Der Jubilar im Neckartal

[112] (zum 5. November 1873).


Das war ein schmucker Pfarrvikar,

Alt Wertheims Sohn und Zierde,

Als man ihn heut vor fünfzig Jahr'

Zum Kirchdienst ordinierte.

Er diente ihr, wie Gott ihn schuf,

Mit reichen Geistesgaben

Und hat, getreu dem Lehrberuf,

Sein Pfund nicht leer vergraben.


Wie er sich hielt zu seinem Amt

Bezeugt ihm die Gemeinde,

Er hat geflucht nicht, noch verdammt,

Und keinen Mann zum Feinde.

Ihn hieß sein klarer Forschergeist

Des Schöpfers Allmacht ehren

Und was die Schöpfung Wunder weist,

Erkennen und erklären.


Begann des langen Winters Macht

Durchs Neckartal zu dunkeln,

Sah oft der Schiffer durch die Nacht

Des Pfarrhofs Lämplein funkeln:[112]

Er war's, der einsam übersaß,

Den Kosmos zu erlernen,

Und was er nicht in Büchern las,

Das las er in den Sternen!


Doch frühlings, wenn das Maikraut blüht,

Da ging er zu den Sängern

Und sang manch lustig pfälzisch Lied

Zu Heidelberg im Engern.

Zum Krittler, dem's zu lustig war,

Sprach er: »Was kritisieren?

Ich werd' ja doch einst Jubilar,

Drum laßt mich jubilieren!«


Und richtig jubeln frohgesinnt

Heut mit dem alten Freunde

Hochfestlich Kind und Kindeskind,

Amtsbrüder und Gemeinde.

Noch strömt der Neckar frei von Eis,

Die Wellen singen und brausen:

»Hoch! dreimal hoch der Jubelgreis,

Der Pfarrer von Ziegelhausen!«

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 112-113.
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