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[818] In den nächsten Wochen war von gemeinsamen Spaziergängen und Galeriebesuchen keine Rede. Auch blieb Thilda nach Beendigung der Unterrichtsstunde bei der Lehrerin nicht zurück, wie es früher so oft geschehen war. Eines Tages aber, schon gegen das Frühjahr zu, lud sie Therese plötzlich wieder für den Sonntagmittag ein. Therese atmete auf, denn sie hatte schon gefürchtet, daß sie weiß Gott wodurch im Hause Wohlschein Mißfallen erregt hätte. Überdies war sie gerade gestern durch eine neue Geldforderung ihres Sohnes – in gleicher Weise durch jenes übel aussehende Frauenzimmer mit dem Kopftuch ihr überbracht – in Unruhe versetzt worden. Sie hatte ihm fünf Gulden gesandt und die Gelegenheit benützt, ihn dringend zu warnen, sich jemals wieder an ihren Bruder zu wenden. »Warum suchst du nicht einen Posten auswärts«, schrieb sie weiter, »wenn du hier keinen findest? Ich bin nicht mehr in der Lage, dir auszuhelfen.« Kaum war der Brief fort, so hatte sie ihn schon wieder bereut in der Empfindung, daß es gefährlich sei, Franz zu reizen. Nun, da Thilda wieder gut zu ihr war, schien sie sich selbst stärker, wie gewappnet gegen manches Unheil, das drohen mochte.

Thilda war allein. Mit besonderer Herzlichkeit begrüßte sie die Lehrerin und gab ihrer Freude Ausdruck, sie heute wohler aussehend zu finden als neulich. Und wie zur Antwort auf Theresens fragenden Blick, beiläufig und etwas altklug, bemerkte sie: »Es ist schon so, Familienbesuche bringen selten was Angenehmes, besonders unerwartete.« – »Nun«, erwiderte Therese, »glücklicherweise bekomme ich selten welche, weder erwartete noch unerwartete.« Und sie sprach von ihrer zurückgezogenen, fast einsamen Lebensweise. Seit auch ihr Sohn »draußen« eine Stellung gefunden – sie wurde dunkelrot, und Thilda machte sich an der Bibliothek zu schaffen –, sehe sie fast niemanden von ihrer Familie. Die Mutter scheine völlig in ihre Schreibereien versponnen, der Bruder habe seinen Beruf und überdies mit der Politik viel zu tun, und die Schwägerin gehe völlig in der Sorge für Haus und Kinder auf.

Ganz unvermittelt bemerkte Thilda: »Wissen Sie, Fräulein Fabiani, was mein Vater neulich gesagt hat? Aber Sie dürfen nicht böse sein.« – »Böse?« wiederholte Therese etwas betroffen; und Thilda fügte rasch hinzu: »Der Vater findet – wie hat er sich nur ausgedrückt –, daß Sie nicht genug aus sich zu machen[819] verstehen.« Und auf Theresens fragenden Blick: »Er meint, daß eine so ausgezeichnete Lehrerin berechtigt, ja eigentlich verpflichtet wäre, auch höhere Honorare zu verlangen.«

Therese wehrte ab. »Ach Gott, Thilda, den meisten ist ja schon das zuviel. Ich bin nur Privatlehrerin, habe nie Prüfungen gemacht, bin nie öffentlich angestellt gewesen.« Und sie erzählte, wie früh schon sie sich selbst hatte erhalten müssen, wie sie nie dazu gekommen sei, das Versäumte nachzuholen – nun ja, vielleicht bis zu einem gewissen Grad durch eigene Schuld –, aber wie es nun immer sei, jetzt war es zu spät, von vorn anzufangen.

»Ach Gott, es ist nie zu spät«, meinte Thilda. Und wieder ganz unvermittelt richtete sie an Therese die Frage, ob sie sich eine Bitte erlauben dürfe. Sie wisse nämlich nicht genau, wann Theresens Namenstag sei. »Bei uns gibt's nämlich keine.« Und daher bitte sie Fräulein Fabiani recht sehr, heute ein nachträgliches Namenstagsgeschenk anzunehmen; und ehe Therese etwas erwidern konnte, war Thilda im Nebenzimmer verschwunden, kam mit einem englischen Drap-Mantel auf dem Arm zurück, ersuchte Fräulein Fabiani, sich freundlichst erheben zu wollen, und half ihr in die Ärmel. Der Mantel paßte wie nach Maß gemacht; wenn aber vielleicht doch noch etwas zu richten sei, die Firma, wo er gekauft war, übernehme jede Änderung.

»Was fällt Ihnen nur ein«, sagte Therese. Sie stand vor dem großen Schrankspiegel in Thildas Mädchenzimmer und betrachtete sich. Wahrhaftig, es war ein geschmackvoller, vortrefflich sitzender Mantel, und sie sah aus, wie eine noch ziemlich junge Dame aus wohlhabenden Kreisen.

»Ja richtig«, sagte Thilda und reichte Theresen ein kleines Päckchen in Seidenpapier. »Das gehört dazu.« Es waren drei Paar Handschuhe, weiß, dunkelgrau und braun, von bester schwedischer Sorte. »Sechsdreiviertel, die Nummer stimmt doch?«

Während Therese eben daran war, einen Handschuh zu probieren, trat Herr Wohlschein ein. »Ich gratuliere, Fräulein Fabiani«, sagte er. – »Wozu denn, Herr Wohlschein?« – »Sie haben Geburtstag, sagt mir Thilda.« – »Aber nein, weder Geburtstag noch Namenstag, ich weiß wirklich nicht –« – »Nun, heute wird er gefeiert«, erklärte Thilda, »und damit basta.«

Das Mittagsmahl verlief in bester Laune, auch einen weißen Burgunder gab es; man trank auf Theresens Wohl, und Therese kam sich wirklich vor wie ein Geburtstagskind. Zum schwarzen Kaffee erschien die Schwester des Herrn Wohlschein und später[820] ein Geschäftsfreund, ein Herr Verkade aus Holland, nicht mehr ganz jung, bartlos, dunkelhaarig, mit ergrauten Schläfen und sehr hellblauen Augen unter den schwarzen Brauen. Man sprach von Java, wo Herr Verkade jahrelang gelebt hatte, von Schiffsreisen, von Luxusdampfern, Ballabenden auf See, von den Fortschritten des Verkehrswesens in der ganzen Welt und von gewissen Rückständigkeiten in Österreich. Die Schwester des Herrn Wohlschein nahm ihre Heimat in Schutz. Herr Verkade wollte sich natürlich kein Urteil über die hiesigen Zustände anmaßen, gewandt führte er die Unterhaltung auf ein harmloseres Gebiet, auf Opernvorstellungen, berühmte Sängerinnen, Konzerte und dergleichen, wobei er sich manchmal mit besonderer Zuvorkommenheit auch an Therese wendete.

Wie oft hatte sie in früherer Zeit solchen Unterhaltungen beigewohnt und kaum je als völlig gleichberechtigt an ihnen teilgenommen. Sie ertappte sich heute darauf, daß sie wohl gelegentlich auch ein Wort hätte sagen mögen, sich aber nicht recht getraute. Bei irgendeinem Anlaß aber – niemand außer Therese merkte die Absicht – zog Thilda sie ins Gespräch; allmählich – auch der Wein mochte ein wenig schuld daran sein – schwand Theresens Befangenheit, sie sprach frei und lebhaft, wie schon lange nicht mehr, und sah manchmal den etwas verwunderten, aber höchst wohlgefälligen Blick des Hausherrn auf sich gerichtet.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 818-821.
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