III.

[102] Seitdem waren acht Tage vergangen, ohne daß ich von Bacher etwas vernommen hätte. Obgleich nun eigentlich keine[102] Verpflichtung vorlag, so war es mir doch, als sollte ich nachsehen, wie er sich seit dem Verluste seines Hundes befinde. Ich machte mich daher eines Nachmittags auf den Weg nach dem Marktflecken, wo ich auch alsbald die Kanzlei des Notars ausgekundschaftet hatte. Bei meinem Eintritte war ein junger Mann mit struppigen gelben Haaren anwesend, der sehr eifrig an einem Pulte schrieb und mir auf meine Frage mitteilte, daß Bacher bereits seit drei Tagen nicht mehr in der Kanzlei erschienen sei.

»Ist er denn krank?«

»Das eben nicht«, erwiderte der Schreiber mit eigentümlichem Lächeln, »aber –«

»Nun, dann treffe ich ihn vielleicht zu Hause. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«

»Zu Hause ist er keinesfalls. Aber Sie dürften ihn wohl bei Herrn Wassertrilling finden.«

»Wer ist Herr Wassertrilling?«

»Der Kaufmann dort drüben – am äußersten Ende des Platzes.«

Ich empfahl mich und suchte sofort den bezeichneten Laden auf, an dessen Eingang ein halbwüchsiges Judenmädchen lehnte und mich mit großen schwarzen Augen ansah. Es war offenbar die Tochter des Kaufmanns, der drinnen hinter einem unordentlich vollgehäuften Ladentische stand und einigen verkommen aussehenden Männern Branntwein in kleine Gläser goß. Als er meiner ansichtig wurde, stürzte er mit dienstfertigen Bücklingen hervor und auf mich zu.

»Befindet sich Herr Bacher hier?« fragte ich äußerst zweifelhaft.

»Jawohl! Jawohl! Der Herr Doktor sind da drinnen in der Weinstube.« Dabei riß er die Tür eines Seitenverschlages auf, der mit blauem Zuckerpapier austapeziert war und aus welchem mir ein starker Fuselgeruch entgegenströmte. In diesem Raume, der mit allerlei Fässern, Gebünden und Ballen[103] angefüllt war, saß Bacher an einem Tischchen hinter einer Flasche Wein. In dem Halbdunkel, das hier herrschte, erkannte er mich nicht sogleich; als dies aber geschah, malte sich in seinem Gesichte keine sehr angenehme Überraschung, weit eher ein peinlicher Unmut. Dennoch kam er mir unterwürfig wie immer entgegen.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie hier überfalle«, sagte ich. »Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht.«

»O, Sie sind sehr gütig. Mir geht es schlecht – sehr schlecht – aber bitte, setzen Sie sich –«

Herr Wassertrilling, der hinter mir hereingekommen war, zog aus einem Winkel den erforderlichen zweiten Stuhl hervor und fragte, ob er mir Rotwein vorsetzen dürfe, was ich geschehen ließ. »Ich werde auch sofort Licht bringen lassen!« rief enteilend der Besitzer der Weinstube.

Das schien in der Tat notwendig. Es war finster wie in einem Keller, da nur durch eine kleine, in der Tür angebrachte und halb erblindete Scheibe ein matter Schimmer hereinfiel.

Nach einer Weile erschien das junge Mädchen mit einer rauchenden Petroleumlampe, stellte diese auf das wackelige Tischchen und ging dann, sich langsam in den Hüften wiegend, wieder ab.

Bacher hatte sich mittlerweile gesammelt. Er ergriff meine Hand und sagte mit einem tiefen, schweren Seufzer: »Es geht mir in der Tat sehr schlecht – schlechter, als Sie es sich vorzustellen vermögen. Ich kann ohne meinen Hund nicht leben!«

»O! O!« warf ich ein.

»Es ist so! Es ist so! Sie werden mich vielleicht verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich mit ihm alles verloren. Er allein hielt mich noch aufrecht, denn er war das einzige Wesen, das mich auf Erden geliebt hat.«

»Jedenfalls eine starke Behauptung.«

»Nichtsdestoweniger eine richtige. Doch ich will nicht ungerecht sein und eine Person ausnehmen: meine arme Mutter.[104] Ja, meine Mutter hat mich geliebt«, fuhr er nachdenklich fort, »aber in ihrer Weise. Sie wollte mich immer anders haben, als ich nun einmal war, wollte immer an mir modeln, ändern und umgestalten. Freilich nicht mit Härte und Strenge, wie mein Vater, dessen ich mich nur noch dunkel entsinne – oder mit Spott und Hohn, wie die Welt: nein, mit jener zweifelnden Angst und Vorsicht, mit jener schmerzlichen Zärtlichkeit, die der verschwiegenste und doch lauteste Vorwurf ist. Ich glaube, sie ist rein aus Kummer über mein Wesen, das sie nun einmal so und nicht anders zur Welt gebracht, gestorben; Gott habe sie selig! Und sehen Sie – das ist es: ich war nie im Leben jemandem recht. Jeder wollte mich als einen anderen sehen; jeder wollte mir raten, mich auf neue Bahnen zu lenken, und da es nicht anging, so haßten mich zuletzt alle. O, ich hatte im Laufe der Jahre so manchen Freund – und ich habe sie alle von Herzen geliebt, trotz ihrer Fehler, Mängel und Schwächen – ja sogar trotz mancher schlechten Streiche, die mir der eine oder der andere spielte. Ich nahm sie, wie sie eben waren, zufrieden mit ihren guten Seiten und Eigenschaften, die sie, wie jeder Mensch die seinigen, nebenher aufwiesen. Aber sie hielten es nicht so. Sie nörgelten an mir herum, quälten und hänselten mich und predigten gegen meine Fehler – am lautesten gegen diejenigen, welche sie selbst in erhöhtem Maße besaßen, bis es mir endlich zu toll wurde und der Bruch herbeigeführt war. Und dann die Frauen .... o die Frauen! Nie, niemals im Leben ist es mir gelungen, ein weibliches Herz zu gewinnen. Es war, als hätte das ganze Geschlecht für mich keinen Blick gehabt – als den nachträglichen der Verachtung. Und wenn es mir hin und wieder scheinen wollte, daß ich Aufmerksamkeit und wohlwollende Teilnahme errege –: in kürzester Frist, fast jedesmal schon nach dem ersten Gespräch, war es aus, wie verflogen. Eine einzige – sie ist längst tot – schien ein tieferes Gefühl für mich zu haben – aber auch sie gab mich auf und sah mich dabei mit einem Ausdruck an, als wollte sie sagen: nein,[105] es geht nicht! Und so war es auch mit meinem dichterischen Erfolg, der eigentlich schon vorüber war, eh er noch begonnen hatte; so war es in meinem Amte – mit allem und jedem – bis zu den Hunden hinab! Ja, Verehrter, bis zu den Hunden! Seit jeher habe ich diese Tiere sehr geliebt, und seit jeher ist es mein sehnlichster Wunsch gewesen, mir ein solches anhänglich zu machen. Aber vergebens! Wie viele Hunde ich auch im Laufe der Zeit zu mir nahm: keiner wollte sich an mich gewöhnen, trotz aller Zärtlichkeit, die ich aufwandte – und als ich es mit Strenge versuchen wollte, da murrten sie und bissen nach mir. Sie liefen alle fort, der eine früher, der andere später. Und nur mein Tambi war der erste, der einzige, der mich als seinen Herrn anerkannte, der nicht von meiner Seite wich – der mich liebte! O mein Tambi! Mein Tambi!« Der Schmerz übermannte ihn, und er brach, wie damals in der Dorfschenke, in Tränen aus.

Ich ließ ihn weinen. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, sagte ich: »Nun sehen Sie, Ihre Sehnsucht nach einem treuen, anhänglichen Hunde ist also doch noch befriedigt worden. Wer weiß, ob Ihnen nicht auch noch das Glück zuteil wird, einen Menschen zu finden, der Ihnen alle jene Liebe entgegenbringt, welche Sie bis jetzt in Ihrem Leben so schmerzlich vermißt und entbehrt haben.«

Er fuhr auf. »Einen Menschen!« rief er hohnlachend. »Das wäre zu spät, ich könnte eine solche Liebe nicht mehr vergelten. Um einem Menschen wirklich etwas zu sein, muß man ihm die Empfindung einflößen können, daß auch er uns wirklich etwas zu sein vermag. Und das bin ich nicht mehr imstande. Denn die Menschen sind mir längst völlig fremd und wertlos geworden – bloße Larven und Phantome!« Er fühlte gar nicht, wieviel Verletzendes für mich selbst in dieser Äußerung lag, und fuhr, rasch wieder seinen Schmerz heranziehend, fort: »Hätte ich den Hund in anderer Weise verloren, wäre er mir gestohlen worden, wäre er an einer Krankheit verendet, ich würde[106] es vielleicht in Ergebung hinnehmen und ertragen, wie ich so manches andere hingenommen und ertragen habe. Daß ich es aber selbst war, der sich um sein Liebstes gebracht, dieser Gedanke treibt mich zum Wahnsinn. Mir ist zumute wie einem Mörder. Und bin ich es nicht? Sagen Sie selbst, wer hat ihn getötet, der Adjunkt, dem er fremd war, und der ihn nur im Gefühl seiner Pflicht zu Boden streckte – oder ich, der in törichter Schwäche, in sträflichem Eigensinn die Warnung des Försters und Ihre gütigen Ermahnungen in den Wind schlug? Hätte ich Ihren Rat befolgt und den Hund an der Leine geführt – er lebte noch!«

»Nun wohl. Aber gerade in diesem Punkte liegt auch bei näherer Betrachtung eine Quelle des Trostes. Denn was Sie mir damals eingewendet, das muß ich heute in vollem Umfang anerkennen. Sie konnten Tambi in der Tat nicht beständig und zu jeder Zeit an der Leine führen. Ein einziger unbewachter Augenblick hätte monatelange Vorsicht zunichte machen und das Unglück herbeiführen können. Zudem kann der bestdressierte Hund hin und wieder bei besonderen Gelegenheiten in seinen Instinkt zurückfallen. Also überspannen Sie Ihre Selbstanklage nicht. Der Übelstand lag in den Verhältnissen selbst. Denn hier, wo das Wild gehegt und gepflegt wird, ist es jedermann, der nicht selbst Förster oder Jäger ist, auf die Dauer unmöglich, einen Hund zu halten, der nur den geringsten Jagdtrieb besitzt. In einer Stadt hätten Sie sich ruhig Ihres Besitzes freuen können; in dieser Gegend ging es nicht an. Dies müssen Sie ins Auge fassen, müssen die Notwendigkeit des Geschehenen erkennen, dann wird sich Ihr Schmerz mehr und mehr beruhigen – und zuletzt werden Sie auch vergessen.«

»Vergessen? Niemals! Da müßte ich fort von hier – weit fort! Und wie kann ich das? O, ich weiß ohnehin nicht mehr, wie ich hier leben soll, wo mich alles, alles an meinen Verlust mahnt, wo ich nicht einen Odemzug tun kann, ohne die Erinnerung mit einzuatmen. Wenn ich des Morgens aus wüstem[107] Halbschlummer erwache, dann fällt mein Blick sofort auf den Stuhl, der an meinem Bette steht und wo Tambi zu schlafen pflegte. In der Kanzlei kann ich nicht drei Zeilen schreiben, ohne unter den Tisch zu sehen; denn dort lag stets Tambi lautlos an meine Füße geschmiegt. Geh ich ins Freie, so sehe ich ihn auf jeder Wiese, auf jedem Acker laufen, hinter jedem Busche hervorspringen. Ich kann nicht essen, ohne an das bescheidene Teil zu denken, das für ihn abfiel, und so bleibt mir der Bissen im Halse stecken. Das ist auch der Grund, weshalb ich die Gastwirtschaften, sowie alle anderen Orte meide, wo ich einmal mit ihm gewesen bin – und nur in dieser Spelunke kann ich es aushalten, denn ich habe sie früher niemals betreten. Hier verbringe ich nun meine Tage – und suche meinen Schmerz in elendem Wein zu ertränken!«

Er leerte hastig ein Glas von der trüben roten Flüssigkeit, die noch eine weit schärfere Verurteilung verdiente. Es war ein wahrer Gifttrank; die reinste Mischung von Spiritus und Fuchsin.

»Und dann nachts! nachts!« fuhr er fort. »O, Sie glauben nicht, was ich da erdulde! Ich hätte ihn nicht ansehen sollen, wie er in seinem Blute lag. Nun kann ich das entsetzliche Bild in der dunklen, unheimlichen Stille nicht mehr vor den Augen wegbringen. Ich leide an einer förmlichen Gespensterfurcht. Und doch wäre es wieder mein heißester Wunsch, daß er mir erschiene – und an meinem Bette hinaufspränge ......«

Ich gestehe, daß mir bei dem allem höchst peinlich zumute wurde. Das war kein entlastendes Sich-Aussprechen wie damals: ich befand mich einem Menschen gegenüber, der sich, durch meine Gegenwart angestachelt, immer tiefer in seine Verstörung hineinarbeitete. Ich sagte daher. »Lieber Freund, ich sehe mit Bedauern, daß ich Ihnen bei aller Teilnahme weder Trost noch Hilfe bringen kann. Ihr Zustand ist ein krankhaft überreizter, für den es nur einen Arzt gibt: Ihren eigenen festen Willen, sich um jeden Preis aus dieser qualvollen und[108] verderblichen Gemütsverfassung zu befreien. Dies gebe ich Ihnen zu bedenken. Sie haben schon so vieles überwunden – seien Sie noch einmal stark!«

Er schwieg und schien einen Augenblick freier aufzuatmen; aber er versank sofort wieder in sich. »Eben weil ich schon so vieles überwunden habe, kann ich es jetzt nicht mehr«, sagte er dumpf.

Ich hatte inzwischen nach der Uhr gesehen. »Sie wollen schon fort?« fragte er in einem Tone, der mir bewies, daß er nichts dagegen habe.

»Jawohl; es ist Zeit.«

»Wenn Sie erlauben, werde ich Sie ein Stück begleiten«, sagte er, indem er mir Hut und Stock reichte.

»Das wird mir sehr angenehm sein.«

Draußen im Laden bezahlte ich Herrn Wassertrilling den ungenossenen Rotwein; dann gingen wir durch den Ort und bogen in die Landstraße ein.

Der Himmel war finster. Ein leichter Wind strich durch die entlaubten Wipfel der hohen Pappeln, die sich rechts und links hinzogen; aus der Ferne schimmerten uns vereinzelte trübe Lichter entgegen.

Bei einer Martersäule, die mit ihrem weißen Anstrich aus dem Dunkel hervorleuchtete, blieb Bacher stehen. »Hier kehre ich um«, sagte er.

»Leben Sie wohl – und gedenken Sie meiner Worte.«

Er erwiderte nichts und zuckte seufzend mit den Achseln.

Bald war er hinter mir verschwunden, und ich schritt allein durch die Nacht.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 8, Leipzig [1908], S. 102-109.
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