Der Antritt des neuen Jahrhunderts

An ***


Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,

Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?

Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,

Und das neue öffnet sich mit Mord.[458]


Und das Band der Länder ist gehoben,

Und die alten Formen stürzen ein;

Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben,

Nicht der Nilgott und der alte Rhein.


Zwo gewaltge Nationen ringen

Um der Welt alleinigen Besitz,

Aller Länder Freiheit zu verschlingen,

Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.


Gold muß ihnen jede Landschaft wägen,

Und wie Brennus in der rohen Zeit

Legt der Franke seinen ehrnen Degen

In die Waage der Gerechtigkeit.


Seine Handelsflotten streckt der Brite

Gierig wie Polypenarme aus,

Und das Reich der freien Amphitrite

Will er schließen wie sein eignes Haus.


Zu des Südpols nie erblickten Sternen

Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf,

Alle Inseln spürt er, alle fernen

Küsten – nur das Paradies nicht auf.


Ach umsonst auf allen Länderkarten

Spähst du nach dem seligen Gebiet,

Wo der Freiheit ewig grüner Garten,

Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.


Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,

Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum,

Doch auf ihrem unermeßnen Rücken

Ist für zehen Glückliche nicht Raum.


In des Herzens heilig stille Räume

Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,

Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,

Und das Schöne blüht nur im Gesang.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 368-369,458-459.
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