Vom Glauben

[289] Eins, spricht Jesus, ist euch noth;

Was will unser Heyl hie sagen?

Können wir durch ein Gebot

Ihm all' unsre Schuld abtragen?

Bistu, Meister, so erbötig,

Daß ein Einigs uns nur nötig

Und daß wir durch dieses Ein

Können gantz versorget seyn?


Glaube, denke, dies bist du;

Nichts und nichtig sind wir Alle,

Seit in jener selgen Ruh

Unser Vater kam zu Falle,

Dennoch, wenn wir dich nur haben,

Fehlt uns nichts an Gut und Gaben,

Und wie arm wir gehn herfür,

Glauben wir, so reich sind wir.


Wär' im höchsten Himmel was

Unsre Seele zu vergnügen,

Oder Gott selbst hätte das

Unter seinem Hertzen liegen,[289]

Würd' er solches auch auff Erden

Uns ohn Zweiffel laßen werden,

Wenn der unser Werber ist;

Glaube, denke, was du bist.


Du, du bist, der wunderbar

Jesum, eh wir sind geboren

Und dies Gantze selber war,

Hat für Aller Heyl erkoren,

Du bist, durch den wir umfaßen,

Den nicht alle Himmel laßen

Und der Fürst der Herrligkeit

Sich an unser Hertz befreit.


Du bist die geheime Sprach,

Drinnen Gott mit uns sich letzet,

Du bist, bistu noch so schwach,

Welcher große Berg' umsetzet,

Du bist die hochheilge Leiter,

Welche jener Glaubens-Streiter

An dem Himmel sahe stehn,

Drauff wir auff- und abwerts gehn.


Du warst, der den Gnaden-Schein

Über Abeln hat bewogen,

Henoch lebend Sternen-ein,

Noah in die Arch gezogen.

Du machtst Abraham zum Vater,

Du warst Josephs sein Berather,

Du gabst für Israels Noth

So viel Jahr das Himmels-Brodt.


Du warst, welcher so erfreut

Unsers Heylands theure Zeugen

Durch den Erd-Kreyß hat begleitet

Und durch kein Beschwer ließ beugen,

Aller Straffen Ungeheuer,

Hunger, Blöße, Schwerdt und Feuer

Waren ihre gröste Lust,

Glaube, denke, was du thust.
[290]

Tugend-Fürstin, Engeln gleich,

Wo du dich erwehlst zu setzen,

Setzt das gantze Tugend-Reich

Sich mit allen seinen Schätzen;

Göttlich machstu, was wir sinnen,

Reden, wirken und beginnen,

Und es wird des Höchsten Bild

Wiederum in uns erfüllt.


O, wie leicht kan so mein Geist

Auff und ab nach Willen reysen

Und da, wo sein Schöpffer speist,

Sich betränken und bespeisen,

Wachen, ruhen, lachen, schertzen;

Wo ich so bin mit dem Hertzen,

Werd' ich gantz ins Künfftig' seyn,

Glaube, dies machst du allein.


Drücket mich der Sünden Noth,

Glaub' ich, sind sie mir vergeben,

Schreckt mich Satan, Höll' und Todt,

Glaub' ich, macht mich solches leben.

Scheint der Himmel mir zu dräuen,

Glaub' ich, so kan ich mich freuen,

Und mir fehl' auch, was es sey,

Glaub' ich, fällt mir Alles bey.


Ach Herr, gib mir diesen Schatz,

Diesen Reichthum, diese Fülle,

Und mach hiedurch bey mir Platz,

Wo ich mich mit dir verhülle,

Liebster Gott, in meiner Seelen,

Die im Kerker ihrer Höhlen

Schlecht zwar wohnt, doch dir gefällt,

Wenn sie diesen Schmuck behält.


Bin ich ein zerknirschtes Rohr,

Laß es doch nicht gantz zerstoßen,

Glimm ich wie ein Tocht nur vor,

Halt ihn doch unaußgestoßen,[291]

Kan ich kaum vom Senffkorn sagen,

Werd' ich dennoch Früchte tragen

Und ein Baum des Lebens seyn,

Gibstu deine Krafft mir ein.


Ach, wie selig sind wir hier,

Mehr noch, wenn wir dorthin kommen,

Wenn du, Jesu, uns, und wir

Dich so haben eingenommen,

Nichtes ist, das dich uns raube;

Dieses macht allein der Glaube.

Glaube, denke, was du bist,

Mehr noch, was ein Gläubger ist.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 289-292.
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