Die Linde

[65] Warst so schön, breitwipflichter Baum,

Als dir schwollen die Knospen,

Als du Blütendüfte verhauchtest;

Warst so schön![65]


Dich umsummt' im Lenzabend der Käfer,

Geflügelte Ameisen schwärmten

Wie Mittagswölkchen, die die Sonne

Versilbert, um deinen Blütenzweig.


Die Blüte fiel; da warst du grün

Und stärktest mein Auge,

Das ans falsche Dunkel meines Kerkers

Gewöhnt, blinzt' im Sonnenstrahl.


Und nun bist du halbnackt;

Der Herbststurm blies um deinen Scheitel,

Und deinen Schmuck; die goldnen Blätter

Wälzt nun wogend der Odem des Sturms.


Die schwarzen Aeste starren trauernd,

Ihrer Decke beraubt, in die Luft.

Dich flieht der Sperling, denn du bist

Ihm nicht mehr Hülle gegen den Sperber.


Einst knospete ich, o Linde!

Schöner, als du. Trug Blüten

Des Knaben, des Jünglings, die süßer

Dufteten, als du im Frühlingsschmuck.


Meine geringelten Seidenlocken

Waren schöner, als dein grünes Haar.

Schöner, als deines Finken und Distelvogels,

Scholl mein Gesang und Flügelspiel.


Ich war ein Mann, breitwipflig

Und lieblich im Sonnenstrahl spielend.

Meines Geistes Fittig deckte die Meinen,

Wie dein schattender Wipfel den Pilger.


Aber ach! mein Herbst ist gekommen;

So früh ist schon mein Herbst gekommen!

Das Schicksal blies mit kaltem stürmendem Odem;

Und meine Blätter fielen.[66]


Heiser ist mein Gesang;

Die geflügelte Rechte lahmt

Auf den braunen Tasten

Des goldnen Saitenspiels.


Meine Phantasie, der Riese,

Zuckt ausgestreckt, wie ein Geripp'

Im Staube. Mein Witz, die Rose,

Liegt entblättert, zerknickt.


Fern ist meine Liebe;

Meine Kinder sind ferne;

Der schwarze, starre, enthaarte Ast

Vermag nicht mehr zu schatten die Lieben!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 65-67.
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