IV.

[88] Seitdem war ein Jahr verflossen und ich selbst noch immer nicht nach Wien zurückgekehrt. Allerlei hatte mich fern gehalten, und als mich jetzt doch sine wichtige Angelegenheit zwang, die Stadt an der Donau aufzusuchen, geschah dies mit dem festen Vorsatze, sie so bald wie nur irgend möglich wieder zu verlassen.

Inzwischen war aber die Internationale Revue wirklich[88] erschienen, und zwar unter der Ägide jenes Verlegers, den mir Z. damals namhaft gemacht hatte. An pomphaften Ankündigungen, Prospekten und sonstigen Reklamen war nichts gespart worden; auch eine lange Liste von Mitarbeitern hatte man veröffentlicht: aber schon die ersten Hefte ließen vermuten, daß sich das Unternehmen nicht würde halten können. Sie brachten – allerdings von namhaften Autoren – unbedeutende Sächelchen: Novelletten, Skizzen und flüchtige literarische Essays, wie sie jetzt, sich vorwiegend an rein Persönliches haltend, anfingen Mode zu werden. Den größten Raum nahmen sogenannte »Korrespondenzen« aus allen Hauptstädten ein, hastig hingeworfene Theater- und Kunstberichte. Kurz: ein Sammelsurium, aus welchem man nichts nur einigermaßen Wertvolles hätte herausgreifen können. Das wurde mir nun gleich bei meinem Eintreffen von allen Seiten bestätigt. Die Zeitschrift werde bald eingehen, hieß es; der Verleger stehe bereits vor dem Konkurse; der Herausgeber befinde sich in Nöten aller Art. Zudem sei er eigentlich nur dem Namen nach der Leiter, denn nicht bloß seine geistige, sondern auch seine physische Kraft sei gebrochen; nur seine Frau, eine begabte Person, ehemalige Schauspielerin, halte das Ganze noch mühsam aufrecht. Dies alles ließ mir ein Zusammentreffen mit dem armen Z. nicht wünschenswert erscheinen, und mir bangte vor dem Augenblick, der ein solches unvermeidlich machen könnte.

Aber es dauerte nicht acht Tage, als ich schon eines Morgens durch die Post einen Brief empfing, der in zwar festen und weitläufigen, aber doch krausen und verworrenen Schriftzügen folgendes enthielt:

»Lieber alter Freund! Von fremden Leuten mußte ich erfahren, daß Du in Wien bist. Du findest es also nicht der Mühe wert, Deine ältesten Bekannten aufzusuchen. Nun, so richte ich die Bitte an Dich, so bald wie möglich bei uns – oder besser gesagt, bei mir vorzusprechen. Am besten zwischen 11 und 1 Uhr, um welche Zeit Z. sich im Redaktionsbureau befindet.[89] Wir sind also ungestört und können eingehend über eine Angelegenheit verhandeln, welche Dir vertrauensvoll vortragen wird Deine alte Nina.« Die Adresse war beigefügt; dann der Nachsatz: »Komm' aber gewiß!«

Was war da zu tun? Ich machte mich also schon am nächsten Vormittage auf den Weg. Die Adresse leitete nach einer neuen Gasse des dritten Bezirkes. Ich stieg vier Treppen hoch und drückte an dem Klingelknopfe der durch den Namen kenntlich gemachten Tür. Eine schlumpige Magd, die mich erst forschend durch ein Lugfensterchen betrachtet hatte, öffnete und sagte, da ich meine Karte übergeben wollte: »Nicht notwendig; die Gnädige ist zu Hause.« Und schon kam mir aus der nächsten Tür Nina halb entgegen und ließ mich in ein geräumiges, aber kahles und unwohnliches Zimmer treten.

»Ich danke dir, daß du gekommen bist«, sagte sie, mir die Hand entgegenstreckend, welche, wie sie selbst, auffallend schlanker geworden war. »Nimm Platz.« Sie wies nach einer blauen Ripsgarnitur, welche ziemlich neu, aber auch schon schadhaft aussah, denn von den weißen Porzellanknöpfen der Einfassung waren schon mehrere abgesprungen.

Sie setzte sich nun an meine Seite, und ich wunderte mich, wie vorteilhaft sie aussah. Keine Spur mehr von jenem frivol- und komödiantenhaft vernachlässigten Äußeren, das sie damals an der Bahn zur Schau getragen hatte; vielmehr war jetzt ihre ganze Erscheinung von einer gewissen Vornehmheit. Ein einfaches, knappanliegendes dunkles Kleid hob ihren immer noch vollen, aber geschmeidigen Wuchs anmutig hervor. Das Haar trug sie schlicht gescheitelt und rückwärts in einen dichten Knoten zusammengewunden. Nicht das geringste Anzeichen des Alterns war in ihrem glatten Gesichte wahrzunehmen; sie konnte freilich auch erst fünf- oder sechsunddreißig Jahre zählen.

»Also noch einmal meinen Dank«, begann sie jetzt rasch, wie geschäftsmäßig. »Fürs erste habe ich dir folgendes zu sagen. Es wird außer dir nur noch sehr wenige Menschen in Wien geben,[90] welche meine Vergangenheit kennen. Ich erwarte von dir, daß du mich in dieser Hinsicht nicht bloßstellen wirst.«

»Diese Bemerkung ist ganz überflüssig«, erwiderte ich. »Du kannst dir wohl denken –«

»Gewiß, gewiß; ich kenne dich. Es mußte aber dennoch ausdrücklich betont werden. Nun darfst du nicht etwa glauben, daß ich mich auf die Heilige hinausspielen und meine Vergangenheit verleugnen will. Das habe ich als gewesene Schauspielerin auch gar nicht notwendig. Ich möchte nur nicht, weißt du, daß man das Ärgste –«

»Du kannst vollständig beruhigt sein.«

»Der Welt wegen, auch mein Mann darf nicht mehr erfahren, als ihm bereits bekannt ist; denn das würde seine Liebe zu mir nur noch steigern.«

»Wie? – Aber dagegen hättest du doch nichts?«

»O ja! Seine Zärtlichkeiten grenzen ohnehin schon an Wahnsinn. Er ist eine durchaus krankhafte Natur, die mir Ekel einflößt – seit jeher Ekel eingeflößt hat.«

»Aber wie konntest du ihn dann –«

»Heiraten meinst du? Nun, ich wollte 'mal auch das probieren. Es war ein dummer Streich; hoffentlich mein erster und letzter. Und dann: ich hatte das Komödiespielen schon satt. An größeren Bühnen könnt' ich kein Engagement finden – und sich beständig auf kleinen Bühnen herumzuschlagen, ist ein trostloses Vergnügen. Und nun gar da draußen im Reich, wo die Leute unglaublich geschmacklos sind. Ein Publikum aus Pappendeckel, sage ich dir, innen dick mit Sittlichkeit ausgefüttert, und außen mit einem gleichmäßigen Bildungslack überzogen. Man kann nach keiner Seite hin Eindruck machen. Dazu das Repertoire! Goethe und Schiller, Schiller und Goethe; dazwischen Roderich Benedix und Charlotte Birch-Pfeiffer, hin und wieder auch ein unglücklicher neuer Klassiker wie Paul Heyse – es war zum Auswachsen. Da kam er nach D ..., wo ich eben engagiert war. Er hatte nach langem Hin- und Herschreiben endlich unseren[91] ledernen Intendanten bewogen, eines seiner Stücke zu bringen, mit welchen er das deutsche Drama regenerieren wollte. Tolles Zeug; aber es imponierte uns allen – am meisten mir; denn es war doch wenigstens nichts alltägliches. Zudem war er ein berühmter Mann – oder schien es wenigstens zu sein. Die kleine Stadt war bei seinem Erscheinen in Aufruhr; die Aufführung war ein bevorstehendes Ereignis; man sprach von nichts anderem. Mir war die weibliche Hauptrolle zugedacht – und während er sie mir einstudierte, verliebte er sich in mich. Wir setzten beide große Erwartungen in den Erfolg – der aber nur in eine allgemeine Entrüstung ausschlug. Am meisten entrüstet aber waren wir – und in dieser Stimmung war es ihm um so leichter, mich zum Austritt zu bestimmen, da mein Kontrakt ohnehin zu Ende ging. Aber wir sollten als Mann und Frau auf seine Stücke reisen, die er immer noch durchzusetzen hoffte; er wollte nebenbei öffentliche Vorlesungen halten. Auf große Theater war nicht zu rechnen; sie sollten aber von den kleinen, bei denen wir jetzt die Runde machten, nachgezogen werden. So gelangten wir sogar bis nach Temesvar – wo wir glücklich ausgepfiffen wurden. Nun gab er es auf, der Messias des Dramas zu werden, was zu glauben – ich will es gestehen – ich anfangs selbst dumm genug gewesen. Nun aber redete er sich ein, er müsse den Roman der Zukunft schreiben, entwarf die ungeheuerlichsten Pläne – aber du hast es ja damals selbst gehört.«

Wie wahr, wie zutreffend war das alles! Und doch, wie tief verletzte es mich, daß gerade sie es aussprach. Sie hätte trotzdem noch immer einige Achtung für seine geistigen Anstrengungen – zum mindesten Mitleid mit ihm fühlen sollen.

»Du bist grausam«, sagte ich. »Diese Art von deinem Manne zu sprechen hat etwas Empörendes. Mag er nun sein, wie er wolle: er war ein großes, ein einziges Talent, ein bedeutend angelegter Mensch – und der Himmel weiß, auf welche Art –«[92]

»Auf welche Art?« unterbrach sie mich. »Durch ausschweifendes Leben und Überarbeitung. Bedeutend angelegt, sagst du? Nein, mein Lieber, er ist ein durch und durch verlogener Kerl, der sich nicht eingestehen will, daß er fertig ist – ganz fertig.«

Ich wollte erwidern, aber ich vermochte es nicht; ich war wie erstarrt. Dieses Weib warf dem Ärmsten ausschweifendes Leben und Verlogenheit vor!

»Darum hat er auch die Revue gegründet, wo er andere für sich arbeiten lassen kann. Es war der Instinkt der Selbsterhaltung, der ihn dazu trieb. Somit lag einige Vernunft in der Sache, und wenn ich mich ihrer annahm, konnte sie vielleicht soweit rentieren, daß sie uns das Leben sicherte. Wir standen ja bereits vor dem Nichts. Und da wäre ich nun eigentlich bei dem Hauptpunkte unserer Unterredung angelangt.«

Sie lehnte sich einen Augenblick schweigend zurück, dann fuhr sie fort: »Du wirst wohl schon vernommen haben, daß das Unternehmen, eigentlich erst im Entstehen begriffen, auch schon dem Zusammenbruche nahe ist. Ganz so schlimm aber, wie es den Anschein hat, stehen die Dinge doch nicht. Die Idee halte ich noch immer für eine glückliche. Sie lag gewissermaßen in der Luft, und wenn wir sie, kaum erfaßt, wieder fallen lassen müssen, dann wird sie von stärkerer Hand neuerdings aufgegriffen werden. Und darum handelt es sich. Wir haben ohne alle Geldmittel begonnen, bloß auf einen windigen Schlucker von Verleger gestützt. Wir konnten keinen rechten Vertrieb zustande bringen, konnten keine verlockenden Honorare bieten und mußten uns sozusagen mit Abfällen begnügen. Das könnte ganz anders werden, wenn uns eine beträchtliche Geldsumme – etwa dreißig bis vierzig Tausend zur Verfügung gestellt würden. Diese Summe aber sollst du uns schaffen.«

»Ich!?«

»Ja, du. Denn du besitzest, wie ich erfahren habe, ausgebreitete Bekanntschaften, vornehme Gönner und Freunde; darunter auch einige aus den hohen Finanzkreisen. Es müßte dir also[93] bei einigem guten Willen gar nicht schwer werden, die Leute zu bestimmen, uns ein Betriebskapital vorzuschießen, das ihnen ja verzinst werden kann; auch du hättest dann einen Anteil an dem voraussichtlichen Gewinn zu erwarten.«

Ich hatte mich inzwischen von meinem unangenehmen Erstaunen einigermaßen erholt und nunmehr auch ganz gefaßt.

»Nein,« sagte ich entschieden, »das geht durchaus nicht an. Erstens bist du über die Stellung, die ich in der Gesellschaft einnehme – oder einzunehmen scheine, übel berichtet. Vor allem aber überschätzest du weit den Einfluß, den ich auf gewisse Persönlichkeiten nehmen könnte. Und selbst wenn ich –«

»Ich verstehe«, unterbrach sie mich, die Brauen in böse Falten ziehend. »Du traust uns nicht zu, daß wir trotzdem die Sache in Schwung bringen könnten. Und was Z. betrifft, so hast du ja vollkommen recht. Auch ich will dir zugestehen, daß ich selbst, obgleich ich im Laufe der Zeit mehr Einblick in solche Dinge gewonnen habe, als du dir vorstellst – daß ich selbst, sage ich, der Leitung nicht gewachsen wäre. Aber wir haben einen jungen Mann kennen gelernt, einen Russen – oder eigentlich Polen, der als Korrespondent mehrerer ausländischer Blätter seit kurzem hier lebt. Ein höchst begabter Mensch, der alle Sprachen spricht und schreibt und bei seinen fast über die ganze Welt verbreiteten Beziehungen wie geschaffen erscheint, an die Spitze der Revue zu treten. Jedenfalls bitte ich dich, eh' du entschieden ablehnst, die Angelegenheit mit ihm durchzusprechen. Es wundert mich, daß er noch nicht hier ist; denn ich habe ihn, auf dein Erscheinen rechnend, gebeten, heute und auch an den nächsten Vormittagen nachzusehen.«

In diesem Augenblicke ertönte draußen leicht und sanft die Klingel.

»Da ist er«, rief sie, nach der Tür blickend, und ihr Alabastergesicht wurde plötzlich von einem rosigen Schein durchleuchtet. Sie war errötet.

Und nun erschien auch schon der Erwartete, beim Eintreten[94] aus kleinen schwarzen Augen einen lauernden Blick durch die Türspalte werfend. Als er mich gewahrte, nahmen seine Züge den Ausdruck würdevollen Ernstes an, der sofort in ein überfreundliches Grinsen überging, als uns Nina jetzt gegenseitig vorstellte. Er war von schlankem, sehr zierlichem Wuchse, und seine zarten Füße standen etwas nach einwärts gerichtet. Mit sorgfältiger, aber fadenscheiniger Eleganz gekleidet, trug er die Rosette irgend eines Ordens im Knopfloch.

»Da haben Sie nun unsern alten Freund, lieber Glensky«, sagte Nina. »Setzen Sie ihm den Kopf zurecht, denn er will von unserem Vorschlage nichts wissen.«

Glensky, der sich sachte niedergelassen hatte, rückte an seinem Kneifer und sah mich mit wohlwollendem Lächeln an.

»Nun, ich begreife recht wohl, verehrter Herr,« begann er mit weicher, süßlicher Stimme, »daß Sie uns nicht so ohne weiters Ihre Unterstützung –«

»Die durchaus nicht in meiner Macht steht«, unterbrach ich ihn. »Das muß ich auch Ihnen wiederholen. Sie sind noch nicht lange in Wien, kennen also die hiesigen Verhältnisse nicht so genau, wie ich. Meiner Überzeugung nach werden Sie hier von keiner Seite Unterstützung finden.«

»Sie mögen recht haben,« erwiderte er, indem er seinen hübschen Kopf traurig beipflichtend senkte; »es ist noch sehr viel Phäakentum im Lande. Ich gestehe, daß mir selbst Zweifel gekommen waren. Ich betrachte daher Ihre Ablehnung als einen Wink des Schicksals. Überdies habe ich heute Morgen eine Nachricht erhalten, welche mich hoffen läßt, das Unternehmen auf einen anderen Boden verpflanzen zu können.«

Nina sah ihn überrascht an.

»Ja, meine Gnädige,« fuhr er ehrfurchtsvoll gegen sie gewendet fort, »ich habe eine ganz außerordentliche Nachricht erhalten, die ich Ihnen später mitteilen werde. Ich war schon seit längerem darauf vorbereitet und habe ihr mit Spannung entgegengesehen. Da aber die Sache denn doch noch im Ungewissen[95] schwebte, so habe ich selbst Ihnen gegenüber nichts davon erwähnt.«

Ich sah nach meiner Uhr. »Die Zeit drängt mich«, sagte ich, mich erhebend. »Und da ich nunmehr ohnehin überflüssig geworden bin, so werde ich mich empfehlen.«

»Du bleibst doch jetzt in Wien?« fragte Nina, die in sichtlicher Aufregung und offenbar froh war, daß ich aufbrach.

»Nein, im Gegenteil. Ich reise schon in den nächsten Tagen wieder ab.«

»Da sieht man dich wohl kaum mehr?«

»Die Zeit dürfte es nicht gestatten. Am besten also, ich nehme gleich Abschied, und bitte auch, deinem Gemahl –«

»Werd' es bestellen. Und was wir da verhandelt haben –«

»Bleibt selbstverständlich Geheimnis.«

»Nun, so leb' wohl«, sagte sie kurz und reichte mir die Hand hin, die ich, wie die Glenskys, der sie mir angelegentlich entgegenstreckte, drücken mußte.

Ich atmete auf, als sich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, und wie beflügelt eilte ich die Treppe hinunter, im Innersten froh, daß mir der Anblick des armen Z. erspart geblieben. Aber es sollte nicht sein. Denn schon im nächsten Augenblick kam er das erste Stockwerk heraufgekeucht, ein dickes Seidentuch als Schutz gegen die herbstliche Kühle um den Hals gewunden, den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er stutzte, als er mich wahrnahm, blieb stehen und blickte mich mit blöden, verglasten Augen an.

»Sie – ah, Sie –« rief er endlich, leicht mit der Zunge anstoßend. »Sie waren bei mir? Haben mich nicht getroffen? Aber doch mit meiner Frau gesprochen?«

Ich bejahte.

»Schön. Komm Sie doch wieder mit mir hinauf. Bin etwas früher als sonst frei geworden und bleibe jetzt zu Hause. Sie können mit uns speisen.«

»Bedaure sehr, aber – – ich werde ein andermal –«[96]

»Schön. Aber kommen Sie bald! Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen. Über meine Revue. Es gibt einige Schwierigkeiten. Aber ich werde sie überwinden! Werde sie überwinden!« Er hatte offenbar keine Ahnung von dem Vorschlag, den mir Nina gemacht.

»Ich gratuliere.«

»Danke. Aber wie es hier zieht auf der Treppe! Vergessen Sie nicht. Kommen Sie bald! Auf Wiedersehen!« Und damit stürmte er, sein Halstuch fester zusammenziehend, die Treppe hinauf – wie seinem Schicksal entgegen.


* * *


Und sein Schicksal vollzog sich auch wenige Wochen nach meiner Abreise. Der Verleger meldete den Konkurs an; die Revue hörte zu erscheinen auf. Nina aber verschwand mit Herrn Glensky; niemand wußte, wohin. Sie hatte ihren Gatten krank, hilflos wie ein Kind, nur mit einer notdürftigen Geldsumme versehen, zurückgelassen. Anfangs versuchte der Unglückselige, sich und anderen einzureden, die beiden hätten im Interesse der Revue eine gemeinschaftliche Geschäftsreise gemacht. Aber die entsetzliche Gewißheit, daß ihn seine geliebte Ninoche treulos – und für immer verlassen hatte, drängte sich ihm stets überzeugender auf und brachte endlich das Gehirnleiden, dessen deutliche Anzeichen man schon lange an ihm bemerkt haben wollte, zum Ausbruch. Zur Nachtzeit in Tobsucht verfallend, unternahm er einen Selbstmordversuch, der nicht vollständig gelang. Man brachte ihn in eine Privatheilanstalt, wo er, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben, am nächsten Tage verschied. Die Schriftsteller Wiens beteiligten sich sehr zahlreich an seinem Leichenbegängnisse, und ein prachtvoller Lorbeerkranz lag auf dem Sarge. Man ehrte den Tod.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 88-97.
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