Zum Neujahr 1816

[58] (Stuttgart.)


Im Schoß der Mitternacht geboren,

Worin das Kind bewußtlos lag,

Erwacht, zum Leben jetzt erkoren,

Das Jahr am ernsten Glockenschlag.

An seiner Wieg' ein Engel sitzet,

Dem vom zwiefachen Angesicht

Zwiefacher Glanz des Lebens blitzet,

Hier Abendrot, dort Morgenlicht.


Hier mit dem abendroten Blicke

Schaut er nach Westen hin und sinnt,

Zusammenfassend die Geschicke

Der Jahre, die vorüber sind:

Dort mit dem Morgenantlitz wendet

Er sich erwartungsvoll zum Ost,

Dem, was von dort die Zukunft sendet,

Entgegenblickend still getrost.


Dann, während in des Engels Mienen

Das Abendrot stets matter glüht,

Und immer heller ist erschienen

Auf ihnen, was wie Morgen sprüht;

Nimmt er das Kind aus seiner Wiegen,

Und aus des Engels Auge bricht

Die Thräne, die darein gestiegen,

Indes sein Mund zum Kindlein spricht:
[58]

O du, der jüngste jetzt der Söhne,

Die unsre Mutter Zeit gebar,

Sei mir in deiner Unschuld Schöne,

Sei mir gegrüßt, du junges Jahr!

Schon manches hab' ich aus der Wiege

Genommen und zu Grab gelegt,

Damit ans Licht ein andres stiege,

Und süße Hoffnung stets gehegt:


Die Hoffnung aller Welt und meine,

Die jedem Jahr entgegentönt,

Ob endlich einmal das erscheine,

Von welchem sei das Werk gekrönt,

Ob endlich das sei abgebrochen,

Von welchem uns erfüllet sei,

Was von den vor'gen ward versprochen?

Wenn du das bist, so sag' mir's frei.


Ich kann durch meiner Rührung Zähren

Nicht deine Züge deutlich sehn;

Ein Lächeln scheint sie zu verklären:

Sprich, soll durch dich uns Heil geschehn?

Willst du nicht wieder täuschend schwinden,

Wie vor dir deiner Brüder g'nug,

Daß wir den Glauben wieder finden,

Den uns geraubt der Zeiten Lug?


Willst du den bangen Knäul entwirren,

Der um der Menschheit Brust sich schlang,

Und lösen ird'scher Zwietracht Klirren

Auf in harmon'schen Sphärenklang?

Aufführen aus bewegten Stoffen

Den Bau, der auf sich selbst kann ruhn?

Kurz, was wir wünschen, was wir hoffen,

Ja, was wir fordern, willst du's thun?


O seligstes der Zeitenkinder,

Wenn das Geschick das Amt dir beut,

Zu sein der Ernte Garbenbinder,[59]

Die jene vor dir ausgestreut!

So wünsch' ich dir vom Himmel heuer

Den besten Sonnenschein, der frommt,

Daß in die große Völkerscheuer

Der Weizen unberegnet kommt.


So wünsch' ich, daß ein neues Leben

Der alten Erde Mark durchdringt,

Daß aus des nächsten Herbstes Reben

Uns goldnes Heil entgegen springt;

Daß bei des Jahres Brot und Weine

Frei unter offnem Himmelssaal

Die Völker feiern im Vereine

Das große Bundesabendmahl.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 58-60.
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