Frühlingslied eines kranken und schwermüthigen Mädchens

[354] Ihr, kommt, gelinde Lüfte,

Mir Seufzer wegzuwehn!

Ihr sollt mir, Blumendüfte,

Das matte Herz erhöhn.

Ja! dich will ich genießen,

Du holder Gott des Mais,

Und mit Gesang dich grüßen

In der Gespielen Kreiß.


Ich will, mit Blüthenzweigen

An Brust und Locken, gehn,

In alle Thäler steigen,

Wo späte Veilchen stehn;

Will euch die Arme geben,

Wo ihr in Tänzen schwebt,

Und wo euch wärm'res Leben

In jeder Ader strebt.


Wißt, Mädchen, wenig Wochen,

So ist der Lenz vorbei.

Und Keinem ward's versprochen,

Er seh' ihn einst auf's neu.[355]

Hör ich's, wann Philomele

Am Todtenhügel singt,

Und dann des Hörers Seele

Mit süßem Gram durchdringt?


Werd' ich vom Blüthenregen,

Den meiner Gruft, gemischt

Mit Thränen und mit Segen

Die Freundin weiht, erfrischt?

Nein! tändelnd müßt ihr kosen,

Mit Blumen froh geschmückt,

Eh' eurer Wangen Rosen

Die Hand des Todes pflückt. –


Ihr schweigt bei meinen Fragen

Und euer Blick ist naß!

Ihr könnt's mir offen sagen:

Was meint ihr, Lieben, was?

Jüngst sah ich in der Quelle

Mein Antlitz etwas blaß,

Mein Auge nicht so helle:

Ihr Lieben, meint ihr das?


Wenn ich euch sonst genahet,

So hüpftet ihr heran,

Und rieft mir zu und sahet

Mich heiter lächelnd an,

In jenen Kinderzeiten,

Die wir so hingespielt,

Auf die wir Wonne streuten,

Die nun mein Geist nicht fühlt.
[356]

Wie Lämmchen auf der Weide

Fand damals uns der Tag

In wechselhafter Freude

Auf grünen Hügeln wach.

Erst von den Scherzen müde,

Voll güldner Phantasei'n,

Gieng man zum Schlaf; und Friede

Gieng mit zur Wohnung ein.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke, Band 2, Leipzig 1846, S. 354-357.
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