9. Weihnachtslied

[453] Am Weihnachtsabend in der Still'

Ein tiefer Schlaf mich überfiel

Mit Freuden ganz umflossen;

Mein' Seel' empfing viel Süßigkeit,

Vor Trost ich schier zerflossen.


Ich träumte wie ein Engel käm'

Und führte mich gen Bethlehem,

Ins jüd'sche Land gar ferne:

Ein Wunderding sich hier begab,

Hör' zu, dies von mir lerne.


In einen Stall ging ich hinein,

Darin ein Ochs und Eselein

Ihr Heu beim Kripplein aßen:

Ein frommer Mann, ein' Jungfrau zart

Bei ihnen kläglich saßen.


Die Jungfrau hat auf ihrem Schoß

Ein Kindelein ganz nackt und bloß,

Doch schien es als die Sonne:

Sein' Äuglein strömten Glanz umher

Gleichwie ein lichter Bronne.


Dies Kindlein ward der große Gott,

Der uns Bedrängten hilft aus Not,

Der alle Dinge machte;

Die Welt erkennt den Schöpfer nicht,

So gar sie ihn verachte.


In arme schlechte Windelein

Ihr Kind die Jungfrau wickelt ein,

Legt's in die Kripp' mit Neigen;[453]

Dies ist der Thron, wo Gottes Sohn

Sein' Liebe wollt' bezeigen.


Hört weiter an, was ich euch sag':

Die Nacht ward licht, als wär' es Tag,

Viel Engel hört man singen;

Mit Harfen und mit Lautenklang

In hoher Luft erklingen.


Ein Engel sprach zur Hirtenschar:

Entsetzt euch nicht, nur Freud' fürwahr

Hört ihr aus meinem Munde;

Eu'r Heiland jetzt geboren ist,

Frisch auf zu dieser Stunde!


Alsbald die Hirten dies gehört,

Beschlossen sie auch ungestört

Gen Bethlehem zu reisen;

Das Kindlein dorten anzuschaun,

Ihm Liebe zu beweisen.


Sie zogen hin mit schneller Eil',

Der Weg war eine halbe Meil',

Bis sie zum Kripplein kamen;

Sieh da Maria fanden sie,

Joseph, das Kind zusammen.


Als sie daselbst gegangen ein,

Joseph hieß sie willkommen sein,

Dem sie erzeigten Ehre;

Da zeigten sie die Wunder an,

Dies freut die Mutter sehre.


Sie fielen nieder hin zur Erd',

Anbeteten den Heiland wert,

Für Freud' sie mußten weinen;

Dann opfern sie ihm Gaben auf,

Ein Lämmlein von den Kleinen.


Alsbald kehrten sie wieder um,

Es ward das Evangelium

Durch sie bekannt im Lande;

Es ihnen niemand glauben wollt',

Weß' Orts er war und Stande.


Dies ist's, was ich im Traum gesehn,

Doch ist's kein Traum, es ist geschehn,[454]

Was ich als Traum erzählet;

Wahr und wahrhaftig dieses ist,

Nichts ist daran gefehlet.


Quelle:
Friedrich von Schlegel: Dichtungen, München u.a. 1962, S. 453-455.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon