Geistige Herkunft

[83] Wir sind allgegenwärtig geboren. Im Moment unserer Geburt kommen wir zu allen Menschenleben der Erde in Beziehung. Noch in diesem Moment hätten wir die ungeheuer vielfache Möglichkeit gehabt, an irgend jedem andern Punkt der Erdkugel geboren zu sein. Also eine Möglichkeit, alles zu sehen, alles zu wissen.

Was wir erreichen müssen, ist immer wieder die Besinnung auf unsere ungeübte Fähigkeit, die durch unser notwendiges Erdenleben erstickte Fähigkeit: allgegenwärtig, allsehend, allwissend zu sein. Nicht die Fähigkeit gilt es zu erlangen – das ist vorbei und unmöglich. Aber die Besinnung wiederzugewinnen,[83] dass diese Fähigkeit hätte dasein können. Die Besinnung, das heisst: die Neuschaffung eines Ersten Tages unseres Erdenlebens. Unser Tag der Geburt, wieder gezeugt zu einer Zeit, wo wir schon längst in die schmachtenden, isolierenden Beschränkungen eines Privatlebens gezwungen sind. Aber gerade das enge Bett unserer Gewohnheitsbeschränkung, in das nun die Welt unseres Neu-Adam-Seins strömt, verhilft uns zu dem herrlichsten und tiefsten Stigma des Geistes: Wir sind nicht mehr allgegenwärtig, allwissend, allsehend; doch am Tage unserer Besinnung werden wir allwollend.

Damit hat jeder von uns die Verantwortung für jeden Menschen der ganzen Mit-Erde auf sich genommen. Jeder von uns die Verantwortung für jeden andern!

Und hier wird eine alte Schiefheit zurechtgerückt, das Missverständnis von der Gleichheit aller Menschen. (Auch die treuesten Anhänger werden verlegen.)

»Gleichheit aller Menschen«, das würde ja nichts Wesentliches vom Menschen mitteilen. Die Annahme einer Gleichheit würde sofort hinter die Geburt der Menschen einen ewigen Ruhepunkt setzen. Da wäre also nicht die Aussage einer Wissenschaft (Wissenschaft wird heute nur noch von der Blüte der Schwachköpfe abgelehnt), sondern höchstens eine Klassifikation aus einer primitiven »Histoire naturelle«. Dieses Moment des ewigen, befriedigenden Stillstandes nach der Geburt – die Folge seiner Gleichheit aller Wesen –, der wäre eben in ungeheuerlicher Weise eine Angelegenheit der reinen, faktischen Natur. Und nicht im mindesten eine Angelegenheit des Geistes.

Siehe da, die Bemerkung hier ist nicht etwa eine geistreiche Spekulation, sondern eine Beobachtung: Denn bei allem Lebenden auf dieser Erde – mit Ausnahme des Menschen – besteht jene natürliche Gleichheit der Wesen, und darnach ihre[84] ewige, befriedigte Ruhe und Stille. Die werden geboren, fressen, schlafen, begatten, sterben. Fertig. Wie natürlich! Aber der Mensch, einzig, ist verknotet bis zu Schmerzen der Wut, auch bis zum masslos zustimmenden Glücksgaloppieren des Bluts mit jedem einzelnen, fremden, gleichzeitigen irgendwo dortigen Menschenwesen. Wir alle, Menschen, tragen gegenseitig unsere Verantwortung. Wie geistig! Nicht Gleichheit aller, sondern Verantwortlichkeit aller! Aber ganz anderes als die blosse Feststellung von rohen Naturtatsachen, nur vermischt durch den Gebrauch desselben Worts, ist die Forderung »Gleichheit!« Diese grosse Völkerparole ist in Wahrheit der Ruf nach Menschenähnlichkeit.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 83-85.
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