Sechste Stufe. Prüfung

[82] 1.

Ein König ward gefragt, was ihm das Liebste sei

An der erlangten Macht? Er sagte: »Zweierlei:

Daß ich mit Wohlthat nun die, so mein Wohl berieten,

Und meine Feinde kann mit Großmut überbieten.«


2.

Ein weiser Mann, der sich den Bart lang wachsen lassen,

Gefragt, warum er's that? sprach: »Mich daran zu fassen,

Zu fühlen dran, daß ich kein Weib sei und kein Kind,

Und Dinge nicht zu thun, die nur für beide sind.«


3.

Das Schöne stammet her vom Schonen, es ist zart

Und will behandelt sein wie Blumen edler Art;

Wie Blumen vor dem Frost und rauher Stürme Drohen

Will es geschonet sein, verschont von allem Rohen.


4.

Daß unerreichbar hoch das Vorbild alles Guten

Und Schönen ob dir steht, das sollte dich entmuten?

Ermuten sollt' es dich, ihm ewig nachzustreben;

Es steht so hoch, um dich stets höher zu erheben,


5.

Wär' es mit einem dir mißlungen oder zweien,

Du könntest sagen, daß sie schuld am Zwiespalt seien.

Da es mit mehreren, mit allen dir mißlingt,

Wie kannst du zweifeln, daß die Schuld aus dir entspringt?


6.

Der preise sein Geschick, wer irgend hat zu klagen;

Erleichtert fühle sich, wer Schweres hat zu tragen.

Denn alle sind wir hier zu Zins und Zoll verpflichtet

Dem Unglück; glücklich ist, wer ihn schon hat entrichtet.


7.

Der Welt soll man vertraun, auf sie nicht sich verlassen,

Hab' auf dich selbst Vertrau'n, wo andre dich verlassen.[83]

Und wo dein Selbstvertrau'n wie das auf Menschen bricht,

Da hab' auf Gott Vertrau'n, nur er verläßt dich nicht.


8.

Die Fehler, die zu tief dir waren angeprägt,

Sie plagen dich noch lang', wann du sie abgelegt.

Zum Vorschein kommen sie an deinen Kindern wieder,

Und durch Erziehung kämpfst du sie noch einmal nieder.


9.

Ich lehre dich, daß du auf keinen Lehrer bauest,

Auf eignen Füßen stehst, mit eignen Augen schauest.

Und wie du keinem traust, so traue mir auch nicht,

Und dieses sei der Lohn für meinen Unterricht.


10.

Sei dankbar für das Glück, das dir der Herr bestimmt

Und gib es gern zurück, wenn er es wieder nimmt.

Es ist kein Gut so groß, er hat noch größres eben

Und nimmt dir eines bloß, um andres dir zu geben.


11.

O Seele, sündigst du und denkst, Gott sieht dich nicht;

Wie ist die Blindheit groß, wie klein der Einsicht Licht!

Und sündigst du und weißt, daß es sein Blick vernahm,

Wie ist die Frechheit groß, wie klein ist deine Scham?


12.

Willst du dem Irrenden klar seinen Irrtum machen,

So sieh, von welcher Seit' er angesehn die Sachen.

Räum' ein, die Sache sei von dieser Seite wahr,

Und mach' ihm nebenbei die andern Seiten klar.


13.

Du mußt nach oben schaun, zu sehn, wieviel noch Stufen

Des Bessern übrig sind, wozu du bist berufen.

Du mußt nach unten schaun, um auch zu sehn zufrieden,

Wieviel dir Bessres schon als andern ist beschieden.


14.

Wer selber zweifelt, kann nicht fremde Zweifel heben,

Und Überzeugung nur kann Überzeugung geben.

Wenn du der Lehre nicht willst allen Nachdruck rauben,

Mußt du, zum wenigsten solang' du lehrst, dran glauben.
[84]

15.

Mit Kindern brauchst du nicht dich kindisch zu gebärden;

Wie sollen sie, wenn du ein Kind bist, Männer werden?

Als wie der Mann das Kind, liebt auch das Kind den Mann;

Nur der erzieht's, wer es zu sich heraufziehn kann.


16.

Du wünschtest wohl ein Stück der Erde dein zu nennen;

Von deinem liebsten Wunsch, o Herz, mußt du dich trennen.

Er war ein irdischer; und von der Erde gab

Zum dauernden Besitz dein Los dir nur ein Grab.


17.

Der Mensch soll alles, nur sich selber nicht, aufgeben;

Die Menschheit ist das Selbst, das soll im Menschen leben.

Aufgeben sollst du nur das Selbst, das du nicht bist,

Nicht jenes, das in dir die Menschheit selber ist.


18.

Die Wesen unter sich sind stets im Widerstreit,

Das Leben, eins in Gott, ist außer ihm entzweit.

In Gott sind wir geeint und außer ihm geschieden;

Ohn' ihn ist ew'ger Krieg und durch ihn ew'ger Frieden.


19.

Befreie deinen Geist! Dies ist dein höchster Hort,

Doch wenn du ihn befreist, denk' an des Meisters Wort,

Dies Wort: Verderblich ist, was deinen Geist befreit

Und nicht zu gleicher Frist Selbstherrschaft dir verleiht.


20.

Es ist ein wahres Wort: Wer glaubt, er wird betrogen;

Wer aber keinem glaubt, hat sich noch mehr entzogen.

Wenn niemand ihn betrügt, wenn niemand ihn beraubt;

Wie elend, wer sich stets beraubt, betrogen glaubt!


21.

Wenn du mich fragst: auf wen darf ich in Treuen baun?

Ich sage dir: »Auf die, die selber andern traun.«

Und fragst du aber, wem zu traun dir nicht gebührt?

Nur dem nicht, der im Mund stets Treu' und Glauben führt.


22.

Ihr habt euch nun einmal verliebt ins Häßliche,

Und zur Bewunderung braucht ihr das Gräßliche.[85]

Ich aber will mit Gott das Schöne lieb behalten

Und siegreich seinen Glanz auch noch der Welt entfalten.


23.

Vorgestern Hoffnungen, in Knospen eingeschlossen;

Und gestern Blütenfüll', in Duft und Glanz ergossen;

Am Boden liegen welk die Rosenblätter heut:

Das ist dein Glück, o Welt, und was ein Herz erfreut!


24.

Kein Irrtum, hinter dem nicht eine Wahrheit steht,

Kein Schatten, der nicht aus von einem Lichte geht.

Und wie der Schatten selbst dich wird zum Lichte leiten,

So auf des Irrtums Spur magst du zur Wahrheit schreiten.


25.

Des Berges Haupt ist kahl, doch fruchtbar ist sein Fuß;

Der Bach war oben schmal, breit unten ist der Fluß.

Des tröste dich, wenn du dich senken mußt, statt heben;

Je mehr es abwärts geht, je reicher wird das Leben.


26.

Wenn immer Aussicht wär' auf malerische Höh'n,

Sähst du, o Wandrer, nie die Blum' am Wege schön.

Wo Großes vor dir steht, da mußt du es betrachten;

Und wo das Große fehlt, lernst du auf Kleines achten.


27.

Versäume kein Gebet, doch das der Morgenröte

Versäume nie, weil keins dir gleichen Segen böte.

Die Engel von der Nacht, die Engel von dem Tag,

Umschweben dies Gebet mit gleichem Flügelschlag.


28.

Du mußt dich der Natur mit einem Schwung entschwingen

Und der Geschichten Flur mit einem Sprung entspringen.

Weißt du, worin Natur sich und Geschichte ründen?

Im Gottgefühle nur, das lern' in dir ergründen.


29.

Wer zweien Herren muß zugleich sein unterthan,

Dem geht es schief, als wie dem Mond auf seiner Bahn;

Der, von der Erde hier, der Sonne dort gezogen,

Beschreibt am Himmelskreis so unstet seinen Bogen.


30.

Von Aberglauben ist Unglauben stets begleitet,

Und Aberglauben hat zum Glauben oft geleitet.[86]

So im Unglauben ist der Glaube schon enthalten;

Durch Gottes Kraft geweckt, wird er sich draus entfalten.


31.

Weh dir, o Poesie, in dieser Zeit Gedränge!

Du bist nicht ernst genug der ernst gelehrten Menge;

Zu ernst der leichten Welt, die Unterhaltung sucht;

So nimmt Gelehrt und Ungelehrt vor dir die Flucht.


32.

Was nicht von Gott hebt an und sich zu Gott hin wendet,

Ist um und an mißthan, mißangefahn, mißendet.

Den Schein, etwas zu sein, mag's haben eine Frist;

Bald wird es offenbar, daß nichts es war und ist.


33.

Nicht im Gedanken laß die Wirklichkeit verschweben!

Der Himmel ist nicht da, die Erde aufzuheben.

Doch, wo hier Dunkel ist, laß Licht von dorther glänzen!

Der Himmel ist nur da, die Erde zu ergänzen.


34.

Nicht leicht vergeht ein Tag, an dem nicht was geschah,

Das herzlich mich erfreut, wenn ich es recht besah.

Wenn einer doch verging, an dem mir nichts des neuen

Erfreulichen geschehn, da muß mich altes freuen.


35.

Noch immer fand ich, wann ich ging auf neuen Wegen,

Daß mir die Förderung von selber kam entgegen,

Ein Fingerzeig, den mir am Orte, wo es not,

Ein Fremder ungesucht und unerwartet bot.


36.

Falsch, lieblos ist die Welt; doch welches Herz vom Glauben

Der Liebe lebt, läßt ihn sich von der Welt nicht rauben.

Das Gute, was du an Unwürdigen gethan,

Sei nur getrost! Gott schreibt auch das für gut dir an.

Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 82-87.
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