Das Geistige

[78] Ein Geburtstagskind bekam eine Torte. »Was für eine Torte hast du da?« fragten seine Freunde. Das Geburtstagskind machte sich so klein, bis sein Auge genau auf dem Niveau der Torte war. »Ich sehe«, sagte es, »ein Ding mit Bergen und Tälern, und gerade so hoch wie ich selber.« »Aber was ist drin?« fragten die Freunde. »Ich will Konditor werden, dann werden wir alle das wissen!« antwortete es. Diese Mitteilungen erregten bei den Freunden durch ihre sachliche Unbeteiligtheit Staunen und Bewunderung. Sie machten sich alle so klein wie das Geburtstagskind, und einige entschlossen sich still zum Konditorberuf. Da kam aus dem Nebenzimmer ein neuer Spielkamerad. Ziemlich taktlos stürzte er sich gleich auf die Torte, schnitt sie schnell an und ass. »Ah, Marzipantorten schmecken doch wunderbar," sagte er; allzuviel hatte er von dem Geschenk nicht übriggelassen. »Was hast du gemacht!« schrien alle entrüstet, »wir wollten doch wissen, was in der Torte drin ist!« »Verzeiht, meine Freunde," versetzte der Täter, »ich glaubte, man erkennt es durch Essen.«

Aller Jammer der Welt rührt daher, dass die Menschen gewohnt sind, sich als blosse Naturwesen anzusehen. Das Naturgeschöpf ist dem Naturgeschehen unterworfen; alles sei im grossen Strom, die Menschen – Naturprodukte strömten mit. Der Naturbetrachter sieht die Welt vom vorhandenen Material aus an, und er bezieht die Fakten auf den Menschen nur als auf ein Anwendungsobjekt. Der Mensch steht für ihn auf derselben Stufe wie sein Material. Diese Naturphilosophie der Gernekleins meint, alles stehe auf demselben Niveau; alles sei gleichgut. Die Absicht dieses Infantilismus ist: Indifferenz. Sollte nicht, am Ende, die relativistische Naturansicht aus[78] dunklem, eingesipptem, noch nicht abgestossenem Bequemlichkeitsgefühl kommen? Aus der Trägheitsvorstellung, man lebe auf dieser Erde als auf einer flachen Scheibe? Eine Vorstellung, die jeder Schüler berichtigen kann. Aber eine Berichtigung, die noch nicht ins Handeln übergegangen ist. Die Naturansicht des Menschenlebens – die Gleichsetzung mit allem, was ist; die schiefe Güte, die alles in Ruhe lassen, nichts ändern will; die falsche Gerechtigkeit, die jedem Ding seine Sondergerechtigkeit zubilligt; der Relativismus; die Standpunktlosigkeit: dieses alles ist eine schlechte, träge, ungewusste, unradikale Geographie.

Der Aufenthalt auf der Erdkugel ist unendlich unbeschränkt; wir fallen nirgends über den Rand. Der Standpunkt steht uns frei. Wir haben also zu wählen. Wählen wir das Allernächstliegende: überhaupt einen Standpunkt. – Aber die Tatsache, dass wir überhaupt einen Standpunkt haben, ist unendlich folgenreich. Die Natur, die wir jetzt ausser ihr ansehen, ist das Notwendige. Das nur Notwendige. Aber die Wahl unseres Standpunktes, die Tatsache eines absoluten, unbedingten Ausganges für unser Zurechtfinden im Leben; die neue Perspektive, das Geistige, dies ist nichts Notwendiges mehr. Das Geistige ist ein Plus. Ein Überfluss, ein unerhörter Luxus der Welt. Es ist wie die Koda in einer Beethovenschen Sonate: alles Notwendige des Musiksatzes ist da, alle Durchführungen sind gemacht, alle Themen sind erklärt, gewendet, und ein Schulmeister würde Schluss machen. Da taucht, einige Takte vor dem Ende, überraschend eine neue Musik auf, neu irgendwoher aus einem Unerschöpflichen geholt, und nun untrennbar vom Werk, doch das Werk steigernd. Ein Plus, ein Unnotwendiges, Unmechanisches, Unselbstverständliches; ein Willenswesen, Aktionswesen, ein unglaublicher Überfluss des Schöpferischen.[79]

Das Geistige ist die Koda der Welt. Einen Standpunkt haben, heisst: Es kommt darauf an, zu wissen, dass man ausserhalb steht. Einzig, unter dem Notwendigkeitsgebundenen dieser Erde, steht der Mensch ausserhalb, überraschend ein Überfluss. Die geistige Betrachtung geht vom einzig dastehenden Menschen aus. Dem mechanischen Geschehen fehlt der archimedische Punkt Ausserhalb, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Mensch hat ihn. Er hebe. Das Wesen des Menschen ist: an der Welt heben. Seine erste Tätigkeit geht auf Änderung der Welt. Sein Hebel, das reinste geistige Werkzeug, ist: der Wert. Der Mensch wertet– er ändert. Einer kam einmal funkelnagelneu geboren in die menschliche Gesellschaft und fragte bescheiden: »Was ist wertvoller, die Venus von Milo oder ein Pfund Fleisch?« Die Gesellschaft bestand aus reinen Naturbetrachtern, Objektfanatikern, schlechten Geographen; Standpunktlosen, und antwortete: Man könne nicht inkommensurable Grössen vergleichen. Aber geistig – menschenwürdig, standpunkthaft hebelartig– ist gerade die Wertung des Inkommensurablen. Man stelle die Frage direkter, beziehungsvoller, lebenrührender: Was ist wichtiger, eine Kathedrale oder ein Menschenleben? Da stehen wir auf einmal ganz scharf ausserhalb unendlich, bloss gegebenen Materials der Natur. Jeder Mensch weiss die Antwort auf die Kathedral-Frage seines Lebens. Es ist wichtiger. Mit dieser Antwort wird die Welt von neuem geändert.

Wie tief in Wahrheit die Anständigkeit, die Kameradschaft, die Menschlichkeit im Menschen sitzt! die Entscheidung zum Werten, der Entschluss zur Rettung der Welt: Wir beantworten wirklich jene Gewissensfrage, und wir alle bejahen in ihr das Menschenleben. Auch in der unausrottbaren Hoffnung, es werde wirklich durch unsere Entschei[80] dung ein Menschenleben erhalten. Und wir geben diese Hoffnung selbst dann nicht auf, wenn wir ahnen, dass der Frager betrügerisch fragt, dass er unsere geistig ehrliche Antwort nur missbrauchen will, und dass er die Menschenleben genau so missachtet wie die Kathedralen.

Aber der Geistige darf nicht vorsichtig sein. Denn schweigen, unter dem Vorwande, das Reden könne missbraucht werden, heisst sich verleugnen, auch für den Moment, da die Stimme des Menschen aus den Leibern seiner Freunde und Kameraden hörbar wird erschallen.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 78-81.
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