V.

[97] Zu den eigentümlichsten Künstlernaturen, die mir in meinem Leben begegnet waren, gehörte ein Maler, dessen Name eigentlich erst mit seinem Tode allgemein bekannt geworden ist, obgleich sein Ruhm schon lange vorher im Verborgenen geblüht hatte. Mit seinen Anfängen noch in die ältere Wiener Schule zurückreichend, war dieser »große Kleinmaler«, wie man ihn zuletzt nannte, als junger Mann durch widrige Lebensumstände aus seiner Laufbahn gedrängt worden, und als er sie später wieder ergriff, hatte er mit großen Schwierigkeiten, inneren sowohl wie äußeren, zu kämpfen: man wollte ihn eben längere Zeit hindurch nicht mehr für voll anerkennen. Während des raschen wirtschaftlichen Aufschwunges jedoch, welcher in dem sogenannten »Krach« endigte, wurden auch seine Bilder in Betracht gezogen, und wenn sie auch damals nicht gerade in die »Mode« kamen, so trachtete doch jeder feinere, oder für sein gelten wollende Kenner und Kunstfreund ein solches Kabinettsstück zu erwerben, infolgedessen sich der in stiller Zurückgezogenheit lebende Künstler plötzlich mit Aufträgen überschüttet fand. Da er aber gewohnt war, bedächtig aus seinem Inneren heraus zu schaffen, so konnte oder wollte er nur den wenigsten dieser Anforderungen gerecht werden, und sah sich bald wieder beiseite liegen gelassen und allmählich in seine frühere Verborgenheit zurücksinken.

Er bewohnte in einer entlegenen Vorstadt ein kleines Haus, das gegenwärtig verschwunden ist; ein wenig gepflegtes Gärtchen stieß daran, und das schmucklose, um nicht zu sagen dürftige Atelier bildete einen schroffen Gegensatz zu den stilvollen, mit Kunstschätzen aller Art ausgestatteten Prachträumen, in welchen gleichzeitige Meister ihre sensationellen Bilder zutage förderten. Und doch gingen aus dieser schlichten Behausung jene echten Perlen der Malerkunst hervor, die jetzt von ihren Besitzern als intimste Schätze gehütet werden und an welchen reiche Sammler jeden Pinselstrich mit Gold aufwiegen.[98]

Mit zunehmenden Jahren hatte er zu kränkeln angefangen und verbrachte daher den Winter meistens im Süden; auch Paris besuchte er hin und wieder, wo er dann stets eine Zeitlang verweilte. Den Sommer aber pflegte er regelmäßig in Wien zuzubringen, das er mit der treuen Anhänglichkeit eines alten Eingeborenen liebte und wo er, vom frühen Morgen bis zur einbrechenden Dunkelheit tätig, die in der Ferne gewonnenen Studien und Entwürfe ausführte. Dann besuchte ich ihn zuweilen; denn obgleich ich mit ihm nicht eigentlich befreundet war, so gehörte ich doch zu den wenigen, mit welchen er nicht ungern verkehrte.

Eines Tages – es war im Juni und die Rosen seines Gartens standen schon in der Blüte – hatte ich mich wieder zu ihm begeben. Er war gerade aus Paris eingetroffen und hatte mir nun vieles von der Weltstadt an der Seine zu erzählen. Vor allem besprach er die dortigen neuen Kunstströmungen, die ihn begreiflicherweise sehr interessierten; nebenbei aber auch das gesellschaftliche Leben, die Umtriebe der politischen Parteien und das Gehaben der Anarchisten. Schließlich reichte er mir einen großen Pack Photographien, die er mitgebracht hatte, zur Durchsicht hin. Es war ein buntes, reichhaltiges Durcheinander: Ansichten öffentlicher Gebäude und Plätze, Porträts berühmter oder berüchtigter Persönlichkeiten; darunter auch die beiden jüngsten Toten: Prinz Lou-Lou und der Ex-Diktator Gambetta. Aufnahmen von modernsten Bildern waren gleichfalls zu sehen. Eines davon stellte ein kostbares, äußerst raffiniert zusammengestelltes Interieur dar, in dessen Hintergrunde eine ganz weiß gekleidete Dame gleichsam an die Wand gedrückt stand, während sich die endlose Schleppe ihres Kleides, nach vorwärts gewendet, über den ganzen Boden hinweg dem Beschauer entgegenstreckte. Die weibliche Gestalt frappierte mich, und nachdem ich sie durch eine bereitgelegte große Lupe aufmerksam betrachtet hatte, rief ich aus: »Seh' ich recht? Das ist ja –«[99]

»Kennen Sie die auch?« fragte der Maler lächelnd.

»Das heißt, ich glaube sie zu kennen. Ist es nicht die ehemalige Frau des armen Z.?«

»Wer ist Z.?«

Er hatte den Schriften des Verstorbenen wohl niemals Aufmerksamkeit geschenkt, und ich suchte ihn jetzt aufzuklären.

»Ach ja,« sagte er, »nun entsinne ich mich. Ob sie aber seine Frau war, könnte ich trotzdem nicht sagen. Jetzt ist sie – oder gilt sie wenigstens für die Frau eines gewissen Glensky, der in Paris ein großes Zeitungsunternehmen betreibt; eine Art Weltkorrespondenz und Übersetzungsbureau.«

»Also doch!«

»Sie leben auf sehr großem Fuße und halten offenes Haus. In ihrem Salon wimmelt eine foule von Menschen durcheinander. Streber von allen Farben und Abzeichen: Künstler und Schriftsteller, Deputierte und finanzielle Roturiers, wie sie der Tag hebt und stürzt. Mich hat einmal ein junger Maler dorthin mitgenommen; man kann kommen und gehen nach Belieben – und bei den Diners und Soupers soll der Champagner in Strömen fließen. Übrigens glaube ich nicht, daß das literarische Unternehmen, so weitläufig es angelegt sein mag, die Kosten deckt. Ich halte vielmehr diesen Herrn Glensky für einen Agenten Rußlands – oder gerade herausgesagt, für einen politischen Spion.«

»Das wäre wohl möglich«, sagte ich. »Nun, und sie

»Ist ganz dazu angetan, um ihn als Weib zu unterstützen. Im übrigen ist sie eine ›lionne‹, der von allen Seiten gehuldigt wird. Es ist auch schon, wie das in Frankreich nicht anders geht, ihretwegen zu einem Duell gekommen – zwischen zwei Anbetern natürlich. Sie hat den Leuten seit jeher die Köpfe verrückt.«

»Kannten Sie sie denn schon früher?«

»Freilich. Sie war ja in ihrer ersten, ganz verwahrlosten Jugend die Geliebte eines meiner Kollegen, der unlängst in[100] sehr dürftigen Verhältnissen gestorben ist. Das war ein äußerst sentimentaler Mensch, der in ihr ein Opfer der menschlichen Gesellschaft sah und die arme Gefallene zu erheben trachtete, indem er sie heiraten wollte. Aber sie trieb nur ihr Unwesen mit ihm, quälte ihn bei Tag – und lief nachts in die Kasernen.«

»Dort habe ich sie kennen gelernt.«

»Wie? Sie kannten sie auch schon damals?«

»Gewiß; wir kannten sie alle.«

»Mir wollte sie gleichfalls auf die Bude rücken: Aber Sie wissen, daß ich zu meinen Bildern keine weiblichen Modelle brauche, wenigstens keine solchen. Ich ließ sie ablaufen, indem ich mich auf den Blöden hinausspielte; denn das Ding war mir in tiefster Seele zuwider. Sie mußte das auch gleich weg gehabt haben, denn sie kam nicht wieder. Inzwischen aber hatte sie mich ganz und gar vergessen, denn ich konnte deutlich merken, daß sie mich nicht mehr erkannte, als ich ihr in ihrem Salon, freilich flüchtig genug, vorgestellt wurde. Mir aber gelang es kaum, meine Überraschung zu verbergen, so wenig hat sie sich eigentlich seit jener Zeit verändert. Stärker ist sie freilich geworden; aber sie hat noch fast ganz das eigentümlich verzeichnete Gesicht von früher.«

»Sie muß doch schon über die Vierzig sein.«

»Nun, das ist ja gerade das rechte Alter für Paris, wo man den Hautgout und die Erfahrung der Überreife zu schätzen weiß. Und außerdem: sie betrinkt sich.«

»Was?«

»Ja, elle se grise, wie man dort sagt. Mit Champagner natürlich. Und das versetzt nun die Leute in das höchste Entzücken. Denn da treten auch ihre besondersten Reize hervor. Sie fängt zu deklamieren an; erst französisch, dann deutsch – um endlich zu den gemeinsten Wiener Liedern herabzusinken, weshalb man sie auch la belle Viennoise nennt. Den Text versteht natürlich niemand, die Gebärden jeder. Dann aber[101] wird sie plötzlich wild, fängt zu fluchen und drohen an – schleudert die Champagnerkelche an die Wand, daß die Splitter umherfliegen, und schwört, daß sie sich, falls die Kommune wieder erstehe, den Pertoleusen anschließen werde. Geben Sie acht«, fuhr er mit humoristischen Behagem fort, »die spielt noch einmal eine Rolle. Vielleicht als Maitresse irgend eines zweiten Gambetta, oder Rochefort – oder eines anderen Bontoux. Kann auch sein, daß sie wirklich einmal mithilft, Paris in Brand zu stecken.«

»Nun, wer weiß«, sagte ich, unwillkürlich seinen spielenden Gedanken folgend. »Gottes Wege sind wunderbar – noch wunderbarer jedoch die der Frauen.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 97-102.
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