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[789] Eines Tages, zu ihrer Überraschung, erhielt sie nach fast einem Jahr wieder eine Einladung zum Mittagstisch bei ihrem Bruder und fand dort noch andere Gäste, einen jungen Arzt und einen Gymnasialprofessor, beide mit Dr. Karl Faber, wie das Gespräch bei Tische bald erwies, durch politische Interessen verbunden. Karl war es, der das große Wort führte, die beiden andern, auch der um mindestens zehn Jahre ältere Professor, lauschten respektvoll, und Therese gewann den Eindruck, als lege ihr Bruder Wert darauf, ihr einen deutlichen Begriff von seiner hervorragenden Stellung unter den Parteigenossen zu geben. Ihre Schwägerin, die vor wenigen Monaten Mutter eines Kindes geworden war, entfernte sich nach Schluß des Mittagsessens, Therese aber blieb in Gesellschaft der Herren, die Unterhaltung nahm eine gemütliche Wendung, und als von dem Beruf Theresens und von ihren persönlichen Erfahrungen als Erzieherin und Lehrerin die Rede war, verhehlte der Gymnasialprofessor nicht sein Bedauern, daß sie so oft genötigt gewesen, in einer untergeordneten, ja, man dürfe wohl sagen, dienenden Stellung im Hause fremdrassiger Leute zu leben, und er bezeichnete es als eine der wichtigsten Aufgaben der Gesetzgebung, so unwürdige Zustände ein für allemal unmöglich zu machen. Er sprach volltönend und druckfertig, im Gegensatz zu dem jungen Arzt, der immer wieder ins Stottern geriet; der Bruder aber, wenn auch beifällig nickend, blinzelte manchmal spöttisch, ja, zuweilen streifte er den Professor mit jenem eigentümlichen, etwas tückischen Blick, den Therese so gut an ihm kannte.

Von Richard hatte sie Wochen, ja Monate nichts gehört und[789] glaubte sich im Grunde froh, ihn vergessen zu dürfen, als sie eines Tags ganz unerwartet von Sylvie einen Brief erhielt, der sie zu einer neuen Zusammenkunft »avec nos jeunes amis de l'autre jour« einlud. Ihre erste Regung war: abzulehnen. Sie war nun seit längerer Zeit gewohnt, jeden Abend mit ihrem Buben zu Hause zu verbringen. Doch als Sylvie die Einladung persönlich wiederholte, ließ Therese sich überreden und erlebte mit ihr, ihrem blonden Freund und Richard einen Abend, der sich harmlos anließ, immer stürmischer verlief und in ausgelassenster Weise endete. Als sie in der Morgendämmerung nach Hause kam, empfand sie es wie ein unerwartetes, ja unverdientes Glück, daß sie ihren Buben ruhig schlafend in seinem Bette fand. Obwohl sie Richard so wenig etwas übelzunehmen hatte als er ihr, war sie fest entschlossen, ihn niemals wiederzusehen.

Die Einladungen in das Haus ihres Bruders wiederholten sich von Zeit zu Zeit, und bald begegnete Therese dort auch dem Professor wieder, der nun einen ungeschickt-galanten Ton ihr gegenüber anzuschlagen begann und es sich nicht nehmen ließ, sie gegen Abend den ziemlich langen Weg bis zu ihrem Hause zu begleiten. Wenige Tage später eröffnete ihr der Bruder, daß der Professor sich lebhaft für sie interessiere, sich voraussichtlich bei nächster Gelegenheit ihr gegenüber in aller Form erklären werde, und gab ihr den brüderlichen Rat, einen Antrag auch für den Fall, daß sie sich augenblicklich anderweitig gebunden fühle, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. »Ich habe keinerlei Verpflichtungen«, erwiderte Therese hart und ablehnend. Karl schien ihren Ton nicht bemerken zu wollen und äußerte sich in Worten trockener Anerkennung über seinen Parteigenossen, der, bei den Vorgesetzten sehr gut angeschrieben, im Laufe der nächsten Jahre wahrscheinlich zum Gymnasialdirektorin einer größeren Provinzstadt ernannt werden dürfte. »Und um gleich alles in Betracht zu ziehen,« fugte er mit einem schiefen Blick hinzu, »das, woran du jetzt eben denkst, braucht auch kein Hindernis zu sein.« Theresen stieg das Blut ins Gesicht. »Du hast dich nie um meine Gedanken gekümmert, sie dürften auch jetzt keinerlei Interesse für dich haben.« Er tat wieder, als wenn er ihren ablehnenden Ton nicht merkte, und sprach unbeirrt weiter. »Man könnte es ja auch so auffassen, daß du schon einmal verheiratet warst. Nehmen wir an, du warst es wirklich – und es hat sich herausgestellt, daß es eine rechtsungültige Ehe war. Solche Dinge kommen bekanntlich vor. Du bist an der Sache sozusagen ganz unschuldig.«[790]

Er blinzelte an ihr vorbei. – Therese lehnte sich auf: »Ich kann vor jedem verantworten, was ich getan habe, ich werde auch mein Kind nicht verleugnen. Ich hätte es auch dir gegenüber nicht getan. Aber hast du mich je darnach gefragt?« – »Du regst dich ohne Anlaß auf. Eben damit du nichts zu verleugnen brauchst, bin ich ja auf den Einfall mit der rechtsungültigen Ehe gekommen. Du solltest mir eher dankbar sein.« Und einem heftigen Einwand von ihr zuvorkommend: »Der Mutter wäre es jedenfalls auch eine Beruhigung, wenn du endlich in gesicherte Verhältnisse kämst.« Und plötzlich dachte Therese: Warum nicht? Der Mann, den ihr der Bruder vorschlug, war ihr gleichgültig, aber er mißfiel ihr nicht geradezu. Und war sie es ihrem Sohn nicht schuldig, eine solche Möglichkeit nicht ungenützt vorübergehen zu lassen? Ihr Bruder begann ihr die Vorteile dieser Verbindung auseinanderzusetzen: ihr selbst würde die Stellung ihres Mannes in ihrem Beruf zustatten kommen, den sie keineswegs aufzugeben brauchte, im Gegenteil, gerade ein Lehrer, ein Professor wäre der richtige Mann für sie und würde ihre Position festigen.

Ihre Schwägerin trat ein, mit dem Kind im Arm. Therese nahm es in die ihren, erinnerte sich der ersten Lebenswochen ihres eigenen Sohnes, der kärglichen Stunden, da sie ihn so wie jetzt das Kind ihres Bruders an ihre Brust hatte drücken dürfen. Und es fiel ihr ein, daß sie ja nun vielleicht in einer neuen, in einer wirklichen Ehe wieder ein Kind bekommen und ein Glück erleben konnte, das ihr mit Franzl versagt geblieben war. Doch diesen Gedanken empfand sie gleich wieder wie ein Unrecht, ja, wie eine Untreue gegen ihren Sohn. All das andere Unrecht kam ihr zu Sinn, das sie im Lauf der Jahre mit und ohne Schuld an ihm begangen hatte. Tränen traten ihr in die Augen, während sie das Kind des Bruders noch in den Armen hielt. Sie fühlte sich außerstande, die Unterredung fortzusetzen, und verabschiedete sich in der schmerzlichsten Verwirrung.

Der Zufall fügte es, daß sie wenige Tage nachher Richard begegnete. In seiner Zivilkleidung erschien er ihr diesmal zugleich elegant und herabgekommen. Der schwarze Samtaufschlag des vortrefflich sitzenden Überziehers war etwas abgeschabt und der Lack der wohlgeformten Schuhe an manchen Stellen abgesprungen. Das Monokel saß ihm unbeweglich im Auge. Er küßte ihr die Hand und fragte sie, fast ohne weitere Einleitung, ob sie nicht den heutigen Abend mit ihm verbringen wolle. Sie lehnte ab. Er[791] drängte keineswegs, gab ihr für alle Fälle die Adresse seiner Eltern, bei denen er wohnte, und sie schrieb ihm schon am nächsten Tag. Es wurde ein seltsames Zusammensein, und sie begriff eigentlich nicht recht, warum er darauf bestanden hatte, sich mit ihr in ein separiertes Zimmer eines vornehmen Restaurants zurückzuziehen, da er sich völlig zurückhaltend benahm und kaum ihre Hand berührte. Aber er gefiel ihr nur um so besser. Er sprach heute viel von sich. Mit seiner Familie, erzählte er, stünde er nicht zum besten. Sein Vater, ein bekannter Advokat, war, wie übrigens gewöhnlich, höchst unzufrieden mit ihm »und eigentlich hat er ja recht« –, mit seiner Mutter hatte er sich niemals verstanden und nannte sie beiläufig eine dumme Gans, was Therese erschreckte. Demnächst sollte er seine dritte Staatsprüfung machen, und er fragte sich wozu. Er würde ja doch nie Advokat oder Richter werden. Und auch sonst nichts Rechtes. Er habe nämlich zu nichts Talent, wie ihn im Grunde auf der Welt auch nichts wirklich freue. Sie fand, daß solche Bemerkungen mit seinem sonstigen Wesen doch in Widerspruch stünden. Wenn einem die ganze Welt so gleichgültig war, wie konnte man zum Beispiel auf die Farbennuance einer Krawatte besonderen Wert legen, wie er es doch eingestandenermaßen tat? Er sah sie beinahe mitleidig an, was sie verletzte, und sie verspürte den brennenden Wunsch, ihn zu überzeugen, daß sie wohl imstande sei, auch solche scheinbaren Gegensätze zu begreifen. Aber sie fand die rechten Worte nicht. Nach dem Abendessen, sie waren kaum eine Stunde zusammen gewesen, brachte er sie im offenen Wagen bis zu ihrer Wohnung. Er küßte ihr sehr höflich die Hand, und sie glaubte nicht, daß sie ihn jemals wiedersehen würde.

Doch schon wenige Tage darauf erhielt sie einen Brief von ihm. Sein Wunsch, wieder mit ihr zusammenzukommen, freute sie mehr, als sie vorher erwartet hätte. Beglückt folgte sie seinem Ruf. Diesmal war er ein ganz anderer, heiter, ausgelassen beinahe, und es war ihr, als begänne er erst heute, sich um sie, ihr eigentliches menschliches Wesen und um ihre äußere Existenz zu kümmern. Sie mußte ihm viel von sich erzählen, von ihrer Jugend, ihren Eltern, ihrem Verführer, ihren anderen Liebhabern. Und in dieser Stunde sprach sie auch von ihrem Kind, von ihren Pflichten gegenüber diesem Kind und davon, daß sie diese oft vernachlässigt habe. Fast ärgerlich zuckte er die Achseln. Es gebe keine Pflichten, sagte er, man sei niemandem etwas schuldig, die Kinder nicht den Eltern und die Eltern den Kindern auch nicht.[792] Alles nur Schwindel, alle Leute seien Egoisten, sie geständen es sich nur nicht ein. Übrigens, das würde sie vielleicht interessieren: gestern hatte er eine für ihn nicht geringe Summe beim Rennen gewonnen. Das sah er als einen Wink des Schicksals an und hatte die Absicht, sein Glück weiter zu versuchen. Im nächsten Winter gedenke er nach Monte Carlo zu gehen, er habe sich auch schon ein System erdacht, um die Bank zu sprengen. Das sei überhaupt das einzig Erstrebenswerte auf der Welt: Geld haben, auf die Leute pfeifen können. Sie solle doch mit ihm kommen – nach Monte Carlo. Sie würde dort sicher ihren Weg machen, freilich nicht als Lehrerin. So sehr sie widersprach, ja, ihn zurechtwies, gerade von Äußerungen solcher Art strömte ein besonderer Reiz auf sie aus. Und an diesem Abend war sie sehr glücklich mit ihm.

Dieser Erinnerung gegenüber wirkte ein Brief, der am nächsten Morgen von Alfred an sie anlangte, unsäglich langweilig und öde auf sie. Sie hatte ihm von der wahrscheinlich bevorstehenden Werbung des Professors Mitteilung gemacht, und Alfred riet ihr zwar, die Sache sorgfältig zu überlegen, doch war deutlich aus seinen Worten herauszulesen, daß ihm eine Heirat Theresens, die ihn auch von der letzten Verantwortung befreit hätte, keineswegs unerwünscht war. Sie erwiderte ihm kühl, übellaunig, beinahe mit Hohn.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 789-793.
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