuß kraftlos vor den Lauf zu Boden fällt.

ZWEITE REVOLUTIONÄRIN. Oh, und wie werden sie essen?

ANNA. Du wirst es ihnen nicht geben, wenn du nichts anderes tun als sie nur führen willst! Treibe sie, meine Freundin, sei unter ihnen, hauche ihnen Erregung ins Gesicht, daß sie es einen Tag lang vergessen. Ein Tag nur, ein einziger Tag Ruhe, ein Tag Stille aller Menschen auf der Erde, und diese alte Welt ist verwischt; eure Mauern und Gräber treiben die Feinde selbst zurück, ohne daß einer von uns die Hand regt. Ein Tag nur ganz eure Kraft, euer Lächeln, euer Duft, euer Atem!


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 108-111.
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